Kein Mensch wusste, wie Paolo zu diesem verniedlichenden Paolino gekommen war, was nach einem dünnen, schmächtigen Mann klang. Dabei war Paolino ein Schrank von einem Mann, groß und stark, mit kräftigen Händen, die von jahrelanger manueller Arbeit aller Art zeugten, einem runden, selten rasierten Gesicht und einer graumelierten, für seine fünfundsechzig Jahre ziemlich üppigen Mähne. Das war Paolino, so kannte man ihn, er hieß einfach Paolino.
Beziehungsweise Paolino aus Campetti, womit klar war, in welchem Ort er lebte, einem Dörfchen von vier, fünf Häusern, darunter seines. Früher waren die Häuser alle bewohnt gewesen, von armen Leuten, die in den Bergen ein mühseliges, entbehrungsreiches Leben fristeten, sie ernährten sich von Esskastanien und den Kartoffeln von ebenjenen campetti – kleinen Äckern –, die sie auf einer ebenen Fläche unweit der Häuser bestellten und nach denen der kleine Ort benannt war. Später hatten sich die Bewohner zum Arbeiten in alle Winde zerstreut, zuerst als Köhler zur Saisonarbeit in Sardinien und dann ins Ausland, wo man jede Arbeit annahm, wann immer sich die Gelegenheit ergab. Kaum jemand war zurückgekommen. Die Leute waren gestorben oder in der Fremde geblieben.
Auch Paolino war fort gewesen, er hatte sich in Belgien, Frankreich und Deutschland als Bergmann oder als Hilfsarbeiter verdingt, Hauptsache, er wurde satt. Aber er, mittlerweile alt geworden, war zurückgekehrt, mit einer schmalen Rente und einer Versicherung (er sagte Ensurans) wegen eines kleinen Arbeitsunfalls in Frankreich.
Er war nach Campetti zurückgekommen, so wie Matrosen immer in den Hafen zurückkehren, in dem sie in See gestochen sind. Geheiratet hatte er nie. Gut möglich, dass er Frauen begegnet war, aber dann hatte es sich meist um käufliche Liebe gehandelt. Am Anfang hatte er mit einer älteren Schwester zusammengewohnt, die dann starb, jetzt war er allein, er hatte zwei, drei Hühner, einen Gemüsegarten (was ein Garten in neunhundert Meter Höhe eben abwarf, Salat, Kartoffeln, ein paar Köpfe Weißkohl) und eine kleine Kaschmirziege, die ein bisschen Milch gab, und wenn er Milch übrig hatte, gab es Käse.
Das Geld aus der Rente und der Versicherung reichte ihm für ein wenig Wein und Tabak, für Zigarettenpapier, Zündhölzer, Kaffee, Zucker, Salz und Brot; er bekam alles unten in dem kleinen Laden an der Hauptstraße, die sich den Fluss entlangschlängelte und von der Toskana in die Emilia führte. Paolino brauchte nicht viel, er war ein einfacher Mann. So einfach, wie man es sich in der Geschichte mit dem Pfarrer erzählte. Er hatte im Auftrag des Pfarrers als Hilfsmaurer am Kindergarten gearbeitet, und als er den vereinbarten Lohn ausbezahlt bekam, sagte der Pfarrer: »Da hast du dein Geld, Paolino, aber pass auf, dass du es nicht verlierst.«
»Verlieren!«, rief Paolino. »Ja Himmel, A…« Er fluchte, dass der arme Pfarrer ganz blass wurde. »Ich und verlieren?! Das wäre ja noch schöner!«
So war Paolino. Einfacher Mann, einfaches Leben, einfache, bescheidene Mahlzeiten, ein kleiner Gemüsegarten, ein paar Hühner, eine tibetische Kaschmirziege.
Tja, die Ziege. Morgens ließ er sie aus dem Verschlag, in dem sie nachts eingesperrt war, und dann durfte sie ringsum überall grasen. Die Ziege (sie hieß Cornetta) entfernte sich nie weit, und hin und wieder hörte Paolino draußen ein leises Meckern. Doch an diesem Tag war es still gewesen, das war ihm aber nicht aufgefallen.
Als sie am Abend nicht nach Hause kam, fing Paolino an, sich Sorgen zu machen. »Cornetta, o-o-o-oooo!«, rief er überall herum, aber das Tier ließ sich nicht blicken.
Ihm kam der Gedanke, dass vielleicht die Elben, wie sich die Aussteiger nannten, sie sich geholt haben könnten. Dann verwarf er diese Möglichkeit gleich wieder. Sie waren ruhige, freundliche Zeitgenossen. Auch wenn er sie manchmal seltsam fand.
Er hatte ein gutes Verhältnis zu ihnen, sie halfen einander auch ab und an.
Er beschloss, sie zu fragen.
Als Erstes ging er zu den Elben, die das Dach eines verlassenen Hauses reparierten, nicht weit von seinem eigenen. Eine dreiköpfige Familie. Die junge Frau wurde Crepuscolo gerufen, Abenddämmerung. Als sie ihm ihren Namen genannt hatte, fand Paolino aus Campetti, dass das ein seltsamer Name war.
Ihr Lebensgefährte wurde Pietra genannt, Stein. Das war schon besser. Es klang wie Pietro. Die beiden hatten einen Sohn, den er, Paolino, Klein-Elbe nannte, weil er den Namen vergessen hatte, den die Eltern ihm mehrmals vorgesagt hatten: Narwain. Das hieß aufgehende Sonne, hatte Crepuscolo erklärt.
