fiel Orestes eine befremdliche Leere und Stille auf. Die Diener, dachte er, mussten einen Weg gefunden haben, gleichfalls nach draußen zu gehen und seinen Vater im Siegeskranz willkommen zu heißen. Er fühlte sich klein und allein, während er zum Zimmer seiner Mutter ging, wie sie ihn geheißen hatte.
Er wünschte, seine Mutter hätte jemanden zu seiner Begleitung geschickt, vielleicht jemanden, der ein erfahrener Schwertkämpfer war oder ein geschickter Speerwerfer, der ihm hätte helfen können, seinem Vater weitere Beweise seiner Tüchtigkeit vorzuführen.
Im Zimmer seiner Mutter suchte er sich einen Platz zum Sitzen. Er legte sein Schwert auf den Boden und wartete. Er horchte angespannt. Er stand auf und ging auf den Korridor zurück und wartete dort weiter, sah sich nach links und rechts um, doch es war niemand zu sehen. Er beschloss, zum Haupteingang zurückzugehen und seine Mutter zu suchen und sie zu fragen, ob er nicht bei ihr bleiben könnte, oder bei Elektra.
Wie er so ging, hörte er Stimmen. Da waren Männer, sie redeten in einem der Zimmer, die in der Nähe der Schlafkammer der Wächter lagen. Er kannte einige der Wächter, die dort waren. Einer von ihnen liebte den Schwertkampf und forderte ihn zum Spiel heraus, wozu er vorschlug, in den rückwärtigen Garten zu gehen. Orestes fragte sich, ob es der rechte Zeitpunkt dafür wäre, und sorgte sich, seine Mutter könnte ihn suchen kommen und nicht finden. Aber angesichts des Eifers des Mannes und seines lächelnden Wesens verflogen seine Bedenken, und es fiel ihm leicht einzuwilligen. Die drei anderen Wächter in dem Raum wirkten eher streng und abweisend.
»Sagst du meiner Mutter, wohin wir gegangen sind?«, bat er einen von ihnen.
Sobald der Mann bejahte, fühlte er sich weniger angespannt und folgte dem Wächter in den Garten.
Als sie eine Zeitlang gefochten hatten, tauchten zwei weitere Wächter auf, die Orestes kannte. Einer von ihnen war freundlich und sprach ihn bei seinem Namen an, der andere war eher distanziert und zerstreut. Orestes fragte sich, ob einer von beiden oder vielleicht sogar beide Männer das erforderliche Können besaßen, um mit ihm weiterzuspielen, falls der andere Wächter ermüdete. Doch im Gegenteil kam der Distanzierte sofort näher und brach das Gefecht ab.
»Deine Mutter hat gesagt, wir sollen mit dir ein Stück den Pfad entlanggehen, der zur Straße führt«, sagte er. »Dort wird das Festmahl abgehalten.«
»Wann hat sie dir das gesagt?«
»Gerade eben.«
»Weiß mein Vater davon?«
»Natürlich.«
»Wird er am Festmahl teilnehmen?«
»Natürlich.«
»Und Elektra?«
»Auch.«
»Und Aigisthos?«
»Uns wurde befohlen, dich so schnell wie möglich dorthin zu bringen.«
»Vielleicht bleibt uns ja Zeit für ein Gefecht, bevor das Fest beginnt«, sagte der Freundliche lächelnd.
»Ich glaube, ich sollte auf meine Mutter warten«, sagte Orestes.
»Deine Mutter ist schon gegangen«, sagte der andere.
»Wohin?«
»Wohin wir auch gehen.«
Orestes dachte kurz darüber nach. Beide Wächter stellten sich dicht neben ihn, jeder eine Hand auf seiner Schulter. Sie führten Orestes ab, weg vom Palast.
»Wir sollten uns beeilen, damit wir da sind, bevor es dunkel wird«, sagte einer von beiden.
»Aber wie kommen die anderen da hin?«
»Sie nehmen die Wagen.«
»Können wir nicht auch einen Wagen nehmen?«
»Die Wagen sind für die Männer, die vom Krieg heimgekehrt sind.«
»Gib mir dein Schwert«, sagte der Distanziertere. »Du bekommst es wieder, sobald wir da sind.«
Orestes gab ihm sein Schwert.
Nach und nach, da die zwei Männer verstummten und ihn zur Eile antrieben, gelangte Orestes zu der Überzeugung, dass, was gerade geschah, nicht richtig war. Er hätte nicht mit ihnen mitgehen dürfen. Mehrmals, als er sich umwandte, um zurückzuschauen, bedeutete ihm der, den er weniger mochte, weiterzugehen. Als er fragte, wie lange es dauern würde, die anderen zu erreichen, gab keiner von beiden eine Antwort. Und als er schließlich sagte, er wolle zurückgehen, packten ihn beide Wächter am Hemd und zogen ihn weiter.
Dann bemerkte er, dass es allmählich Nacht wurde. Er begriff, dass man ihn gefangen genommen hatte oder dass jemand diesen Wächtern falsche Befehle erteilt hatte. Er sagte sich allerdings, dass, sobald im Palast seine Abwesenheit auffiele, man weitere Wächter auf die Suche nach ihm schicken würde. Da sie an Häusern vorbeigekommen und von Leuten gesehen worden waren, würden diese anderen Wächter erfahren, welche Richtung sie eingeschlagen hatten. Er malte sich aus, wie zornig seine Mutter werden würde, sobald sie erfuhr, dass er verschwunden war. Er hatte das Gefühl, dass er die beiden Wächter darauf hinweisen sollte, aber ihr Schweigen wurde strenger, und ihr Voranschreiten entschlossener. Diese zwei Wächter, dachte er, würden richtigen Ärger bekommen.
Bei Dunkelheit suchten sie sich einen Platz zum Rasten. Die Wächter hatten etwas zu essen dabei, und sie teilten es mit Orestes. Aber sie sprachen weiterhin kein Wort. Als er sagte, dass er nach Hause wollte, überhörten sie es beide. Und als er hinzufügte, dass seine Mutter bestimmt Männer auf die Suche nach ihm ausgesandt hatte, blieben sie ebenfalls stumm.
Als er aufstand und sein Schwert zurückverlangte, erklärten sie ihm, dass er jetzt schlafen sollte und am Morgen alles gut sein würde.
Erst als er sich an die Entführungen erinnerte, begann er zu weinen. Elektra hatte von den Jungen gesprochen, die entführt worden waren, und ihm eingeschärft, das Palastgelände nicht zu verlassen. Einige der Jungen, die verschwunden waren, hatte er gekannt. Jetzt, ging ihm auf, war er ebenfalls verschwunden. Vielleicht waren die anderen ja auch auf diese Weise entführt worden; vielleicht hatte man sie ebenfalls so weggelockt.
Am Morgen kam der freundlichere Wächter zu ihm und fragte, wie es ihm gehe, und setzte sich nieder und legte den Arm um ihn.
»Es wird alles gut werden«, sagte der Mann. »Deine Mutter weiß, wo du bist. Wir sind hier, um auf dich aufzupassen.«
»Du hattest gesagt, wir würden zu einem Fest gehen«, sagte Orestes. »Ich will jetzt zurück.«
Als er wieder in Tränen ausbrach, sagte der Wächter kein Wort. Als er aufstand und von ihnen wegzulaufen versuchte, fassten ihn beide Wächter hart an und zwangen ihn, sich zwischen sie zu setzen.
Nach einer Weile ertönten in der Ferne Stimmen. Seine Bewacher tauschten besorgte Blicke und zwangen ihn, sich zusammen mit ihnen im Gebüsch zu verstecken. Orestes war fest entschlossen, erst zu rufen, wenn die Herannahenden schon fast da wären, sodass sie ihn leicht finden würden. Er sah seinen zwei Bewachern an, dass sie, als die Stimmen lauter wurden, es mit der Angst zu tun bekamen.
Gerade als er losschreien wollte, traten seine Bewacher aus dem Gebüsch und begannen, mehrere Männer zu umarmen, die Reihen von Gefangenen eskortierten. Orestes sah, dass die Gefangenen in Dreier- oder Vierergruppen aneinandergefesselt waren. Manche von ihnen hatten Platzwunden und Prellungen im Gesicht. Sie senkten die Köpfe, während sie langsam vorbeizogen, während ihre Wächter und die zwei Männer, die Orestes begleiteten, eindringlich flüsterten und ein hastiger Nachrichtenaustausch erfolgte.
