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VON WILDSCHWEINEN, SCHWEINEN UND DEM BORGHETTO DEI RICCHI

Er schlief nicht so, wie es normal gewesen wäre nach dem zermürbenden Marsch in den Bergen und geplagt von einem Wust an Gedanken.

Er stand zeitig auf, frühstückte und trödelte dann herum, weil er nicht gleich aufs Revier wollte. Als er um neun ankam, traf er den Stabsgefreiten Gaggioli an. Bei einem Kaffee mit Ferlin. Auf dem Tisch lag neben seinem dampfenden Tässchen eine Ledertasche.

»Was Dringendes?«, fragte er den Carabiniere mit Blick auf die Tasche.

»Wenn Sie zu tun haben, komme ich später noch mal«, erwiderte Gaggioli.

»Ist schon in Ordnung, Stabsgefreiter.«

»Für dich gibt’s auch einen Espresso, Inspektor«, verkündete sein Polizeimeister.

»Hatte schon einen, danke.« Zu Gaggioli sagte er: »Trinken Sie aus, ich erwarte Sie drüben«, und ging dann in sein Büro.

»Setzen Sie sich, Stabsgefreiter«, sagte er, als Gaggioli kam.

Gaggioli nahm Platz, stellte sich die Tasche auf die Knie und holte mehrere Fotos heraus, die er dem Inspektor hinlegte. Vier Schwarzweißfotos DIN A4.

Gherardini sah sie sich an und lächelte. »Woher kommen die?«

»Von mir. Ich bin ab und zu unterwegs und mache Fotos. Es kommen so viele Leute aus allen Ecken der Welt hierher, da gibt es immer irgendwelche üblen Typen. Ich habe mir die Bilder genau angesehen und diese Details vergrößert, und ich denke, Sie können was damit anfangen.«

»Allerdings, danke, Stabsgefreiter. Lassen Sie mir die Bilder da?«

»Natürlich, Inspektor.«

Als er allein war, rief Gherardini Farinon zu sich. Er legte ihm die Fotos hin. »Was sagst du dazu?«

»Jetzt wissen wir endlich, dass ihn jemand gesehen hat, den Streicher. Und sogar mit ihm geredet hat.«

»Sollen wir uns mal mit ihm unterhalten?«

»Das machen wir.«

Es war Sonntag, und die Piazza war voller Menschen.

Sämtliche Tischchen vor Benitos Bar waren besetzt, und Amdi lief hin und her.

»Heute wird er ja wohl nicht jammern«, meinte Farinon.

»Er jammert immer.«

Auch drinnen saßen Gäste, bedient von Adele, denn zum Kochen war es noch zu früh, und Benito stand hinter der Theke. Er grüßte die beiden Forstpolizisten mit einem Kopfnicken und sagte dann: »Dafür geben wir also unser Geld aus. Damit ihr euren Kaffee kriegt.«

»Fehlanzeige. Wir sind dienstlich hier«, entgegnete der Inspektor und breitete die vier Vergrößerungen vor ihm aus. »Kennst du da jemanden?«

»Sollte ich?«, fragte Benito, ohne einen Blick auf die Bilder zu werfen.

»Ich weiß nicht. Sag du.«

»Mein lieber Freund, wir arbeiten hier. Wir arbeiten, Bussard«, und als er sich abwandte, um sich mit seiner Kaffeemaschine zu beschäftigen, packte Marco ihn am Arm.

»Schau dir die Fotos bitte kurz an.«

Bussard meinte es ernst, und Benito gab klein bei. Er sah sich die Bilder an.

Das erste war vor der Trattoria-Bar aufgenommen worden, und er, Benito, sprach mit einem Elben, der mit dem Rücken zur Kamera stand. Das zweite zeigte den gleichen Ausschnitt mit Benito, der zuhörte, und dem Elben, immer noch von hinten, der zu gestikulieren schien. Das dritte Foto war von der Seite aufgenommen, der Elbe war im Profil zu sehen. Auf dem letzten, mit dem gleichen Bildausschnitt, waren beide von hinten zu sehen, und Benito deutete ins Innere der Trattoria.

