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EIN SESSHAFTER, EIN VAGABUND UND ZWEI NACKTE ELBINNEN

Er nutzte die Zeit und sah sich ein bisschen um, in der Hoffnung, sich über Paolino besser klar zu werden. Jeder im Dorf kannte ihn, aber er war sehr zurückhaltend und tat alles dafür, seinen Mitmenschen nicht zur Last zu fallen. Gherardini hatte schon als Kind von ihm gehört; die seltenen Male, die Paolino nach Casedisopra kam, hatte er ihn gesehen, und später war er ihm im Rahmen seiner Tätigkeit als Forstinspektor öfter begegnet.

Wie in allen Bauernhäusern lag die Küche im Halbdunkel. Ein wenig Licht spendete das einzige kleine Fenster neben der Haustür. Ein offener Kamin, groß genug für die Zubereitung der Mahlzeiten für eine vielköpfige Familie, wie Paolino sie früher bestimmt gehabt hatte. Ein ebenfalls großer Tisch, von dem jetzt nur ein kleiner Teil gedeckt war. Holzstühle, eine kleine Truhe, ein Küchenbüfett.

Das Spülbecken, mit Klopfholz und Stemmeisen aus einem einzigen Steinblock herausgearbeitet, befand sich unter dem Fenster. An einem Mauerhaken neben dem Becken hing ein Kupferkessel mit gewölbtem Boden, in der Gegend calcedro genannt. Er diente dazu, Trinkwasser aus dem Ziehbrunnen hochzuholen. An dem Eimer hing der Schöpfbecher, aus dem alle tranken. Hatte man mal zu viel Wasser geschöpft, um den momentanen Durst zu löschen, goss man es in den Kupfereimer zurück. Es war mühsam, zum Brunnen zu gehen, und mit Wasser ging man sparsam um.

An der hinteren Wand, dem dunkelsten Teil der Küche, hingen an einem hölzernen Kleiderständer, wer weiß seit wie vielen Jahren, ein weiter Mantel aus Wachstuch und etwas, das aussah wie …

Bussard wollte gerade schauen, ob er richtig gesehen hatte, als Paolino zurückkam.

Er brachte einen Mann um die fünfzig mit, der orientalisch beziehungsweise indisch gekleidet war, mit einer bestickten Mütze, einem weiten, reich verzierten Hemd und Pluderhosen. An den Füßen Sandalen, ähnlich wie die des Toten. Das Kinn war von einem langen grauen Bart bedeckt, die langen Haare waren zu einem Nackenschwanz gebunden, die Augen im lederfarben gebräunten Gesicht lebhaft und intelligent.

Er grüßte Gherardini mit einer Geste und sagte: »Herrlicher Tag, Sonne, eine Brise, die die Welt weich macht … Mit einem Wort, Elbenwetter.« Er machte es sich auf einem Stuhl am Tisch bequem. »So hat also wieder mal jemand aus Valle die himmlischen Gefilde erreicht. Das ist in den vergangenen Jahren relativ selten vorgekommen. Und wenn, dann war es Krebs oder das verfluchte Aids! Ich glaube, das haben die Pfarrer erfunden, um die freie Liebe auszumerzen.« Er lachte. »Verlaufen hat sich nur einer, das ist Jahre her. Vielleicht war er betrunken, sie haben ihn im Tannenwald gefunden. Wir mussten den Maresciallo bemühen, der hat sich auch noch beschwert. Ich heiße Giacomo. Was willst du von mir, Inspektor?«

Wortlos legte der Inspektor ihm ein paar Fotos hin. Dann fragte er: »Kennst du ihn? Hast du eine Ahnung, wer das sein könnte?«

Giacomo nahm die Fotos und trat ans Fenster, wo er besseres Licht hatte. Er kniff die Augen ein wenig zusammen. »Viel sieht man ja nicht, aber ich würde sagen, nein, nie gesehen. Vielleicht war er ein Streicher.«

»Ein Streicher? Wie Aragorn in Herr der Ringe? Was bedeutet Streicher?«, fragte Gherardini, neugierig geworden.