*
Ein paarmal weinte er oder setzte sich hin und weigerte sich, auch nur einen Schritt weiterzugehen, oder beschwerte sich bei den Wächtern, aber jedes Mal kam der eine, den er gernhatte, und legte den Arm um ihn und erklärte ihm, es wäre alles in Ordnung, es hätte nur eine Planänderung gegeben, das wäre alles, und er würde schon bald seine Mutter wiedersehen, und auch seinen Vater. Als Orestes ihn fragte, wohin genau sie gingen und wann er sie wiedersehen würde, empfahl ihm sein Bewacher, sich keine Sorgen zu machen, ihnen einfach zu folgen, zu laufen, so gut, wie er konnte.
Sie marschierten den ganzen Tag, wobei sie sich von Trupps von Gefangenen, die in dieselbe Richtung zogen, überholen ließen. Als Orestes müde wurde und um eine Rast bat, sahen sich seine zwei Wächter unschlüssig an.
»Wir dürfen nicht stehen bleiben«, sagte einer der beiden.
Entgegenkommende, die in Richtung des Palastes gingen, schienen immer seine Wächter zu kennen. Bei jeder solchen Begegnung blieb einer von ihnen bei ihm, während der andere den Männern entgegenging, um in geheimnisvollem Flüsterton weitere Neuigkeiten auszutauschen, bevor sie sich mit einer Abschiedsgeste trennten.
Entlang des ganzen Weges bemerkte Orestes die Geier, die auf Bäumen oder im dichten Unterholz hockten und sich oft erbittert zankten oder hoch am Himmel flatterten, segelten und spähten. Am zweiten Tag, am späten Nachmittag, beobachtete Orestes Rauch und erkannte dann, dass ein Haus und eine Scheune brannten. Als sie näher kamen, sahen sie Reihen von Männern, die in einiger Entfernung von den Gebäuden warteten. Sie waren alle aneinandergefesselt und standen verdrießlich herum, während einige ihrer Bewacher Schweine schlachteten und Hühner töteten und andere eine Herde Schafe zusammentrieben. Ein Mann und zwei Jungen sahen tatenlos zu.
Plötzlich kam eine magere Frau aus der Scheune gelaufen. Sie schrie dabei lautstark. Zunächst nur Schreie, dann aber Worte, darunter Schimpfwörter, die sie den Wächtern entgegenschleuderte. Als sie mit ausgebreiteten Armen auf den Mann und die zwei Jungen zulief, hob einer der Wächter eine Stange auf, holte mit beiden Händen aus und schlug ihr mitten ins Gesicht. Der Schlag musste Knochen und Zähne zerschmettert haben, dachte Orestes, aber bevor die Frau zusammenklappte, zu Boden fiel und sich zusammenrollte, herrschte ein, zwei Sekunden lang völlige Stille.
Orestes’ Wächter schoben ihn weiter. Er schlotterte und weinte jetzt, und hatte Hunger.
Zwar musste er während der folgenden Tage die meiste Zeit über zwischen den Wächtern hergehen, aber bedroht oder beschimpft wurde er von ihnen nicht. Zumeist sagten sie überhaupt sehr wenig. Wenn er nach seinem Vater und seiner Mutter fragte, gaben sie ein paarmal schlicht keine Antwort. Aber bei Nacht hörte er sie reden, und so erfuhr er, dass ein Großteil der Männer, die aneinandergefesselt marschieren mussten, Soldaten waren, die mit seinem Vater gekämpft hatten. Andere waren Sklaven, die sein Vater erbeutet hatte.
Einzelnen Bemerkungen entnahm er außerdem, dass sie den Auftrag hatten, ihn irgendwohin zu bringen und sich dann den Scharen anzuschließen, die zurück in Richtung Palast strebten. Wenn sie in seiner Anwesenheit offen redeten, sprachen sie von Männern und Orten, deren Namen ihm nichts sagten. Der eine, den er weniger mochte, ermahnte den anderen ständig, kein weiteres Wort zu sagen, und fügte dann hinzu, reden könnten sie, so viel sie wollten, sobald ihre Aufgabe erfüllt wäre.
Als er seine Bewacher eines Tages fragte, wessen Befehlen sie gehorchten, hätten sie ihm fast ins Gesicht gelacht. Als er fragte, wohin sie eigentlich gingen, sagten sie ihm, das würde er zu gegebener Zeit schon noch sehen. Er musterte die Gesichter der Wächter und ließ eine Pause entstehen für den Fall, dass einer von ihnen seinen Vater oder seine Mutter erwähnen würde. Aber sie sagten zu ihm, je weniger sie redeten, desto schneller würden sie vorankommen.
Einmal, nachts, war er nah genug, um mehr von dem zu verstehen, was seine Bewacher sich zuflüsterten. Sie ließen den Namen Aigisthos fallen, aber nur beiläufig, nebenher; von seinem Vater oder seiner Mutter war diesmal nicht die Rede. Obwohl er vom Gehen entsetzlich müde war, und jetzt auch schläfrig, gab er sich große Mühe, wach zu bleiben und zu lauschen, aber jetzt ging das Gespräch um Land, hektarweise Land, Land mit Ölbäumen und Obstgärten, Land, das nah einem Bach lag und geschützt war. Einer von ihnen sprach davon, ein Haus zu bauen, und dass jetzt wegen der Sklaven und Soldaten, die Steine schleppen könnten, eine gute Zeit zum Bauen wäre.
Die Leute in den Dörfern und Häusern am Weg hatten sichtlich Angst. Manchmal gab es Anzeichen dafür, dass ein Haus niedergebrannt oder beschädigt worden war. Wenn sie irgendwo Essen verlangten, wurde es ihnen rasch gegeben; wenn sie um Obdach ersuchten, was weniger häufig geschah, bekamen sie in einer Scheune oder einem Schuppen einen Platz zum Schlafen zugewiesen. Aber als sie weiterwanderten, wurden die Abstände zwischen den Dörfern größer, und viele der Häuser, an denen sie vorbeikamen, waren geplündert worden. Sie trugen so viel Proviant, wie sie konnten, bei sich, aber häufig hatten sie auch nichts.
Eines Abends, nachdem sie den ganzen Tag ohne Essen gewandert waren, erklärte der Wächter, den er nicht leiden konnte, er würde sich auf die Suche nach einem Bauernhäuschen oder einem kleinen Gut abseits des Weges machen, dem sie und die anderen folgten. Er würde vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein, sagte er, als er Orestes und den anderen Wächter auf einer Lichtung zurückließ, die er, wie er sagte, bei seiner Rückkehr leicht wiederfinden würde.
Orestes schlief eine Zeitlang. Als er, hungrig, aufwachte, war es fast dunkel, aber der Wächter war noch immer nicht zurück. Wie der Mond aufging, merkte er, dass der andere Wächter ihn beobachtete. Zuerst wollte er die Augen schließen und versuchen, wieder einzuschlafen, oder so tun, als schlafe er, aber dann kam ihm der Gedanke, dass es ein günstiger Zeitpunkt sein könnte, um sich aufzusetzen und auszuprobieren, ob sich sein Wächter zum Sprechen bringen ließ, zu einer Erklärung, wohin sie unterwegs waren und warum sie überhaupt den Palast verlassen hatten. Während der Mann stumm blieb, überlegte er sich, wie er am besten anfangen sollte.
»Kann er uns im Dunkeln überhaupt finden?«, fragte er schließlich.
»Ich glaube, schon«, sagte der Wächter. »Der Mond ist schließlich voll.«
Für eine Weile sprachen beide kein Wort, aber Orestes spürte, dass dem Wächter das Schweigen unangenehm war. Der Mann weiß bestimmt alles, dachte er, aber ihm wollte einfach keine Frage einfallen, die seinen Bewacher zum Reden gebracht hätte.
»Ist es noch weit?«, fragte er leise.
»Was?«
»Wo wir hingehen.«
»Ein paar Tage vielleicht«, sagte der Wächter.
Sie blickten in umgekehrte Richtungen, als fürchteten sie sich voreinander. Wie seine nächste Frage hätte lauten sollen, dachte er, war klar. Er musste fragen, was genau ihr Ziel war, aber wenn er direkt danach fragte, das war ebenso klar, würde der Wächter es ihm nicht sagen. Und wenn der Wächter sich weigerte, eine Frage zu beantworten, dann könnte es schwierig werden, weitere zu stellen. Er musste sich eine Frage ausdenken, die der Wächter, ohne nachzudenken, beantworten würde und die ihm vielleicht sogar einen Hinweis darauf liefern könnte, wohin sie eigentlich gingen.
