17

NOCH EINE UNERGIEBIGE ZUSAMMENKUNFT

Zerstreut folgte er den letzten Gesprächen oder vielmehr Diskussionen zwischen den verschiedenen Elben über das Rainbow-Festival.

Als sie ihn ohne weitere Erklärungen einluden, hatte Gherardini das Angebot angenommen: Es war eine gute Gelegenheit, sich die Elben näher anzuschauen und vielleicht dahinterzukommen, was sie zu verbergen hatten und warum sie dabei so beharrlich waren.

Deshalb war er da, er wollte sie beim Sprechen beobachten. Vor allem die Elben, die er schon kannte: Giacomo, Joseph, Elena, Nicola, Helga, die junge Deutsche. Aber auch die anderen, denen er noch nie begegnet war. War es möglich, dass niemand den Streicher kannte? Casedisopra war keine Großstadt. Dort lief einem praktisch jeder vor die Füße, und zwar oft. Das war sein Hauptgedanke jenseits der Äußerungen über das Fest. Gherardini war einverstanden mit dem, was sie immer wieder gesagt hatten, dass sie unbedingt den Wald in Ruhe lassen und sauber hinterlassen mussten, dass sie auf eventuelle Lagerfeuer gut aufpassen mussten, bei dieser Trockenheit. Aber seine Gedanken kehrten immer wieder zu diesem Typen mit dem Gesicht im Dreck, mit gebrochenem Genick, Schmauchspuren an den Händen und zu den selbstgebastelten Patronen zurück.

Er beobachtete die Leute. Elena erwiderte den Blick, in ihren Augen lag ein Leuchten, das anders war, es war komplizenhaft, vielleicht zärtlich.

Giacomo war da, der Hersteller von Sandalen, die er nicht verkaufte, »Wir tauschen alles«, hatte er gesagt, und viele trugen diese Sandalen, auch der Tote hatte sie angehabt. Wie war er zu ihnen gekommen, was hatte er dafür getauscht, wenn niemand wusste, wer er war?

Dann Joseph, der Deutschitaliener, der so getan hatte, als könnte er nicht richtig Italienisch, als er, Marco, zum x-ten Mal vergebens die Fotos aus der Gerichtsmedizin herumgezeigt hatte, auf denen das Gesicht des Toten deutlich zu sehen war. Joseph hatte die Fotos ein bisschen länger betrachtet als die anderen; oder war ihm das nur so vorgekommen?

Alle hatten nur einen kurzen Blick auf die Bilder geworfen, auch Elena und ihre Freundin Helga und Nicola.

Er stellte fest, dass Nicola der Einzige war, von dem er den Familiennamen kannte: Benelli. Von den anderen Anwesenden wusste er nicht mal die Vornamen.

Es war eine ziemlich große Gruppe, eine Versammlung fast aller Elbendörfer des Tales diesseits und jenseits des Flusses. Sie saßen im Kreis auf dem Boden und ließen hin und wieder eine Zweiliterflasche Wein herumgehen, von dem Marco aus Höflichkeit ein klein wenig gekostet hatte.

Männer und Frauen, fast alle jung oder sehr jung. Einen Chef gab es nicht, keinen, der denjenigen, die mitreden wollten, das Wort erteilte oder entzog; sie hoben nacheinander die Hand und sagten ruhig ihre Meinung, und die Diskussion wurde entspannt geführt, mit großer Toleranz und gegenseitigem Respekt.

Jetzt schwieg der Letzte, der gesprochen hatte.

Gherardini, der gedankenverloren nicht richtig zugehört hatte, merkte, dass alle ihn ansahen und seine Meinung hören wollten.

»Es scheint, ihr seid alle einverstanden«, sagte er. »Ich hoffe, dass die Regeln, die wir aufgestellt haben, befolgt werden. Das ist alles.«

»Das ist gar nicht alles«, sagte Giacomo. »Wir hätten auch unter uns bleiben können, ohne jemanden zu informieren. Dir haben wir Bescheid gegeben, weil wir wollten, dass du hier zuhörst, wir wollten aber auch deine Argumente und eventuelle Einwände hören. Wir tun das nur, um deutlich zu machen, dass wir Frieden wollen mit den Einheimischen, auch wenn es dort, wo wir wohnen, kaum mehr welche gibt, und mit den Behörden. Wir danken dir, dass du gekommen bist, aber du hast ein bisschen zerstreut gewirkt. Hab ich recht?«

»Mag sein. Ich musste an den bedauernswerten Kerl denken, ihr wisst schon. Kann es wirklich sein, dass niemand von euch etwas weiß, dass ihn nie jemand gesehen hat? Ist da etwa ein Gespenst plötzlich in Casedisopra aufgetaucht, nur um abzustürzen und zu sterben?«

So war es nicht, und das wusste Bussard. Jemand hatte den Streicher gesehen. Mindestens zwei Personen: Berto, der Bauer auf dem Hof unweit von Vinacce, wo Adùmas wohnte. Außer er hatte ihnen einen Bären aufgebunden. Und Adùmas.