»Willst du wissen, wie viele Abzüge ich haben will?«, erkundigte sich Benito zur Abwechslung mal spöttisch.

»Sollte ich?«, äffte Marco ihn nach. »Ich will wissen, warum du nichts davon gesagt hast, dass du den Streicher getroffen hast. Denn das, mein Lieber, ist der Streicher, den angeblich kein Mensch gesehen hat.«

Benito sah sich die Fotos noch mal an und rief, bevor er antwortete, nach Adele. »Stell du dich hinter die Theke, die beiden hier haben zu viel Zeit, Mannomann, und mich halten sie auch noch auf.«

Er schob die Fotos zusammen, kam hinter der Theke hervor und setzte sich an einen Tisch abseits, im Halbdunkel. Er breitete die Fotos wieder aus, tippte mit dem Zeigefinger auf das erste Bild und fing an: »Hier fragt mich der Typ, den du Streicher nennst, Näheres zur Speisekarte, und ich erkläre es ihm, obwohl ich genau weiß, dass er nie zum Essen kommen wird.« Benito ging zum nächsten Foto über. »Hier fragt er, ob das Wildschwein, das ich den Kunden serviere, wirklich Wildschwein oder etwa auf Wildschwein getrimmtes Schweinefleisch ist, und ich antworte ihm, wie ich allen antworte, die mich verarschen.« Er sah Bussard an. »Und zwar: Mein Lieber, du kannst mich mal … mit allem, was dazugehört und was ich euch aus Respekt vor eurer Uniform erspare.« Er setzte kurz ab und fragte dann: »Soll ich weitererzählen?«

»Ja, wenn es dir nichts ausmacht«, antwortete Marco.

»Hier fragt er, wer mir das Wildschwein liefert, weil er gern mal mit auf die Jagd gehen würde«, erklärte er und kam zum letzten Foto. »Und da zeige ich ihm Adùmas. Der saß drin beim Essen.« Und zu Farinon: »Was meinst du, warum ich ihn ihm gezeigt habe?«

Er wartete die Antwort nicht ab. »Weil ich sehen wollte, wie Adùmas ihm einen Arschtritt verpasst. Ich weiß, dass er diese versifften Typen auf dem Kieker hat. Bist du fertig, oder brauchst du sonst noch was?«

»Warum hast du mir nichts davon gesagt, dass du mit ihm geredet hast?«

»Mann, Bussard! Du hast mich nie danach gefragt. Du rennst durch die halbe Welt und zeigst Gott und der Welt die Fotos von dem armen Kerl, nur Benito nicht. Woher sollte ich denn wissen, dass es um diesen Kerl geht?«

Gherardini nahm die Bilder an sich und stand auf. »Welche Sprache spricht er denn?«

»Deutsch. Sein Italienisch ging so. Schlecht, aber es ging.«

Auf dem Rückweg zum Revier sagte keiner etwas.

Marco hielt bei den Elben, die auf der Piazza zugange waren, nach Elena Ausschau. Er sah sie nicht und hörte sie auch nicht singen.

Mittags aß er nichts. Später setzte er sich in den Wagen und fuhr noch einmal zur Piazza. Elena musste eigentlich dort sein, mit ihrer Gitarre und ihren getrockneten Blumensträußchen für die Touristen.

Touristen? Es kam kaum noch jemand außer denen, die eine Zweitwohnung besaßen, Bergbewohner in der zweiten Generation. Bei gutem Wetter kamen sie, sie kauften ein, hatten ihren Spaß mit den Elben, die jonglierten, Musik machten, Sachen verkauften …

Und dann sah er sie, sie saß auf der Bordsteinkante, neben ihr die Gitarre, die Blumensträuße zu ihren Füßen auf dem Boden verstreut, und sie sah traurig und genervt aus.

Gherardini hielt vor ihr an.