»Dich mag ich lieber als den anderen«, sagte er.
»Er ist in Ordnung. Tu einfach, was er sagt.«
»Ist er derjenige, der das Sagen hat?«
»Das Sagen haben wir beide.«
»Aber wer hat euch den Befehl gegeben?«
Er hatte, wie er wusste, eine Frage gestellt, deren Antwort entscheidend sein konnte. Was er gleich hören würde, konnte ihm verraten, wie die Dinge standen. Der Wächter seufzte.
»Es ist eine schwierige Zeit«, sagte er.
»Für alle?«, fragte er.
»Vermutlich«, sagte der Wächter.
Orestes konnte sich nicht denken, was das bedeuten mochte. Er hatte das Gefühl, dass er die Strategie der Vorsicht aufgeben und eine Frage stellen sollte, die das Wort »Vater« enthielt.
»Weiß mein Vater, wo ich bin?«, fragte er.
Der Wächter gab zunächst keine Antwort. Orestes wagte kaum zu atmen. Es war windstill, und kein Geräusch war zu hören, nicht einmal von Hunden oder anderen Tieren in der Ferne. Es gab nur das Schweigen zwischen ihnen, das Orestes sich hütete, noch einmal zu brechen.
»Man wird sich um dich kümmern«, sagte der Wächter.
»Andere Jungen wurden entführt«, sagte Orestes. »Meine Mutter und Elektra werden befürchten, man habe auch mich entführt. Mein Vater auch.«
»Du bist nicht entführt worden.«
»Ich hätte gern mein Schwert zurück«, sagte er.
»Es wird alles gut«, entgegnete der Wächter.
»Bin ich auch bestimmt nicht entführt worden?«, fragte er.
»Nein, nein, ganz und gar nicht«, sagte der Wächter. »Mach dir einfach keine Gedanken und komm mit uns mit, und dann wird alles gut werden.«
»Warum kann ich nicht zurück?«
»Weil dein Vater wollte, dass du mit uns gehst.«
»Aber wo ist er?«
»Wir werden ihn bald sehen.«
»Auch meine Mutter?«
»Alle.«
»Warum gehen wir zu Fuß?«
»Jetzt hör auf, Fragen zu stellen, und versuch zu schlafen. Wir werden bald alle wiedersehen.«
Dann schlief er ein und wachte von ihren Stimmen auf, sie klangen gedämpft und besorgt. Er hielt vollkommen still und hörte zu, während der Wächter, der allein losgezogen war, erzählte, er habe nichts Essbares gefunden, nicht das Geringste, nur verlassene Häuser ohne irgendwelche Anzeichen von Leben, die Speisekammern leer, keine Tiere auf der Weide. Aber das sei noch nicht das Schlimmste, sagte er. Jemand hatte die Brunnen vergiftet. Er war einem Soldaten begegnet, dessen zwei Gefährten sich vergiftet hatten. Er war gewarnt worden, aus keinem Brunnen zu trinken. Also war er nicht nur ohne Essen, sondern auch ohne Wasser zurückgekommen.
»Wer hat die Brunnen vergiftet?«, fragte der andere Wächter.
»Sie glauben, dass es die Bauern waren, die Bauern, die sich jetzt im Hochland versteckt halten, aber sie haben keinen einzigen gefunden. Sie haben keine Zeit für eine gründliche Suche.«
Einer der Wächter rüttelte Orestes, der so tat, als habe er bis eben geschlafen.
»Wir müssen los«, sagte der Mann. »Wir haben weder zu essen noch zu trinken, aber wir müssen los. Wir werden unterwegs etwas finden.«
Orestes begann, Durst zu verspüren, noch ehe sie aufgebrochen waren. Selbst ein einziger Tropfen Wasser, dachte er, wäre eine Wohltat gewesen. Er versuchte, sich den vor ihm liegenden Tag vorzustellen, und teilte ihn in Schritte ein. Wie viele Schritte würde er im Laufe eines Tages wohl machen müssen? Um sich abzulenken, tat er so, als müsste er nur noch zehn Schritte tun, und dann würde es Wasser und eine Rast geben. Und nach diesen zehn Schritten stellte er sich vor, dass sie nur noch zehn weitere Schritte zu gehen haben würden.
Nach ungefähr einer Stunde nahm er einen Geruch von Verwesung wahr. Er sah seine zwei Bewacher an, sie hielten sich die Nasen zu. Als der Geruch durchdringender wurde, sah er zwei Leichen, die, von Fliegen umsummt, nebeneinander ein Stück weiter auf der Straße lagen und Geiern zum Schmaus dienten. Nach ihrer Kleidung zu urteilen, dachte er, mussten die Toten zu den Truppen gehört haben, die in Richtung des Palastes marschierten, zu den Männern, die immer stehen blieben und mit seinen Bewachern Neuigkeiten austauschten und die mitunter fast entspannt und zuversichtlich erschienen. Als sie unmittelbar an den Leichen vorbeikamen, war der Gestank so unerträglich, dass sie rasch weitergingen, aber nicht bevor Orestes einen kurzen Blick auf die Gesichter der beiden Männer geworfen hatte, deren Augen weit aufgerissen und Münder verzerrt waren, als seien sie schreiend oder brüllend gestorben. Nachdem sie diese Szene hinter sich gelassen hatten, blickte keiner von ihnen zurück.
Orestes spürte, dass sie es noch eiliger als sonst hatten voranzukommen. Sie hätten ohnehin nirgendwo Rast machen können, denn die Besiedlung wurde spärlicher und das Land kahler.
Um sich von dem verzweifelten Durst und bald auch einem wölfischen Hunger abzulenken, rätselte er, zwischen Schwächeanfällen, während deren er meinte, keinen Schritt weiter tun zu können, warum er seine Tage, als er noch die Freiheit hatte, nach Belieben durch den Palast zu schweifen, nie richtig ausgekostet hatte. Er wünschte sich, seine Mutter wäre hier oder irgendwo in der Nähe, sodass er zu ihr gehen und sich neben sie legen könnte.
Wenn sie erschöpft stehen blieben, schienen die Wächter fast unwillig weiterzugehen. Sie setzten sich auf den Boden und starrten grimmig vor sich hin. Ringsum war Stille, nur vom Geräusch der Zikaden unterbrochen, und von Eidechsen, die unter einem Stein hervor und in das nächste Versteck huschten.
Später, als die Schatten länger geworden waren, machten sie in der Ferne ein Haus aus. Mittlerweile zitterte Orestes so, als sei ihm kalt, und er hielt sich an den zwei Wächtern fest, die sich langsam vorankämpften. Seine Zunge, spürte er, schwoll allmählich an. Er hatte die ganze Zeit zwanghaft geschluckt, was er an Speichel im Mund noch finden konnte, aber jetzt war nichts mehr da, sein Mund war vollkommen ausgetrocknet und seine Kehle vom Schlucken wund.
Argwöhnisch gingen sie auf das Haus zu, das am Ende eines langen, zu beiden Seiten von Ölbäumen gesäumten Feldweges lag. Es waren keinerlei Tierlaute zu hören, und mit jedem Schritt verstärkte sich der Eindruck, dass dieses Anwesen schon seit Langem verlassen war.
Während Orestes sich in den Schatten setzte, gingen die Wächter einmal um das Haus herum, und einer von ihnen stieß einen Schrei aus, als er den seitwärts gelegenen Brunnen sah. Das Haus, sah Orestes, war in gutem Zustand. Die Wächter stießen die Tür auf und gingen hinein.
Plötzlich drang ein Geräusch aus dem Inneren des Hauses, ein Geräusch von zersplitterndem Holz, und dann der Schrei einer Frau und eine laute Männerstimme, und dann die Rufe der Wächter, die jemandem brüllend befahlen, hinauszugehen und vor dem Haus zu warten. Orestes stand auf, als ein Paar, zerzaust und verängstigt, herauskam und dabei zweistimmig auf die Wächter einredete. Während einer der Wächter den beiden zu schweigen befahl, ging der andere hinein und kam mit einem großen Tonkrug voll Wasser und einem Becher wieder heraus. Er reichte dem Mann den Becher und befahl ihm, ihn aus dem Krug zu füllen und auszutrinken.