»Soweit ich weiß, wurde er in Ca’ del Bicchio nicht gesehen. Es kommen schon seit einiger Zeit keine Neuen.« Ein schmächtiger blonder Junge mit wirrer Rastafrisur hatte sich zu Wort gemeldet. »Was meinst du, Bosco, und du, Armonia?«

»Doch, einer ist erst seit Kurzem da: Solitario«, sagte die junge Frau namens Armonia, eine anmutige Erscheinung in weitem Jeansrock und geblümter Bluse. Sie sprach mit auffallendem piemontesischem Einschlag, der in dieser Umgebung seltsam fremd klang.

»Stimmt«, sagte Biondorasta. »Hatte ich vergessen. Aber Solitario schaut dem von dem Foto echt nicht ähnlich. Außerdem ist er lebendig, ich habe ihn heute Morgen gesehen, bevor ich hier runter bin. Lebendig und fit.« Er grinste. »Na ja, so richtig fit nicht. Halt wie immer.«

»Bei uns ist er vielleicht nie vorbeigekommen. Ca’ del Bicchio ist auf der anderen Seite des Flusses, ziemlich weit.«

»Es ist tatsächlich ziemlich weit, wir haben fast eine Stunde her gebraucht«, bestätigte Bosco.

»Kann sein, aber ihr auf der anderen Seite des Flusses wusstet sofort von dem Toten, der hier gefunden wurde.«

Alle lachten.

»Neuigkeiten, die uns betreffen, verbreiten sich wie ein Lauffeuer, sie kommen taufrisch an, ohne Telefon oder den ganzen anderen Mist, den ihr braucht«, sagte Nicola in unterschwellig feindseligem Ton. »Man erfährt sofort überall, wenn in einem Dorf was los ist, wenn jemand krank ist, wenn bei unseren Leuten ein Tier Probleme hat, wenn jemand schwanger ist, wenn ein Kind geboren wurde, wenn jemand gestorben ist …«

Er unterbrach sich, und Gherardini ergriff das Wort.

»Eben, jemand ist gestorben, aber kein Mensch weiß etwas über den Toten.«

»Ich hab dir doch gesagt, dass er vielleicht ein Streicher war«, sagte Elena und sah ihn an. »Und von denen wissen auch wir nicht viel.«

»Stimmt. Streicher kommen und gehen, sie bleiben mal einen Tag oder auch eine Woche, sie integrieren sich nicht«, sagte Joseph. »Jedem steht es frei, zu kommen und zu gehen, wir führen nicht Buch über die Neuzugänge, wir verlangen keinen Ausweis. Wir sind freie Menschen und wollen das bleiben. Deswegen sind wir ja hier. Na ja, ich würde sagen, für heute reicht es, mir wenigstens.« Er erhob sich. Hob, auch zu Gherardini, grüßend die Hand.

Joseph hakte sich bei Helga und Nicola unter und sagte auf Deutsch zu Helga: »Trau nie einem Bullen.« Er warf Bussard einen Blick zu. »Vor allem, wenn er so jung und gutaussehend wie Bussard ist. Sie bleiben immer Bullen, und was immer sie auch sagen, sie sagen es, um dich reinzulegen.«

»Sprich doch Italienisch, Joseph, dann verstehen dich alle«, sagte Nicola. »Was hast du zu meiner Freundin gesagt?«

»Ich habe gesagt: Ich liebe dich und möchte dich heiraten. Ist schon gut, Nicola«, erwiderte Joseph und lachte wie immer schallend.

»Du lachst, du bist aber echt nicht witzig.«

»Ich weiß, aber ich sage, was Sache ist. Wie euer Bussard«, sagte Joseph, legte Helga und Nicola die Hände auf die Schultern und ging mit ihnen weg.

Gherardini sah ihnen nach und machte sich dann ebenfalls auf den Weg.

»Ich komme ein Stück mit«, sagte Elena.

Elena ging auf dem schmalen Weg Schulter an Schulter mit Marco. Er genoss dieses leise Berühren.

»Was hat Joseph zu Helga gesagt?«, fragte Marco.