Wieder lachte Giacomo. »Ja, die ersten Namen hier in Valle stammen aus dem Buch. Hast du es gelesen? Auch die Bezeichnung Elben kommt von dem Buch.«

»Gehörst du denn zu den Ersten, den Gründern?«

»Nein, ich bin ein paar Jahre später nach Valle gekommen. Die Ersten waren aus Bologna, erinnerst du dich an das Reale-Gesetz nach den bleiernen Jahren? Das waren Anarchisten, sie hatten Angst, richtig Ärger zu kriegen, und wollten hier ihre Utopie verwirklichen, fern von diesem Babel, dieser beschissenen, korrupten Welt.«

»Und wann bist du gekommen?«, fragte Gherardini dazwischen.

»Warte. Ich war damals zu jung. Ich kam erst später, Ende der Achtziger, nein, Anfang der Neunziger. Kannst selber ausrechnen, seit wann ich hier bin.«

»Und was ist jetzt ein Streicher?«

»Ein Vagabund, einer, der gern unterwegs ist, der an keinem Ort, in keinem Dorf fest wohnt, der kommt und geht, aber nicht zu verwechseln mit einem Touristen, das wäre eine Beleidigung. Die Touris, wie wir hier sagen, sind … na ja, diese Typen, die quasi auf Urlaub kommen, aus Neugier, mit Kamera, um ein paar heiße Feger flachzulegen, du weißt schon, freie Liebe und so. Sie kommen im Sommer, der Winter ist zu hart, sie wollen bloß ihren Spaß haben und eine Nummer schieben, und dann verschwinden sie wieder, eben Fuseltouris.«

»Fuseltouris?«

Giacomo lachte. Er lachte viel und laut und schlug sich auf die Schenkel. »Ja, das Wort haben wir erfunden, wenn man jahrelang zusammenlebt, entwickelt sich ein eigener Jargon. Es kommt von so einem Billigwein, den man unten im Laden an der Hauptstraße bekam. Eben so ein Fusel, bei dem man abends verblödet, und am nächsten Morgen schwirrt einem der Kopf. Die haben sich zugesoffen, die Mädchen haben sie nicht rangelassen und sie nur verarscht.«

Gherardini ärgerte der Ausdruck heiße Feger, ein längst vergessener Ausdruck aus den Siebzigerjahren. »Du hast ihn also nie gesehen.«

»Nein, wie gesagt, Inspektor. So wie er angezogen ist, ist er kein Touri, er muss ein Streicher sein. Aber hier ist inzwischen alles ein bisschen durcheinandergeraten, die Leute haben Kinder bekommen, verstehst du? Und Kinder haben Bedürfnisse, sie wollen nicht irgendeinen Joghurt, sie wollen diese eine Marke von diesem einen blöden Joghurt, den sie weiß der Himmel wo gesehen haben. Die Leute brauchen Geld. Sie haben Sonnenkollektoren auf den Dächern installiert, manche Häuser haben ein bisschen Licht, es gibt Handys und Computer. Was ist denn das noch für eine Utopie?«

»Wenn du das nicht weißt …«, antwortete der Inspektor.

Nach der langen Tirade stand Giacomo auf. »Ich muss jetzt wirklich los. Sie brauchen mich oben in Collina. Wir wollen unser Tipi aufbauen. Das müsstest du dir mal anschauen …«

Gherardini fiel ihm ins Wort. »Auf jeden Fall. Ich behalte euch im Auge, damit ihr keine Umweltschäden anrichtet …«, aber Giacomo hatte einfach weitergeredet.

»… es ist das größte Tipi, das ich je aufgebaut habe. Und ich hab schon viele aufgebaut, überall in der Welt.« Er rückte den Stuhl zurecht und drückte den Zeigefinger auf ein Foto. »Wegen dem Typen da fragst du am besten in Pastorale nach. Ich weiß, dass dort schon Leute angekommen sind …«, sagte er und ging grußlos hinaus.

Gherardini kannte den Weg von Campetti nach Pastorale, ein wenig begangener Pfad durch einen Kastanienwald bis zu einer kleinen Häuseransammlung. Vor Jahren war er mal dort gewesen, noch als Jugendlicher, und er erinnerte sich an die Häuser, die wie fluchtartig verlassen wirkten. Dabei hatten die Menschen sie verlassen, um auszuwandern und nie mehr zurückzukehren, ihre Spuren verloren sich irgendwo in Frankreich oder Korsika oder Deutschland. Bussard erinnerte sich, wie er in einem dieser Häuser in einem Winkel ein grob zusammengezimmertes hölzernes Gestell für die im Kamin erhitzten feuerfesten Lehmziegel entdeckt hatte, auf denen früher die necci gebacken wurden, Fladenbrote aus Kastanienmehl.