Als der Mann das Wasser trank, wurde Orestes übel, und er bekam heftige Magenkrämpfe. Er versuchte, sich zusammenzureißen, aber schon bald stand er, von den anderen abgewandt, würgend über einen Busch gebeugt. Wieder zurückgekehrt, wollte er nur noch Wasser. Als er sich dem Krug näherte, bedeutete ihm einer seiner Bewacher zu warten und erklärte ihm mürrisch, dass das Gift, falls das Wasser welches enthielt, vielleicht Zeit brauchen würde, um seine Wirkung zu entfalten. Sie würden sich hinsetzen und warten, und wenn nach einer gewissen Zeit alles in Ordnung zu sein schien, dann würden sie alle aus dem Krug trinken. Aber nicht eher.
Die Frau und der Mann standen da und starrten zu Boden, während die zwei Wächter, die sich in den Schatten gestellt hatten, sie beobachteten. Orestes saß auf der Türschwelle. Auch wenn niemand etwas sagte, war es für Orestes offensichtlich, dass das Ehepaar, das sie im Haus entdeckt hatten, sich zu Tode fürchtete, der Mann nicht weniger als die Frau. Er fragte sich, ob das Wasser, das der Mann getrunken hatte, wirklich vergiftet gewesen war und die beiden jetzt darauf warteten, dass sich die Anzeichen dafür äußerten.
Schließlich tranken die zwei Wächter, da das Wasser den Mann nicht vergiftet hatte, mit solcher Gier Becher um Becher, dass Orestes sie schon fragen wollte, ob sie ihn vergessen hatten. Jetzt, da Wasser verfügbar war, bezweifelte er, dass er je genug davon bekommen würde. Er ging sofort zum Krug, sobald einer der Wächter ihn durch ein Zeichen dazu aufforderte. Sie hatten ihm genug für zwei Becher gelassen. Als er den zweiten geleert hatte, hielt er den Krug schräg, um noch den letzten Tropfen daraus schöpfen zu können.
Sobald er ausgetrunken hatte, bemerkte er, dass einer der Wächter in den Brunnen hineinsah. Dann winkte der Wächter den Mann herbei und befahl ihm, mehr Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen. Vielleicht, dachte Orestes, würden sie Wasser mitnehmen können, oder vielleicht den Abend hier in diesem Haus verbringen, oder vielleicht sogar einen oder zwei Tage. Aber so oder so, dachte er, würden sie mehr Wasser brauchen. Der Mann trat an den Brunnen heran, befestigte den Krug an einem Seil und ließ ihn hinunter, während die anderen zusahen. Orestes bemerkte, dass die Frau jetzt noch nervöser war als zuvor. Sie ließ die Arme hängen, aber ihre Blicke huschten von dem einen zum anderen Wächter und dann zum Haus.
Als der Krug aus dem Brunnen herauskam, drückte der Wächter, den Orestes nicht leiden mochte, dem Mann den Becher in die Hand und befahl ihm, etwas zu trinken. Der Mann warf ihm einen stolzen Blick zu, als ob er hier die Befehlsgewalt innehätte. Er sagte nichts. Dann blickte er hinüber zu seiner Frau. In diesem Augenblick, als unser aller Aufmerksamkeit ausschließlich dem Mann und dem Krug galt, kamen mehrere Kinder aus dem Haus gerannt, während die Mutter sie schreiend dazu anfeuerte, schneller zu laufen. Es waren vier Kinder, drei Jungen und ein Mädchen. Zwei Jungen und das Mädchen schafften es davonzukommen, bevor die Wächter ihnen folgen konnten, aber der kleinste der Jungen — Orestes schätzte ihn auf vier oder fünf — wurde von einem der Wächter erwischt und zurückgeschleift und neben seinem Vater abgestellt. Er weinte lauthals, mit Worten, die Orestes nicht verstand, während der Wächter zum Brunnen zurückkehrte und daneben stehen blieb.
Orestes begann ebenfalls zu weinen. Er fragte sich, ob auch er losrennen, den Kindern folgen und festzustellen versuchen sollte, wohin sie gelaufen waren. Vielleicht, dachte er, würde er ihnen erklären können, wer er war und woher er gekommen war.
»Trink das Wasser«, hörte er den Wächter dem Mann sagen.
Er sah, dass der Mann zögerte und seiner Frau einen Blick zuwarf.
»Einer von euch wird das Wasser trinken«, sagte der Wächter und packte den Jungen.
Jetzt weinend, versuchte die Mutter, den Jungen vom Brunnen wegzuziehen.
»Trink!«, sagte der Wächter. »Ich will sehen, wie du diesen Becher leerst. Füll ihn jetzt und trink!«
Noch immer hielt der Mann den Becher in der Hand, ohne ihn zu füllen. Er blickte in die Ferne, als ob Hilfe kommen oder irgendetwas geschehen könnte. Er reckte sich zu seiner vollen Körpergröße auf, und der Ausdruck seines Gesichts wurde strenger und härter. Er und seine Frau blickten einander an, während seine Frau das Kind hochhob und in die Arme nahm.
»Wenn du nicht trinkst«, sagte der Wächter, »dann hole ich deinen Jungen wieder her und zwinge ihn, einen Becher von dem Wasser zu schlucken.«
Der Mann schien tief in Gedanken versunken. Selbst das Kind war jetzt verstummt. Einen würdevollen Ausdruck im Gesicht, füllte der Mann seinen Becher. Er hielt ihn in der Hand, und dann seufzte er und trank das Wasser in einem Zug aus. Nachdem er das getan hatte, ging er zu Frau und Kind, fuhr dem kleinen Jungen durch das Haar und strich dann seiner Frau über den Kopf. Mit der anderen Hand hielt er die Hand seiner Frau fest.
Langsam trennte sich der Mann von der Frau und dem Kind und begann zu husten. Es war zunächst ein sachtes Geräusch, doch schon bald wurde es härter und abgehackter, während der Mann sich mit beiden Händen an die Kehle fasste, als ob er erstickte. Dann, während die Schmerzen schlimmer zu werden schienen, ließ er sich auf die Knie nieder. Er keuchte jetzt und stieß irgendwelche Worte aus. Seine Frau, die noch immer das Kind in den Armen hielt, fing an zu singen. Orestes hatte noch nie zuvor etwas dergleichen gehört. Wenn die Diener im Palast sangen, dann waren es immer fröhliche Lieder, und selbst als er zu anderen Gelegenheiten Gesang gehört hatte, war es immer eine ganze Gruppe gewesen, nie eine einzelne Frau.
Die Stimme ging jetzt langsam in die Höhe und nahm einen flehentlichen Klang an. Er begriff, dass sie sich an die Götter wandte. Der Mann kreischte nun vor Schmerz; auf dem Boden ausgestreckt, schauderte er am ganzen Körper, beide Hände um seine Kehle geklammert, als versuchte er, sich selbst zu erwürgen oder irgendetwas aus seiner Kehlgrube in den Mund hinaufzupressen, sodass er es ausspeien könnte.
Er versuchte aufzustehen, während etwas schwarzes Blut aus seinem Mund quoll und in den Staub tropfte. Seine Augen rollten, und der Schmerz schien sich von der Kehle in seinen Magen verlagert zu haben. Eine Zeitlang hielt er sich den Bauch und brüllte vor Schmerz, während Orestes von Grauen erfüllt zusah. Doch dann drang dem Mann ein gurgelnder Schaum aus dem Mund. Langsam kroch er auf seine Frau zu, die ihren Gesang fortsetzte und das völlig gelassene Kind in den Armen hielt. Der Mann wurde stiller; dann rollte er sich auf den Rücken und klammerte sich mit beiden Händen an die Fesseln seiner Frau.
Beide Wächter verfolgten starren Blicks das Geschehen. Die Augen des Mannes blieben geöffnet, ebenso sein Mund, aber er gab keinen Laut von sich, ebenso wenig seine Frau. Das Lied war zu Ende, und Orestes begriff, dass der Mann gestorben war. Einer der Wächter bedeutete ihm daraufhin, mit ins Haus zu kommen. Der Hauptraum wurde durch eine hölzerne Zwischenwand geteilt, und hinter der Wand waren Betten und ein Tisch.