»Ich weiß es nicht, ich kann kein Deutsch. Nur das Wort Bulle hab ich verstanden. Das verwendet Joseph oft.«

»Damit meint er also mich, er hat ja auch Bussard gesagt. Kennst du diesen Typen gut, diesen Joseph?«

Elena blieb stehen. »Mensch, Bussard, machst du mich jetzt zu deiner Informantin?« Sie ging weiter. »War ein Scherz. Ja, ich kenne ihn, seit er da ist, er ist ein paar Tage nach Nicola gekommen. Er ist ein bisschen unbekümmert, aber ganz in Ordnung.«

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann fing Elena wieder an: »Du wirkst unzufrieden.«

»Mehr unbefriedigt als unzufrieden. Ich werde einfach nicht schlau aus der Geschichte. Ich habe mit einem Toten zu tun, dem ich keinen Namen geben kann, wie soll ich da den finden, der ihn umgebracht hat?«

Elena blieb stehen. »Wann lädst du mich denn wieder zum Abendessen ein? Oder hast du die Nacht etwa schon vergessen?«

Bussard sah sie zärtlich an. Er strich ihr über die langen schwarzen Haare und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Wie sollte ich unser Zusammensein vergessen können?«

»Dann lad mich noch mal ein.« Sie lächelte. »Ich hab an dem Abend wirklich gut gegessen.«

Marco zog sie an sich. Sie küssten sich.

»Komm, wann du magst.« Er strich ihr ein letztes Mal übers Haar. »Ich gehe jetzt besser«, sagte er und wollte weiterlaufen.

»Warte.« Marco sah sie an, und sie deutete mit dem Kopf zum Himmel. »Es ist Essenszeit. Was hältst du davon, wenn erst mal ich dich einlade?«

»Keine schlechte Idee. Appetit hätte ich …«

»Erwarte nicht weiß Gott was. Ein Elbenmittagessen, mit hiesigen oder selbstgemachten Zutaten.«

»Solang sie essbar sind …«

Elena wohnte in Stabbi. Ein kleines Haus mit dicken Mauern aus Stein, an ein größeres angebaut. Zwei Zimmer im Erdgeschoss. Ein Pultdach, dessen obere Kante an das größere Haus anschloss. Nur zwei Fenster neben der Tür. Beides ziemlich kleine Öffnungen.

In Fachkreisen nennt sich diese Art zu bauen »spontane Architektur«. Mit der wachsenden Familie wurden an das ursprüngliche Gebäude weitere Zimmer angebaut, und das Ergebnis waren verschachtelte Räume, eine Erweiterung, die sich in das Bestehende einfügte. Heraus kam ein ansprechendes Konglomerat von geordneter Unordnung.

Elena hatte die beiden Zimmer eingerichtet, so gut es ging. Ein Tisch, vier Stühle, eine alte Anrichte … Ein paar hölzerne Obstkisten, mit der Öffnung nach vorn aufeinandergestapelt, so dass man an die Dinge gelangte, ohne die Kisten jedes Mal bewegen zu müssen. Darin waren mehrere Töpfe und Pfannen, Besteck, ein paar Tischdecken, schwere Messer, wie man sie zum Schneiden von Fleisch oder zum Zerkleinern von Gemüse braucht.

Auf drei Brettern an der Wand gegenüber der Haustür lagen getrocknete Blumensträußchen und Beeren, auch kleine Käfige und Tiere, sorgfältig aus biegsamen Ginsterzweigen geflochten.

Auf dem Boden unter den Regalbrettern Weidenkörbchen und die Tasche der Gitarre, die an der Wand lehnte.

An der Wand neben der Spüle hingen verschiedene Pfannen. Auf der anderen Seite des Beckens hatte Elena einen kleinen Eisentisch installiert, oben die Kochplatten, darunter die Gasflasche. Im Fenster stand ein kleiner gusseiserner Kohleherd.

Marco sah ihn sich näher an und hob ihn hoch.

»Bei uns gab es auch so einen«, sagte er.

»Ich benütze ihn im Sommer, um Gas zu sparen.«

»Ich weiß nicht, ob ich so leben könnte«, gestand Marco, »und ich frage mich, ob es sich lohnt.« Nach einer kurzen Pause: »Warum machst du es?«

»Irgendwann erkläre ich es dir.« Sie trat zu ihm und hob den Kopf, um seine Lippen zu berühren. »Wie war das noch mal – das ist eine lange, komplizierte Geschichte.« Sie lächelte. »Jetzt mache ich uns was zu essen.«

Die Tür des anderen Zimmers stand offen, und Marco warf einen Blick hinein. Zwei einzeln stehende Betten, zwei ebenfalls einzeln stehende Nachtkästchen, ein Schrank mit angelehnten Türen und etwas von der Wand abgerückt.

Marco ging zu dem Schrank und schob ihn an die Wand, langsam schlossen sich die Türen. »Sag ich ja immer: Es braucht einen Mann im Haus«, meinte er und kehrte in die Küche zurück. »Da sind zwei Betten …«

»In einem schläft Helga. Sie wohnt hier, solange Nicola das Haus renoviert.«

»Warum ist sie nicht hier?«

»Du hast doch mitgekriegt, dass sie Nicola und Joseph hilft. Ich habe sie gefragt, ob es ihr was ausmacht, wenn ich dich zum Mittagessen einlade. Sie hat gesagt: ›Ich helfe Nicola.‹ Sie ist eben diskret.«

Dieses eBook wurde libreka! mit der Transaktions-ID 4629620 erstellt.