Gegen Abend kam er nach Hause. Mit Mordskohldampf und ohne Lust zu kochen. Erst eine lange, erholsame Dusche und dann in Benitos Trattoria, wo Benito ihn mit einem »Schön, dass du wieder da bist, Bussard« begrüßte und an den Tisch brachte, an dem Gherardini meistens saß. Er wischte den Tisch mit dem Lappen ab, den er über der Schürze am Hosenbund trug. Er staubte auch den Stuhl ab und stellte ihn zurecht, damit Gherardini sich gleich hinsetzen konnte.
»Neuigkeiten?«
»Woher weißt du, dass ich den ganzen Tag unterwegs war?«
»Du kennst doch die Buschtrommeln im Dorf. Was nimmst du?«
»Erst mal eine kleine Flasche Roten. Und dann werfe ich mal einen Blick in die Speisekarte.«
»Du bist immer zu einem Scherz aufgelegt, auch wenn es nicht so läuft, wie du gern hättest. Die Speisekarte ist dieselbe, seit ich das Lokal geöffnet habe. Überlässt du das mir?«
»Mir wäre es lieber, du überlässt es Adele.« Benito verschwand in der Küche, um den Auftrag weiterzugeben.
Er kam mit dem Roten und zwei Gläsern zurück, ließ sich am Tisch nieder und schenkte ein. Gemeinsam nahmen sie den ersten Schluck.
»Heute Morgen haben sie nach dir gefragt«, sagte Benito.
»Wer?«
»Deine Leute.« Er machte eine Pause, bevor er mit dem Neuesten herausrückte. »Vor allem die Carabinieri. Was hast du denn angestellt, Bussard?«
Der Inspektor antwortete nicht sofort. Er antwortete überhaupt nicht. Er sagte: »Wenn sie was von mir wollen, sollen sie mich anrufen.«
»Du hattest kein Netz. Was gibt es denn so Dringendes?«
»Sag du’s mir, du weißt ja sichtlich mehr als ich.«
Benito wies zur Tür. »Das kann er gleich selbst übernehmen.«
Gerade war Farinon hereingekommen, mit finsterem Gesicht. Er hob nur knapp die Hand, bevor er sich zu den beiden an den Tisch setzte.
»Isst du mit?«, fragte Gherardini.
»Hab schon gegessen«, sagte Farinon und zu Benito: »Bring mir einen Espresso und lass uns in Ruhe.«
Gherardini wartete, bis Benito sein Glas geleert hatte und abgezogen war, um den Espresso zu machen. »Neuigkeiten?«
»Ja, unangenehme. Und bei dir?«
»Es tut sich was. Ich erzähl’s dir nachher.«
»Ich erzähle dir meine sofort.« Und wie Benito wies auch er zur Tür. »Wenn er fertig ist.«
»In Casedisopra sind die Buschtrommeln echt fleißig. Die Carabinieri sind schon da«, bemerkte der Inspektor leise.
Barnaba, der Maresciallo der Carabinieri-Station Casedisopra, steuerte direkt den Tisch an. Auch er ernst und schweigend. Er grüßte, indem er die Hand an die Mütze legte.
»Ich heiße dich jetzt nicht willkommen, Maresciallo«, empfing ihn Gherardini. »Weil du bestimmt schlechte Nachrichten für mich hast.«
»Wir gehen in die Kaserne, Gherardini. Es ist dringend und wichtig.«
»Ich habe seit heute früh nichts gegessen …«
»Du kannst essen, wenn wir geredet haben«, sagte Barnaba und machte auf dem Absatz kehrt.
»Was soll ich machen, Farinon?«
»Ich an deiner Stelle würde gehen.«
»Espresso für den Polizeihauptmeister!«, verkündete Benito und stellte das Tässchen auf den Tisch. »Ich habe dein Essen bestellt«, sagte er noch zum Inspektor.
Gherardini stand auf. »Bestell es wieder ab«, sagte er, und zu Farinon: »Trink nur in Ruhe. Ich komme aufs Revier, sobald …« Er wies mit dem Kopf zur Tür, durch die Maresciallo Barnaba verschwunden war.