Sie nahmen alles, was sie an Essbarem fanden — Brot und Käse und etwas Dörrfleisch. Sie fanden einen weiteren Krug Wasser, aber der Wächter schüttelte den Kopf, und obwohl sein Durst jetzt noch heftiger brannte als zuvor, rührte Orestes das Wasser nicht an. Sie verließen das Haus und gingen den holprigen Pfad entlang, der zur Hauptstraße zurückführte, und ließen die Frau mit dem Kind in den Armen und dem Toten vor sich auf dem Boden zurück.
Sie wanderten mehrere Meilen, ehe sie hielten. Sie setzten sich schweigend und öffneten das Stoffbündel mit dem Essen. Obwohl er zuvor einen unbändigen Hunger gehabt hatte, war Orestes jetzt nur noch übel. Ohne etwas zum Trinken wirkte das, was sie aus dem Haus mitgenommen hatten, schal und trocken. Er sah zu, wie die Wächter sich jeder ein Stück Brot nahmen und zu essen versuchten. Keiner rührte den Käse oder das Dörrfleisch an. Schließlich wurde das Essen eingepackt, und sie wanderten weiter, bis sie eine Stelle fanden, wo sie im Schutz einiger Bäume Nachtrast halten konnten.
Am nächsten Tag gelangten sie an einen tiefen, schnell fließenden Bach, und sie beäugten ihn unschlüssig, bis einer der Wächter sagte, wenn sie nicht davon tranken, würden sie verdursten. Nachdem sie getrunken hatten, badeten die zwei Wächter. Sie redeten Orestes zwar zu, es ihnen nachzutun, aber er wollte sich nicht vor ihnen ausziehen. Er sah ihnen zu, wie sie im Wasser planschten, und fragte sich, ob es irgendwo in der Nähe einen Ort gab, an den er fliehen und wo er sich verstecken könnte, aber ihm war bewusst, dass sie ihn nicht aus den Augen ließen, und er war sicher, dass sie ihn beim ersten Fluchtversuch wieder eingefangen hätten.
Da kam ihm, eindringlicher denn je, der Gedanke, dass er, wenn er wieder zu Haus im Palast wäre, seinem Vater von diesen zwei Männern erzählen würde und, sollten sie davongelaufen sein, ihn bitten würde, sie ausfindig zu machen, sie aufzuspüren, sie, wenn es nötig sein sollte, überall zu suchen und sie dann in Ketten zum Palast bringen und in die dunkelste Zelle des Verlieses sperren zu lassen.
Nachdem sie zwei weitere Tage lang gewandert waren und dabei jeden Brunnen, an dem sie vorbeikamen, nach wie vor gemieden hatten, begriff Orestes, dass sie von ihrem Ziel, was es auch sein mochte, nicht mehr weit entfernt waren. Mittlerweile zweifelte er nicht mehr daran, dass er nicht deswegen hier war, weil seine Mutter oder sein Vater die Wächter beauftragt hätten, ihn zu ihnen zu bringen, sondern weil er entführt worden war, und dass eine Flucht ihm, solange die zwei Wächter bei ihm waren, niemals gelingen würde.
Obwohl sie jetzt freundlicher wirkten und er das Gefühl hatte, dass sie ihm vielleicht sogar verraten hätten, wohin sie eigentlich gingen, da sie doch schon fast da waren, entschied er sich dafür, sie nicht zu fragen. Er würde es schon noch früh genug erfahren, dachte er.
Das letzte Stück mussten sie klettern, und als der Pfad sich schließlich völlig verlor, mussten die Wächter raten, wie es weiterging, wobei sie mehrmals eine falsche Entscheidung trafen und wieder kehrtmachen mussten. Zum ersten Mal seit vielen Tagen kamen sie an ein paar Ziegen vorbei, die auf den Felsen herumkletterten. Als sie höher stiegen, machte Orestes unten in der Ebene eine Schafherde aus.
Dann klaffte eine gewaltige Spalte im Fels. Sie gingen eine Art abschüssigen Korridor entlang bis zu einer Stelle, von der aus in den Stein gemeißelte Stufen weiter hinunter und schließlich um ein Gebäude herum führten. Niemand, dachte er, würde sie in dieser Bergfeste jemals finden können. Als sie eine Tür erreichten, brauchten sie nicht erst zu klopfen; sie wurde ihnen unaufgefordert von einem Mann geöffnet, der sie weder ansah noch ansprach.
Ein anderer Mann, der vor einer zweiten Tür saß, stand allerdings auf, als er sie sah, und umarmte herzlich beide Wächter. Er begann über die bloße Tatsache ihres Hierseins, und dass sie diesen Jungen mitgebracht hatten, zu lächeln und zu lachen.
»Als hätten wir nicht schon genug von der Sorte«, sagte er vergnügt. »Vielleicht hat dieser hier ja bessere Manieren als manche von denen, die ich da drinnen habe. Seht ihr diesen Fuß? Damit muss ich ihnen Manieren eintrichtern, und wenn das nicht wirkt, kriegen sie den hier zu spüren.«
Die Wächter lachten, als er einen Stock hochhob, den er neben sich hatte, und ihn durch die Luft zischen ließ.
»Und gefräßig dazu. Ist dieser Bursche gefräßig?«
»Er frisst wie ein Pferd«, sagte einer der Wächter.
»Wir treiben’s ihm schon aus«, sagte der Mann.
Er öffnete die Tür, sie führte in einen langen Raum voller Betten mit mehreren hohen Fenstern, die eher Schatten als Licht hereinließen. Orestes brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass das Zimmer mit zehn oder mehr Jungen belegt war, darunter vielen ungefähr seines Alters. Sofort als er sie sah, wusste er, dass es die entführten Jungen waren. Merkwürdig war, dass, obwohl sie die Tür und davor sogar die Stimmen draußen gehört haben und ihnen jetzt bewusst sein musste, dass jemand Neues zu ihnen gekommen war, anfangs keiner von ihnen aufsah, und dann, als einige wenige doch den Kopf hoben, sie weder den Ausdruck in ihren Gesichtern veränderten noch überhaupt etwas wahrzunehmen schienen.
Niemand sprach, als er zwischen den Betten entlangging. Langsam, angefangen bei einem Jungen namens Leandros, dem Enkel des Theodotos, erkannte er einige von ihnen.
Die Tür schloss sich. Die Wächter waren nicht mit hereingekommen. Er war allein mit dieser stummen, bleichen Schar. Als er einem von ihnen fest in die Augen sah, schlug ihm ein leeres Starren entgegen, das bald mürrisch und gereizt wurde. Er näherte sich Leandros’ Bett, um ihn etwas zu fragen, aber Leandros wandte sich von ihm ab. Schließlich setzte er sich am Ende einer Bettenreihe auf den Fußboden und sah sich im Zimmer um, während er sich fragte, wann wohl jemand etwas sagen, Essen kommen oder überhaupt irgendetwas passieren würde. Die Stille wurde nur vom Husten eines der Jungen unterbrochen, einem krächzenden Husten, der nicht dazu geeignet schien, dem Hustenden die geringste Linderung zu verschaffen.
Nichts geschah, bis der Geruch von zubereitetem Essen von unten heraufstieg, was einige der Jungen veranlasste, sich in ihren Betten aufzusetzen. Doch noch immer sprach keiner ein Wort. Als Orestes zur Tür zurückging, wandten sich wieder alle Jungen nacheinander von ihm ab. Er fragte sich, ob sie ihn wirklich nicht wiedererkannten oder ob sie glaubten, er stehe mit den Entführern im Bunde.
Als sich die Tür endlich öffnete, gingen die Jungen im Gänsemarsch, alle mit gesenktem Kopf, in den nächstunteren Stock. Der Einzige, der den Kopf hob, als er an Orestes vorbeikam, war Leandros. Er sah ihn einen Augenblick lang an und zuckte dann mit den Schultern. Sobald die Reihe an ihm vorübergezogen war, schloss sich Orestes ihr an und gelangte über eine schmale Treppe in ein beengtes Esszimmer mit einem langen Tisch, an den sich die meisten Jungen setzten, und einem kleineren Tisch an einem Fenster, wo zwei Jungen Platz nahmen. Einer von ihnen hustete die ganze Zeit. Es war das gleiche Geräusch, das er oben gehört hatte; jetzt konnte er sehen, dass der betreffende Junge, der ihm übrigens nicht bekannt vorkam, krank war und dass der Husten ihm Schmerzen bereitete und außerdem den Pegel der Anspannung im Esszimmer erhöhte.