Sie haben zu viel Brot gegessen oder zu wenig und sind weggegangen, hatte er damals gedacht.

Er hatte das Gestell, damit es nicht kaputtging, nach Hause mitgenommen, als Symbol eines Lebens in den Bergen, das aus Mühsal und Hunger bestand. Jetzt lebten Elben in diesen schlecht und recht wieder hergerichteten Häusern.

Quer über den Pfad verlief ein Bach, und trotz der Jahreszeit stand das Wasser hoch, nach den schlimmen Regenfällen in letzter Zeit. Gherardini folgte dem Bach, er wusste, dass er ihn nach Pastorale führen würde.

Auf dem Weg bergab hörte er weiter unten Geplapper. Er ging noch ein Stück, und da bot sich ihm ein überraschender Anblick: Zwei junge Frauen, beide splitternackt, wuschen sich in einer Gumpe unter einem Wasserfall. Sie waren nicht besonders hübsch, aber auf ihre Weise waren sie schön, die Schönheit der Zwanzigjährigen, das lange Haar auf den Schultern, die eine blond, die andere dunkel, die kleinen, festen Brüste, denen die Schwerkraft nichts anhaben konnte, die von der Kälte angeschwollenen Brustwarzen. Lachend bespritzten sie sich gegenseitig mit dem Wasser vom Wasserfall.

Gherardini war verlegen stehen geblieben, er hatte das Gefühl, eine Art Privatsphäre zu verletzen, und wollte schon weitergehen, als eines der Mädchen ihn bemerkte und rief: »He, Inspektor! Wo gehst du hin? Da kriegst du mal was Schönes zu sehen, was? Was suchst du denn hier?«

Gherardini sah nicht zu den beiden hin. »Bitte entschuldigt, ich wollte nicht … bin schon wieder weg!«

»Was ist, hast du Angst vor zwei nackten Frauen? Wir genieren uns nicht, komm her, wir trocknen uns ab und plaudern ein bisschen.«

Die junge Frau lachte, während die andere mürrisch und argwöhnisch dreinschaute. Sie setzten sich zwischen den Bäumen ins Moos auf einen sonnenbeschienenen Flecken.

»Die ist eine toughe Elbin«, sagte die Schwatzhafte. »Und sie ist gar keine Italienerin, sie ist Deutsche, sie mag Leute nicht, die aus Babel kommen, vor allem niemand vom Militär, so wie du …«

»Dabei habe ich mit dem Militär gar nichts zu tun.«

»Egal, du bist in Uniform. Aber ich bin ein bisschen anders. Ich heiße Elena.«

»Ich bin Marco.«

»Hallo, Marco Forstpolizist, was machst du denn bei den Elben?«

Gherardini öffnete seine Mappe, suchte ein paar von den weniger schlimmen Fotos heraus und zeigte sie Elena. »Ich würde ihm gern einen Namen geben. Hast du ihn schon mal gesehen? Weißt du, wer das ist?«

Elena nahm die Fotos, betrachtete sie konzentriert und reichte sie dann der anderen jungen Frau weiter, die die Stirn runzelte und undeutlich etwas murmelte.

»Was hat sie gesagt?«, fragte der Inspektor.

»Keine Ahnung, ich kann kein Deutsch. Der Arme, wie ist er denn gestorben?«

»Wahrscheinlich an einem Steilhang abgestürzt.«

»Nein, ich glaube nicht, dass ich den schon mal gesehen habe, er ist keiner von denen, die ständig hier wohnen. Vielleicht …« Sie zögerte. »Nein, ich habe ihn bestimmt noch nicht gesehen.«

»Was heißt vielleicht? Denk noch mal nach.«

Elena sah ihn streng an. »Wenn ich sage, dass ich ihn nie gesehen habe, dann heißt das, dass ich ihn nie gesehen habe.« Sie nickte zu ihrer Freundin hin, der blonden Deutschen. »Mach’s gut, Inspektor, und erzähl nicht rum, wir wären schweinisch und würden immer nackt durch die Gegend laufen.« Die beiden zogen sich an.

»Ciao, Marco«, sagte Elena, die Dunkle, noch. »Mach’s gut.«

Auch die blonde Deutsche murmelte etwas in ihrer Sprache.

Dann verschwanden die beiden im Wald.

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