Ein paar Jahre zuvor war Maresciallo Stefano Barnaba – ein junger Mann aus dem Salento, mittelgroß, blond, dünnes, an den Schläfen schon lichtes Haar, und, wie die jungen Frauen fanden, in Uniform wie in Zivil ziemlich attraktiv – auf Maresciallo Cruenti gefolgt. Der Wechsel war für die Dorfbewohner ein Gewinn. Ein junger Maresciallo in Casedisopra war etwas Erfreuliches. Das hatte das Dorf den anderen Gemeinden in den Bergen voraus. Alle redeten von Erneuerung und neuen Gesichtern. In diesem Sinne war Casedisopra Vorreiter. Angefangen hatten die Veränderungen mit Inspektor Marco Gherardini, der mit achtundzwanzig Jahren den Posten des Forstinspektors von seinem Vorgänger übernommen hatte. Weitergegangen war es mit Don Stanislao, einem jungen Pfarrer aus Polen, der dem alten Pfarrer zur Seite gestanden und, als der in Pension ging, das Amt übernommen hatte. Das war mehr gewesen als ein Generationswechsel: von den achtundsiebzig Jahren von Don Crescenzio Fallanzani zu den vierundzwanzig des dünnen, blassen polnischen Pfarrers.
Die Abwicklung, wie die Politiker dazu wenig sensibel sagten, war mit dem Bürgermeister weitergegangen. Der jetzige war ebenfalls um die dreißig, halblange braune Locken, und hieß mit vollständigem Namen Guido Novello Guidotti, zu Ehren von Guido Novello Guido, dem Urahn des Adelsgeschlechts.
Derzeit war Novello der letzte Spross der Guidotti, aber er hatte alle Zeit der Welt, um für ein Fortbestehen der Familie zu sorgen.
Als Gherardini das Büro des Maresciallo betrat, fiel sein Blick gleich auf den Schreibtisch mit dem Bericht, den er Dottoressa Michela Frassinori vor etwas mehr als vierundzwanzig Stunden geschickt hatte.
»Und dann heißt es immer, die Bürokratie …«, meinte Gherardini.
»Was meinst du damit?«
»Wenn die was brauchen, geht es ruckzuck.«
»Setz dich«, befahl Barnaba.
»Bist du schon mein Vorgesetzter, Maresciallo?«
»Jetzt hab dich nicht so. Es gibt Dinge, die wir nicht beurteilen können.«
»Zum Beispiel?«
Behutsam legte Barnaba seine Rechte auf den Bericht. »Das hier.« Er lud den Inspektor mit einer Geste ein, sich zu setzen. »Ich habe den Bericht gelesen, ich habe mich mit meinem Stabsgefreiten beraten … Ich weiß, dass er dir hilfreich war.«
»Wie immer.«
»Umso besser. Espresso?«
Gherardini begriff, dass sich die Sache in die Länge ziehen würde, und setzte sich. »Willst du mir die bittere Pille versüßen? Nein danke. Ich wollte gerade zu Mittag essen.«
»Tut mir leid, aber es ist dringend.«
»Kann ich mir vorstellen. Also?«
Bevor er das gerade begonnene Gespräch fortsetzte, bot Barnaba ihm eine Zigarette an.
»Ich sag’s ja. Die Pille wird bitter sein, Maresciallo«, sagte Gherardini und nahm die Zigarette an.
»Keine Pille. Es sind einige naheliegende Überlegungen.« Rasch rekapitulierte der Maresciallo die Ermittlungen, die der Forstinspektor in seinem Bericht an die Frassinori im Detail aufgeführt hatte. Er schloss: »Nun ist also diejenige Person, die – direkt oder indirekt – den Tod des Streichers mutmaßlich verursacht hat …«
»Er heißt Peter Probst«, präzisierte der Inspektor.
Erstaunt blätterte der Maresciallo schnell den Bericht durch. »Hier steht nichts davon, du erwähnst ihn nicht …«
»Ich habe ihn gerade erst ermittelt«, erklärte Gherardini. »Vergiss Paolino. Seine Patronen sind ein anderer Typ als die, die vor Ort gefunden wurden. Und auch wenn sie gepasst hätten – sie sind nicht mehr zu gebrauchen.«
Barnaba machte sich Notizen und sagte dann: »Bleibt die zweite Hypothese, Unfalltod. Streicher geht dort entlang, hört Cornetta unten am Hang meckern, versucht hinunterzuklettern, rutscht aus, stürzt ab, und dabei lösen sich zwei Schüsse …«
Gherardini stand auf. »Dann können wir die Sache jetzt getrost zu den Akten legen, Schwamm drüber, wie es so schön heißt«, sagte er, drückte den Rest seiner Zigarette im Aschenbecher aus und ging an die Tür. »Alle sind zufrieden. Besonders Joseph.« Er trat noch mal an den Schreibtisch. »Die Frassinori hat dich gut instruiert.«
Der Maresciallo war ebenfalls aufgestanden. »Kann sein, aber ich diskutiere Anordnungen nicht. Ich führe sie aus. Wer sie mir gibt, wird seine Gründe dafür haben.«
»Toll, Maresciallo! Aber ohne mich«, sagte Gherardini und ging zurück an die Tür.