Orestes behielt die Tür zur Küche im Auge, aber niemand ließ sich blicken. Stattdessen holten zwei von den Jungen das Essen, das dann am Tisch weitergereicht wurde. Als er am Ende des Tisches Platz nahm, sah er, dass weder der Junge, der gehustet hatte, noch der andere Junge am Nebentisch etwas bekamen. Die übrigen aßen schweigend. Er richtete nacheinander auf jeden Jungen an der gegenüberliegenden Tischseite seine ganze Aufmerksamkeit und versuchte, wenigstens einem von ihnen einen Funken des Wiedererkennens zu entlocken, aber diejenigen, die überhaupt merkten, dass er sie anstarrte, reagierten lediglich mit einem kurzen, leblosen Blick.
Als sie mit dem Essen fertig waren, standen sie auf und kehrten stumm im Gänsemarsch in den Schlafsaal zurück, Orestes als Letzter.
Da es kein Bett für ihn gab, suchte er sich eine Stelle, wo er sich auf den Fußboden legen konnte. Während der Nacht wurde er mehrmals durch das Husten geweckt und zuletzt, am Morgen, noch einmal durch die Jungen ringsum. Als er einen von ihnen fragte, wohin man ging, um sich zu erleichtern, gab der Junge keine Antwort, und die anderen, die in seiner Nähe gestanden hatten, rückten, augenscheinlich um zu verhindern, dass er sie ansprach, von ihm ab.
Als er zur Tür ging, stellte er fest, dass sie offen war. Draußen saß der Wärter, dem er am vergangenen Tag schon begegnet war.
»Du«, sagte er. »Zweierlei. Du gehst heute Morgen ins Bad. Du stinkst wie eine alte Ziege. Du bekommst zusammen mit den anderen frische Sachen. Lass deine alten Sachen hier. Und du brauchst eine Schiefertafel. Die Tafel behältst du die ganze Zeit bei dir.«
»Wozu ist die Tafel?«, fragte Orestes.
»Das wirst du schon früh genug merken«, lachte der Mann. »So, und jetzt ab ins Bad mit dir, augenblicklich.«
»Wo ist das Bad?«, fragte Orestes.
»Hier die Treppe runter und dann noch die nächste Treppe. Du und alle anderen werden sich besser fühlen, wenn du diesen Geruch erst mal los bist.«
Nachdem er zwei Treppen hinuntergestiegen war, sah er, dass schon vier Jungen im Bad waren. Als er stehen blieb und sie im streifigen Licht betrachtete, das durch einen Schlitz in der Wand hereinkam, flüsterten zwei von ihnen miteinander, während die beiden anderen das Wasser heftig aufwühlten, wodurch ihre Stimmen übertönt wurden. Zunächst bemerkten sie ihn nicht, wie er sich leise auszog. Als er Anstalten machte, zu ihnen ins Wasser zu steigen, rückten die beiden, die geflüstert hatten, auseinander. Alle vier blickten starr geradeaus. Er hätte ihnen gern gesagt, dass er dem Wärter nicht verraten würde, dass sie geflüstert hatten, aber er vermutete, dass jegliches Sprechen seinerseits ihre Feindseligkeit nur noch verstärkt hätte. Bald verließen alle vier das Becken und trockneten sich in einer Ecke ab.
Als er fertig gebadet und sich mit einem der Handtücher, die die anderen zurückgelassen hatten, abgetrocknet hatte, ging er wieder nach oben, wo der Wärter ihm etwas zum Anziehen und ein Stück Schiefer und ein Stück Kreide aushändigte.
Der Wärter ging mit ihm durch den Schlafsaal und fand eine freie Stelle für ihn, und dann ordnete er zwei Jungen dazu ab, ihm zu helfen, von einem der unteren Stockwerke ein Bett heraufzutragen, das er benutzen könnte. Als Orestes in den frischen Sachen, die Tafel in der Hand, dastand, nahmen ihn einige der Jungen jetzt tatsächlich zur Kenntnis und betrachteten ihn aufmerksam. Aber als er einem von ihnen zunickte, wandte sich dieser ab.
Die Tage vergingen langsam und zumeist stumm. Dreimal am Tag schlurften sie hinunter in den Speiseraum. Einmal die Woche durften sie das Bad benutzen. Im Bad erzeugten zwei Jungen laute Planschgeräusche, die es zwei anderen gestatteten zu flüstern, ohne gehört zu werden. Dies war, soweit er feststellen konnte, die einzige Gelegenheit, bei der die Jungen überhaupt miteinander sprachen. Manchmal hörte er bei Nacht Jungen im Schlaf heulen und weinen, und über längere Strecken erzeugte der Junge mit dem Husten ein zusätzliches schnarrendes Geräusch und rang danach immer laut nach Atem, und dieses Geräusch hörte auch dann nicht auf, wenn der Wärter, der die ganze Nacht über vor der Tür zum Schlafsaal saß, hereinkam und den Jungen schüttelte oder ohrfeigte. Und dann war da noch die Schiefertafel. Die Tafeln mussten immer neben dem Bett liegen, sodass sie deutlich zu sehen waren. Für jede Übertretung der Regeln bekam jeder Junge einen Strich auf seine Tafel, und dieser Strich durfte nur von einem Mitgefangenen eingetragen werden, der sich außerdem durch ein hinzugefügtes Symbol kenntlich machen musste. Orestes brauchte einige Wochen, um sich das alles zusammenzureimen, da er nie einen Jungen dabei ertappte, wie er auf die Tafel eines anderen einen Strich machte. Es geschah offenbar immer bei Nacht, begriff er, aber selbst in Nächten, in denen er wach lag, bekam er es nie mit.
In Abständen fanden Inspektionen statt, die von dem Wärter durchgeführt wurden, den er als ersten kennengelernt hatte, an denen aber auch ein oder zwei weitere Wärter teilnehmen konnten. Sie überprüften dann die Tafeln und sonderten anschließend diejenigen Jungen, die Striche darauf hatten, zur Bestrafung aus. Diese Jungen wurden nach draußen oder die Treppe hinunter in den Speiseraum oder ins Bad geführt, manchmal aber auch nur gleich vor die Tür. Die Schwere der Prügelstrafe entsprach dabei nicht der Anzahl der Striche auf der Tafel, sondern hing von der Laune der Wärter ab. Dennoch bedeutete eine größere Anzahl von Strichen auf der eigenen Tafel, dass man eher Gefahr lief, nach draußen geführt und bestraft zu werden, als wenn man eine unbeschriebene Tafel oder nur sehr wenige Striche hatte.
Aber ganz gleich, wie wenige Striche der Junge mit dem Husten, dessen Name, wie Orestes erfuhr, Mitros lautete, vorzuweisen hatte — er wurde immer mit nach draußen genommen. Wenn er zurückkam, legte er sich auf sein Bett und weinte und hustete dann auch, bis beide Geräusche miteinander verschmolzen.
Während die Striche auf seiner Tafel immer zahlreicher wurden, konnte sich Orestes nicht denken, zu wem das Symbol neben dem Strich gehören mochte. Der Strich wurde immer von derselben Person angebracht, jeweils während der Nacht. Eines Morgens schließlich, als er gerade das Symbol betrachtete, bemerkte Orestes, dass Leandros ihn ansah. Als Orestes die Stirn runzelte und dann das Kinn hob, wie um zu fragen, ob das Symbol zu Leandros gehörte, nickte dieser. Später versuchte Orestes ein paarmal, Leandros’ Blick abzufangen, aber Leandros schenkte ihm keine Beachtung mehr.
Den Wärtern schien es Freude zu bereiten, sich Orestes’ Tafel anzusehen, sich gegenseitig die Striche zu zeigen und Kommentare dazu abzugeben, aber während der ersten paar Wochen gingen sie anschließend immer zum Nächsten weiter. Erst in der vierten Woche wurde er aufgefordert vorzutreten.
Nachdem er davon ausgegangen war, dass man ihn nicht anrühren würde, da er geglaubt hatte, dort einen anderen Status zu haben als die anderen, stand er auf einmal neben dem zitternden Mitros. Er hatte sich nicht einmal überlegt, wie er reagieren würde, sollte er zur Bestrafung herausgerufen werden. Als er grob durch die Tür des Speiseraums gestoßen wurde, sah er, dass der Wärter einen Stock in der Hand hielt.
»Wenn du mich anrührst«, sagte er, »auch nur anrührst, wird mein Vater davon erfahren.«
»Dein Vater?«, fragte der Wärter.