»He, Pietro, hast du meine Cornetta gesehen?«
Pietra legte den Deckenbalken ab, den er aufs Dach getragen hatte, und sah hinunter. »Paolino, mein Name Pietra, ich hab schon gesagt, aber du hast nicht verstanden. Pietra, nicht Pietro«, erklärte er in holprigem Italienisch und schob einen kurzen Satz auf Deutsch hinterher, der – so viel hatte Paolino aus Campetti als Gastarbeiter in Deutschland gelernt – bedeutete, dass er Cornetta nicht gesehen hatte.
»Sie ist heute nicht nach Haus gekommen«, sagte er traurig im Gehen.
Pietra nahm seine Arbeit wieder auf. Crepuscolo, die Italienerin war, tröstete ihn: »Sie wird schon wiederkommen!«, rief sie hinter ihm her. Sie grinste. »Außer sie hat ihren Cornetto gefunden!«
Es gab in der ganzen Gegend sonst keine Ziegen, weder weibliche noch männliche.
Paolino fragte weiter herum.
Er erreichte Borgo. Dort wohnten außer Giacomo noch drei Familien. Ein paar Mädchen saßen im Kreis und flochten kleine Weidenkörbchen. Die wollten sie im Dorf den Urlaubern anbieten und den Leuten, die bis August kommen würden, wenn das Rainbow-Festival stattfand.
»Habt ihr meine Cornetta gesehen?«
»Nein, Paolino«, sagte eines der Mädchen. »Sie wollte wohl in Freiheit leben.«
Ein anderes sagte: »Vielleicht hatte sie auch keine Lust mehr, bei dir zu wohnen.«
»Lass sie doch ihr Leben leben, Paolino«, sagte wieder ein anderes.
Die hatten keine Ahnung. Er konnte Cornetta doch nicht die ganze Nacht draußen lassen. Jetzt, wo es sogar Wölfe gab.
Er beschloss, selber weiterzusuchen.
Ziegen sind doch komische Viecher, dachte er bei sich, und er meinte komisch im Sinn von frech, lästig, seltsam. Weiß der Himmel, wo sie steckt. Hoffentlich hat sie kein Wolf gerissen. Aber jetzt wird es dunkel, ich geh morgen noch mal los.
Auf dem Heimweg ging er bei Giacomo vorbei, einem Elben, der bei ihm in der Nähe wohnte, einer der ersten, die sich in der Gegend niedergelassen hatten.
Er saß mit geschlossenen Augen auf den Stufen zu seiner Haustür, wo er vor zehn Minuten noch die letzten Sonnenstrahlen genossen hatte, und rauchte.
»Hast du Cornetta hier irgendwo gesehen?«, fragte Paolino, ohne näherzutreten. Die Antwort konnte er sich ja denken.
Giacomo öffnete die Augen und nahm die Zigarette aus dem Mund. »Wenn sie nicht gekommen ist, während ich geschlafen habe …«
»Du hättest sie meckern gehört. Das macht sie immer, wenn sie jemanden sieht. Sie ist heute nicht heimgekommen.«
»Dann hoffen wir mal, dass sie nicht wie die armen Damhirsche geendet hat. Ich habe ihre zerfleischten Kadaver gefunden. Oder wie der Esel von Florestano.«
»Was war mit dem?«, fragte Paolino und trat näher.
»Weißt du das nicht? Florestano hat wie du überall nach seinem Esel gefragt, jemand sagte, es hätte ihn jemand gestohlen, jemand anderes behauptete Stein und Bein, er hätte einen der hiesigen Elben gesehen, den er aber mit den Elben aus einer anderen Gegend verwechselte … Andere meinten, er hätte sich zum Sterben zurückgezogen. Jemand hat sogar behauptet, er hätte seine Knochen gefunden. Die Wölfe hätten ihn gefressen«, sagte Giacomo und lachte schallend.
Paolino ließ Giacomo sitzen und setzte seinen Weg fort, von den Elben war ja doch nichts über Cornetta in Erfahrung zu bringen. Er glaubte fest, dass sie ihn nicht ernst nahmen und dass Cornetta ihnen egal war. Sie begriffen nicht, worum es ging.
Er dagegen nahm die Leute ernst.
Zwei Gewehrschüsse waren zu hören, mit ohrenbetäubendem Knall.
Auf einen Schlag durchbrachen sie die Stille des Tales an diesem heißen Sommerabend, kurz vor der Dämmerung.
Zwei Schüsse, peng peng, und augenblicklich dehnte sich das Echo aus und verklang anschließend nach und nach in der Ferne.
Es war wie ein Riss, ein gewaltsamer Bruch, der aber nur ein paar Sekunden dauerte. Dann hoben die gewohnten Geräusche wieder an, eine Hornisse brummte, ein Vogel zwitscherte, Wasser plätscherte in einem Bach im Frieden der Berge ringsum.
Die Schüsse hörte auch Forstinspektor Marco Gherardini.
Man hatte ihn über einen Wolf informiert, der seinen Durst an einem der Bäche stillte, die das Tal durchquerten. Gherardini hielt sich in der Nähe einer kleinen Wasserstelle auf, die sich auf einem Plateau gebildet hatte und den Tieren als ideale Tränke diente.
Er inspizierte gerade die zahlreichen Spuren in dem Matsch rings um die Stelle, als die beiden Gewehrschüsse knallten.
Besorgt hob er den Kopf.
Wer schießt denn um diese Jahreszeit?
Und warum?
Er schüttelte den Kopf. Früher oder später würde er es erfahren.