»Warte mal. Was hast du vor?«
»Sobald ich das weiß, sage ich dir Bescheid«, antwortete Gherardini, ohne stehen zu bleiben.
»Ich erinnere dich daran, dass Anordnungen …«
»… nicht diskutiert, sondern ausgeführt werden, ich weiß.« Er verließ das Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.
Hunger hatte er keinen mehr.
Er ging auf direktem Weg nach Hause.
Er hatte eine Nacht darüber geschlafen, wie die Redensart empfiehlt, aber geholfen hatte es nicht. Am Morgen stand er immer noch vor den beiden Möglichkeiten, die sich am Abend zuvor ergeben hatten, nach der Begegnung mit Maresciallo Barnaba.
Andere gab es nicht. Oder ihm fielen keine ein:
Die Einladung, die keine Einladung, sondern eine Anordnung war, annehmen und die Ermittlungen als abgeschlossen betrachten oder aber sie weiter betreiben, gegen die Anordnung von oben.
Er spürte, wie wenig noch bis zur Lösung fehlte, und war sicher, dass er zu ihr gelangen würde, wenn er mit Joseph richtig umzugehen verstand. Er überlegte auch, ob er Farinon über die jüngsten Entwicklungen informieren oder es bleiben lassen und alles für sich behalten sollte, egal wofür er sich entschied. Die Meinung des kundigen Polizeihauptmeisters war ihm schon bei mehr als einer Gelegenheit eine Hilfe gewesen. Im vorliegenden Fall bedeutete das Informieren, dass er Farinon eine Verantwortung aufbürdete, die seine Kompetenzen überstieg.
Ein Auto hielt vor dem Revier und riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Blick aus dem Bürofenster: Es war ein Wagen der Forstpolizei. Seine Probleme würden sich mittels Anweisungen von oben lösen.
Baratti erschien in Uniform. Er war ernst und grüßte nur knapp. Er nahm die steife Mütze ab und legte sie auf den Schreibtisch.
»Comandante«, begrüßte Gherardini ihn und stand stramm.
»Wie geht’s, Inspektor?«
Die Frage und die Nennung des jeweiligen Ranges waren für ihre Treffen so untypisch, dass der Inspektor nur mit den Schultern zuckte.
»Einen Espresso?«, fragte er.
»Es ist eher die Uhrzeit für einen Aperitif«, antwortete Baratti. »Setz dich doch, ich muss dir ein paar Dinge berichten.«
Gherardini tat, wie ihm geheißen.
Er hatte sie alle erwartet, die »paar Dinge«, die ihm sein Vorgesetzter berichtete.
Er hatte die offizielle Information erwartet, dass Dottoressa Frassinori der Forstpolizei den Fall entzogen hatte; dass Inspektor Gherardini ab sofort seines Amtes enthoben war; dass die Ermittlungen mit dem Bericht von Maresciallo Barnaba offiziell abgeschlossen waren; dass es keinen direkt oder indirekt Schuldigen gab und dass der Tod von Peter Probst, dreiundzwanzig Jahre alt, Deutscher, bekannt als der Streicher, durch einen Unfall verursacht worden war.
»Was sagen Sie dazu, Comandante?«, fragte der Inspektor nur.
»Dass bei dieser verfluchten Affäre höhere Interessen im Spiel sind, die weder meine Wenigkeit noch Inspektor Gherardini ignorieren können.«
»Wenn dies das erste Ergebnis einer künftigen Zusammenarbeit mit den Carabinieri ist, würde ich sagen, das ist ein schlechter Anfang, oder, Comandante?«
»Du kannst sagen, was du willst, aber du musst wissen, dass es sich nicht um Zusammenarbeit handelt. Wir werden nicht in jeder Hinsicht Teil der Carabinieri sein. Vielleicht als Sondercorps, wir werden sehen.« Erleichtert, eine Aufgabe erledigt zu haben, die nicht unangenehmer hätte ausfallen können, stand Baratti auf, nahm seine Mütze und sah auf die Uhr. »Und damit, Ghera, ist es Zeit für eine Einladung zum Mittagessen. Hat Benito offen?«
»Benito hat immer offen.«