»Mein Vater wird es in Erfahrung bringen.«
»Ist dein Vater der mit der durchgeschnittenen Kehle?«, fragte der Wärter.
Orestes hielt sich einen Augenblick lang zurück und ließ den spöttischen Ausdruck im Gesicht des Wärters auf sich wirken. Dann sah er sich im Raum um. Wäre ein Messer greifbar gewesen, wäre er damit auf den Wärter losgegangen, aber das Einzige, was er sah, war ein Stuhl am kleineren Tisch, der praktisch schon auseinanderfiel, weswegen es nicht schwer war, ein Bein loszubrechen und damit bewaffnet dem Wärter entgegenzutreten.
»Los, fass mich jetzt an!«, schrie er und holte mit dem Stuhlbein aus.
Der Wärter sah ihn an und lachte.
In diesem Augenblick gelang es einem der Wärter, der sich unbemerkt von hinten an Orestes herangeschlichen hatte, ihn zu überwältigen. Dann hielt er Orestes’ Arme hinter seinem Rücken fest, während der andere Wärter anfing, ihn mit ganzer Kraft mit seinem Handrücken zu ohrfeigen. Als seine Arme losgelassen wurden und er zu Boden fiel, bearbeiteten ihn beide Wärter mit Fußtritten, bis derjenige, der ihn in den Speiseraum hinuntergeführt hatte, ihm ins Ohr flüsterte: »Jetzt nützt dir dein Vater nichts mehr, habe ich recht? Wir werden nichts mehr davon hören, richtig?«
Sie ließen ihn da liegen. Später schleppte er sich zum Schlafsaal zurück und spürte, als er an den anderen vorbei zu seinem Bett humpelte, die Intensität ihrer wortlosen Aufmerksamkeit. Die nächsten zwei Tage ging er nicht in den Speiseraum, außer um Wasser zu holen, und blieb ansonsten im Bett, ohne schlafen zu können, und versuchte, sich zusammenzureimen, was seinem Vater zugestoßen sein mochte.
Da kam ihm ein Bild von seiner Mutter und Aigisthos in den Sinn. Er war sich nicht sicher, wann genau, aber es musste am Morgen gewesen sein, an einem Morgen, an dem er früher als gewöhnlich gekommen war, und seine Amme hatte ihn von der offenen Tür zurückgezogen, aber nicht bevor er einen kurzen Blick auf seine Mutter und Aigisthos erhascht hatte, und sie waren nackt gewesen und hatten Laute wie Tiere von sich gegeben. Das Bild blieb jetzt haften, es festigte sich in seinem Bewusstsein ebenso sehr wie das Bild des Gesichts seines Vaters, das bei seiner Heimkehr geleuchtet hatte, und die Erinnerung an die Stimme seines Vaters und an den allgemeinen Jubel, und an den Geruch nach Pferden und Männerschweiß und an das Glücksgefühl darüber, dass sein Vater wieder zu Haus war.
Als er sich die Woche darauf im Bad Leandros gegenüber sah, rückte er von ihm ab und begann, zusammen mit einem anderen Jungen das Wasser aufzuwühlen, damit Leandros und der vierte Badende ungehört flüstern könnten. Leandros aber zog ihn zum dunklen Ende des Beckens und überließ es den zwei anderen, ihnen Deckung zu geben.
»Ich will fliehen«, flüsterte er. »Und ich muss Mitros helfen, gleichfalls zu fliehen, bevor sie ihn totschlagen. Ich kann nicht allein mit ihm fliehen. Ich will, dass du derjenige bist, der mir dabei hilft.«
»Warum zeichnest du die ganze Zeit Striche auf meine Tafel?«, fragte Orestes.
»Manche Jungen hassen dich wegen deiner Familie. Sie haben mich gebeten, das zu machen.«
»Warum hassen sie mich?«
»Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht sicher. Außerdem wollte ich sehen, was du tun würdest, wenn sie dich zur Bestrafung holten. Du warst mutig. Ich hatte mir schon gedacht, dass du keine Angst haben würdest.«
»Wie können wir entkommen?«
»In irgendeiner Nacht werde ich dich wecken. Sei du bereit. Es wird damit anfangen, dass Mitros hustet. Verrate es niemandem und hör auf, mich die ganze Zeit anzusehen.«
»Ich sehe dich gar nicht an.«
»Tust du doch, also hör damit auf. Du siehst dich zu oft um. Fang endlich an, dich so wie alle anderen zu verhalten. Pass dich an.«
»Wann werden wir fliehen?«
»Wir müssen aufhören zu reden. Geh jetzt.«
An den folgenden Tagen zog Leandros weiter Striche auf seine Tafel, aber nicht mehr allzu viele. Er versuchte, Leandros’ Rat zu befolgen und ihn nicht mehr anzusehen; er hielt den Kopf gesenkt, um jedem fremden Blick zu entgehen. Aber es war mühsam, und er fühlte sich dadurch allein und fürchtete sich. Er fing an, sich wegen der Flucht zu sorgen — wohin sie fliehen würden, was für Pläne Leandros haben mochte und was mit ihnen wohl geschehen würde, sollte man sie fassen. Wenn er in der Nacht oder am Morgen aufwachte, sagte er sich, dass es vielleicht das Beste wäre, dazubleiben und zu hoffen, irgendwann befreit zu werden. Er fragte sich, ob es wohl einen ungefährlichen Weg gab, Leandros wissen zu lassen, dass er doch nicht mit ihm und Mitros weglaufen wollte, aber außer im Bad sprach niemand je ein Wort, und als er das nächste Mal ins Bad kam, war Leandros nicht da.
Eines Nachts, da Mitros’ Husten schlimmer war als sonst, kam Leandros und tippte Orestes auf die Schulter. Als er die Augen öffnete, konnte er Leandros’ Gestalt gerade eben ausmachen. Als Mitros sein krächzendes Geräusch wieder hören ließ, flüsterte Leandros ihm zu: »Zieh dich an und folg mir zur Tür.« Er versuchte, darauf zu antworten, aber Leandros presste ihm die Hand auf den Mund, um ihn am Sprechen zu hindern. Orestes befiel der verzweifelte Wunsch, wieder einzuschlafen, da er wusste, dass der kommende Tag, wenn sie nicht flohen, zwar hart werden, aber die Ängste, die er auszustehen haben würde, zumindest vertraut und vorhersehbar wären. Er wartete, nervös und beklommen, bis Leandros ihn aus dem Bett zerrte und neben ihm stehen blieb, während er sich anzog.
Sie gingen zur Tür des Schlafsaals und warteten dort, während Mitros’ Husten lauter wurde, noch durchdringender und besorgniserregender als gewöhnlich. Als sie hörten, dass sich die Tür öffnete, duckten sich Leandros und Orestes beiseite. Der Wärter trat in den Schlafsaal. Dann zog Leandros Orestes hinaus auf den Korridor, wo sie die Dinge, die neben der Pritsche des Wärters lagen, durchsuchten. Als Leandros ein Messer fand, drückte er es Orestes in die Hand. Er selbst ergriff ein flaches Stück Holz. Und dann warteten sie, während der Wärter Mitros eine Hand auf den Mund legte und ihm dann irgendwie wehzutun schien, sodass Mitros erstickt aufheulte, weswegen wiederum andere im Schlafsaal aufwachten und schrien.
Orestes hörte den Wärter drohende Laute ausstoßen; er vernahm seine Schritte, als er sich der Tür näherte. Er hielt den Atem an. Er hatte keine Ahnung, wie der genaue Plan lautete, nahm aber an, dass er versuchen sollte, den Wärter zu überfallen und zu erstechen, bevor er um Hilfe schreien konnte.
Sie ließen den Wärter die Tür schließen. Als er sich hinlegte und gähnte und wieder einschlafen zu wollen schien, schlich sich Orestes näher, fasste das Messer fester und stach dem Mann mit all der Kraft, die er aufbieten konnte, in den Hals, während Leandros das Stück Holz mit großer Wucht auf dessen Kopf schmetterte. Als der Wärter aufbrüllte, packte ihn Orestes bei den Haaren und stieß ihm das Messer noch einmal fest in den Hals, zog es dann wieder heraus und stach dem Mann mit all seiner Kraft in die Brust, bis die Klinge unverrückbar im Knochen festsaß. Leandros schlug dem Wärter mit dem Holz ins Gesicht. Und dann hielten sie beide inne. Orestes horchte, während Leandros ihn an der Schulter festhielt. Außer gedämpftem Husten aus dem Schlafsaal war kein Geräusch zu hören. Jetzt drückte Leandros Orestes mit beiden Händen gegen die Wand, damit er dort stehen blieb, während er selbst in den Schlafsaal zurückging.