»Wie laufen die Geschäfte?«

»Es ist zum Kotzen. Seit heute Morgen singe ich mir hier die Kehle heiser, und was kommt dabei raus?« Sie zeigte ihm die Mütze, in der ein paar Münzen lagen. »Fast nichts, es ist einfach die Krise, auch im Urlaub.«

Er stieg aus. »Vielleicht mögen die Leute deine Lieder nicht.« Er wich einem Blumenstrauß aus, mit dem Elena auf ihn gezielt hatte. »Du solltest deine kostbare Ware nicht verschwenden. Was hast du denn jetzt vor?«

»Nichts, es ist gleich fünf, die Leute müssten eigentlich unterwegs sein, vielleicht war der Tag doch nicht ganz umsonst.«

»Lass es gut sein, komm mit mir!«

»Wohin?«

»Komm schon, es wird ein interessanter Tag und vielleicht ein ausgiebiges Abendessen. Na?«

Elena nahm die Gitarre, legte die Blumen in einen Korb, hob ihren Rucksack auf, packte alles ins Auto und stieg ein. »Wo fahren wir hin?«

»Wirst schon sehen.«

Sie verließen das Dorf. Nahmen die Straße ins Tal.

»Ein bisschen Ferien von den Gedanken«, sagte Marco. »Ein halber Tag Ablenkung. Wie läuft’s bei euch oben?«

»Wie immer, das übliche Elbenleben. Gibt’s was Neues?«

»Nein, leider nicht. Ich stecke bis zum Hals in diesem verfluchten Fall drin. Maresciallo Barnaba musste ja ausgerechnet jetzt auf dieses verfluchte Fortbildungswasweißich für Carabinieri, Gott soll ihn verfluchen, ihn und die Carabinieri …«

»Da ist zu viel ›verflucht‹. Wolltest du dich nicht entspannen?«

»Hast recht, der Streicher reicht völlig.«

»Und was ist mit Josephs Pistole?«

»Jetzt ziehst du mich wieder rein. Ich werde drüber nachdenken. Jetzt lass uns wirklich entspannen.«

Sie schwiegen eine Weile.

Gherardini sah sie immer wieder verstohlen an. Das lange schwarze Haar, das im Licht des späten Nachmittags glänzte, das hübsche ovale Gesicht, das die schwarzen gebogenen Augenbrauen noch betonten, eine kleine gerade Nase und ein Mund …

Er hatte Lust, sie zu küssen.

»Schnall dich an«, sagte er stattdessen.

»Zu Befehl, Herr Inspektor.«

»Sehr witzig. Wir fahren jetzt runter von der Landstraße auf eine Straße, wenn man sie so nennen mag, die alles andere als angenehm ist. Die Wege rauf zu euch, ganz zu schweigen von den Pfaden, sind im Vergleich dazu Autobahnen, wirst gleich sehen, was das für eine Schotterpiste ist.«

»Aber wo fahren wir denn hin?«

»In was Ähnliches wie eure Dörfer, aber dort leben keine Elben. Es ist eine Gruppe von Fachleuten, die unten in der Klinik an der Hauptstraße arbeiten, Ärzte und Krankenpfleger. Einer von ihnen hat ein verlassenes Dorf entdeckt und wollte da leben. Ich habe es Borghetto dei Ricchi getauft, Reichendorf. Sie haben Geld und haben die Häuser von Maurern und Bauzeichnern renovieren lassen, vielleicht hatten sie auch einen Architekten. Sie haben Strom und Wasser legen lassen. Heizung haben sie auch. Sie leben abgelegen, aber nicht wie die Elben. Sie pflegen mit ihrer Gemeinschaft einen ganz eigenen Lebensstil, weit weg vom Rest der Welt, aber doch noch nah, in der Welt.«

Bei jedem Stein oder Schlagloch riss es die beiden hoch. Ein Karrenweg ohne Steinpflaster, der sich bei jedem Regen mit Sicherheit in einen Bach verwandelte, und dann schwemmte das Wasser Erde und Steine weg.

Das Auto schaffte es ganz gut, aber in den Haarnadelkurven musste man rangieren, und daneben der Steilhang.

Gherardini fluchte immer wieder leise.

»Sie haben die Häuser renoviert, aber die Straße haben sie vergessen. Wie schaffen die das jeden Tag in die Klinik? Man kann sich vorstellen, wie die unten ankommen.«

Nach einer letzten Kurve dann das Dorf. Ein Dutzend Häuser und eine kleine Piazza, die Häuser aus Naturstein, schön hergerichtet, Obstbäume und eine lärmende Schar, die rund um einen großen Tisch zugange war. Die Leute versahen ihn mit Besteck und Gläsern, andere standen plaudernd in der Nähe eines kleinen Baggers.

Auf einem ein Meter hohen Baumstumpf stand eine große Ballonflasche, ein Mann hatte sie mit einem Gummischlauch angezapft und befüllte gerade eine Zweiliterflasche.

Gherardini wurde mit großem Hallo begrüßt.

»Da bist du ja endlich, Bussard! Die Arbeit überlässt du wie immer uns Trotteln!«, rief einer.

»Du schiebst eine ruhige Kugel, was?«, meinte ein anderer.

»Trink ein Glas, solang Renzo noch bei Sinnen ist. Er füllt schon den ganzen Tag Wein ab, aber großteils hat er ihn selber intus. Musst schauen, ob er noch in der Lage ist, dir ein bisschen was einzuschenken.«

»Komm her, klar bin ich dazu in der Lage! Hier, ein Glas für dich und eins für deine Freundin. Schau, wie sicher meine Hand ist!«

»Da hab ich schon sicherere gesehen, aber ist schon in Ordnung. Elena ist übrigens nicht meine, sondern eine Freundin. Auf dein Wohl!«, sagte Gherardini.

Elena brauchte kurz, bis sie »Bin ich nur eine Freundin?« fragte.

»Ich weiß es wirklich nicht. Wer bist du?«

»Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, mehr zu sein oder was anderes als nur eine Freundin. Aber du, wer bist eigentlich du? Und was?«

Sie schwiegen. Sie hatten den Wein ausgetrunken.

Marco fragte: »Noch ein Glas?«

»Ja, aber ich muss langsam tun. Er scheint gut zu sein, ist aber stark. Wo kommt der her?«

»Hier sind wir tiefer als in Casedisopra oder oben bei euch. Die Buckel kannst du vergessen. Weiter unten gibt es sonnige Gegenden, in denen Wein angebaut wird. Eine Kellerei macht gar nicht schlechte Weine. Früher haben sie bei uns oben auch Wein angebaut, aber die Trauben sind nicht immer reif geworden. Das war fast Essig, aber bei der Armut damals hat man so einen Wein eben auch getrunken.«

Sie lachte. Gherardini sah sie an. »Wer bist du nur?«, fragte er wieder.

Ein Mann kam angelaufen. »He, ihr Trödler, macht mal zu, wir essen gleich!«, rief er und lief weiter zu der mit Erde bedeckten Stelle bei dem Bagger. »Das ist unser Meisterwerk!«

Renzo hatte eine Zweiliterflasche in der Hand und nahm ab und zu einen Schluck. Er erklärte: »Ein Zwei-Zentner-Schwein, gefüllt mit zwanzig Kilo Huhn, Würsten und Kartoffeln. Wir haben ein großes Loch ausgebaggert, glühend heiße Steine reingefüllt, dann das Schwein in Alufolie gewickelt. Wir haben die Steine mit Wellblech bedeckt, das Schwein draufgelegt, darauf wieder Wellblech und glühend heiße Steine. Dann haben wir alles mit Erde abgedeckt. Seit heute früh um sieben Uhr ist es da drin.« Er sah auf die Uhr. »Es gart jetzt seit zwölf Stunden vor sich hin. Wir holen es gleich raus, mit dem Bagger. Kommt, schaut zu!«

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