Während er wartete, gelang es Orestes, im trüben Licht, das aus dem Treppenschacht drang, ein paar Umrisse in diesem engen Raum auszumachen. Er blickte zur Tür nach draußen und fragte sich, wo der Schlüssel sein mochte. Er durchsuchte gerade die Habseligkeiten des Wärters danach, als Leandros und Mitros herauskamen. Leandros fand den Schlüssel auf einem Sims, schloss rasch die Tür auf und flüsterte Orestes zu, er sollte ihm schnell folgen.
Sobald sie draußen waren, verschloss Leandros die Tür erneut und führte sie beide weg hinaus in das Mondlicht, das den Durchgang zwischen den Felsen und dann die Stufen und schließlich, als sie oben ins Freie traten, die weite Aussicht erhellte. Sie blieben stehen und horchten, aber kein Geräusch deutete darauf hin, dass ihnen jemand folgte.
»Wir gehen in dieselbe Richtung wie der Wind«, sagte Leandros.
Als Mitros wieder zu husten begann, stützte Leandros ihn und legte ihm eine Hand auf die Brust und die andere auf den Rücken. Mitros krümmte sich und begann, sich zu übergeben.
»Wenn wir erst von hier weg sind, wird’s dir besser gehen«, sagte Leandros.
»Nein, wird es nicht«, flüsterte Mitros. »Ihr solltet mich hierlassen. Ich kann bestimmt nicht so schnell gehen wie ihr.«
»Wir werden dich tragen«, sagte Leandros. »Der einzige Grund, warum wir geflohen sind, bist du, wir können dich also unmöglich zurücklassen.«
Sie machten sich an den Abstieg in die Ebene, wobei Orestes unentwegt zurückschaute, da er wohl wusste, dass bei dieser Helligkeit jeder sie von den Gipfeln aus hätte sehen und verfolgen können. Da Mitros nicht imstande sein würde zu rennen, fragte er sich, ob es nicht klüger gewesen wäre, sich ein Versteck zu suchen, wo sie ein paar Tage lang bleiben könnten, aber Leandros drängte mit einer so kalten Bestimmtheit und Entschlossenheit zum Weitermarsch, dass Orestes wusste, er würde keine Planänderung dulden. Also folgten Orestes und Mitros ihm nach, Mitros mit hängendem Kopf, wie jemand, der längst schon besiegt worden war. Als die Sonne aufging, erkannte Orestes, dass sie sich auf den Punkt zubewegten, an dem sie zu gegebener Zeit untergehen würde. Er hatte angenommen, Leandros und Mitros würden beide sofort zu ihren Familien zurückkehren wollen, aber sie folgten nicht dem Weg, der seiner Schätzung nach zurück nach Haus geführt hätte.
Er wartete, bis es Nacht geworden war und Mitros schlief, ehe er Leandros fragte, wie sein Plan aussah.
»Wir können nicht zurück«, sagte Leandros. »Niemand von uns. Wir würden nur wieder entführt werden, oder ich zumindest, und Mitros ebenfalls.«
»Ist meine Mutter noch am Leben?«, fragte Orestes.
Leandros zögerte kurz und streckte dann die Hand aus und berührte seine Schulter.
»Ja.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe die Wärter reden hören.«
»Und Elektra?«
»Auch. Sie ist ebenfalls am Leben.«
»Aber mein Vater ist tot?«
»Ja.«
»Wie ist er gestorben?«
Leandros setzte mehrere Male zum Sprechen an. Schließlich verstummte er und sah nicht wieder auf.
»Weißt du, wie er gestorben ist?«, fragte Orestes.
Leandros zögerte wieder und veränderte seine Haltung.
»Nein«, flüsterte er, doch weiterhin ohne Orestes anzusehen.
»Aber du bist sicher, dass meine Mutter lebt?«
»Ja.«
»Warum hat sie keine Männer auf die Suche nach mir geschickt?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht hat sie das ja.«
»Ist Aigisthos am Leben?«
»Aigisthos?« Leandros schien plötzlich aufzumerken. Er sah Orestes offen an, als wunderte er sich darüber, dass er überhaupt eine solche Frage stellte.
»Ja, er ist am Leben«, sagte Leandros endlich mit leiser Stimme. »Er ist am Leben.«
Noch einmal, wie schon bei dem Wächter, hatte Orestes das Gefühl, dass eine einzige richtige Frage genügt hätte, um das, was er wissen wollte, herauszubekommen. Aber er ahnte, dass eine direkte Frage nicht funktionieren würde. Ihm fiel nichts ein, was er stattdessen hätte sagen können.
»Hat Aigisthos meinen Vater getötet?«, fragte er unvermittelt und bedauerte die Frage fast im selben Moment.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Leandros schnell.
Orestes seufzte.
Am Morgen sprach Leandros mit ihnen darüber, wie sie weiter vorgehen sollten.
»Ich weiß nur eins: Wir dürfen niemand mehr töten. Egal, was kommt. Das ist die erste Regel. Wenn wir jemanden töten, werden die Leute Jagd auf uns machen. Was wir brauchen, ist ein Ort, an dem wir bleiben können. Selbst wenn wir angegriffen werden sollten, dürfen wir nicht töten.«
Als er Mitros ansah, der beifällig nickte, hätte Orestes am liebsten gesagt, dass Mitros gar nicht die Kraft zum Töten haben würde und dass sie ohnehin keine Waffen hatten, da das Messer in der Brust des Wärters stecken geblieben war.
»Wir müssen immer Steine bei uns haben, mit denen wir auf Leute werfen können, sie womöglich verletzen, sie dazu bewegen, uns in Ruhe zu lassen. Und wir müssen uns Essen und Wasser beschaffen, indem wir Mitros zu einem Haus schicken, damit er darum bittet. Unbewaffnet. Nur bittet. Niemand wird sich durch ihn bedroht fühlen. Wir müssen uns jedes Haus genau ansehen. Wenn wir den Eindruck haben, dass sie uns feindlich gesinnt sind, müssen wir weiterziehen.«
»Die Brunnen könnten vergiftet sein«, sagte Orestes.
Leandros nickte zerstreut.
»Wir können den Leuten anbieten, für sie zu arbeiten«, sagte er, »für Kost und Logis, aber wir dürfen auf keinen Fall hier in der Gegend bleiben. Andernfalls wird man uns finden. Wir müssen schneller als sie marschieren. Vielleicht kommt Mitros ja wieder etwas zu Kräften. Wenn nicht, dann müssen eben wir beide kräftiger werden, damit wir ihn tragen können, oder ihn zumindest einen Teil des Weges stützen. Wir werden jeden Tag gleich nach dem Aufwachen losziehen und marschieren, bis es zu dunkel dafür wird. Andernfalls werden sie uns fangen.«
Der Ton seiner Stimme erinnerte Orestes an seinen Vater im Lager im Kreis der anderen Männer, wenn er sich gewünscht hatte, dass sein Vater mit ihm spielte oder ihn auf den Schultern trug, er aber zu beschäftigt gewesen war. Er fröstelte bei dem Gedanken, dass er im Schlafsaal mit den anderen sicherer, und beinah zufriedener, gewesen wäre. Er hätte dann mehr Zeit gehabt nachzudenken, Erinnerungsbilder heraufzubeschwören: Wie er mit seinem Vater focht, oder wie er morgens ins Zimmer seiner Mutter kam und sie ihn bereits erwartete, oder wie er zwischen Elektra und Iphigeneia saß, während sich die beiden unterhielten, oder wie er sich unbefangen zwischen den Dienern und den Wächtern bewegte. Als sie eine Quelle erreichten, fragte sich Orestes, ob er derjenige sein sollte, der das Wasser auf seine Bekömmlichkeit hin überprüfte. Sollte es vergiftet sein, wollte er nicht dabeistehen und zusehen müssen, wie Mitros sich übergab und keine Luft mehr bekam und langsam erstickte, und Leandros wirkte so kraftvoll und stark, wie er ihnen voranging, dass die Vorstellung, er könnte von vergiftetem Wasser hingestreckt werden, undenkbar war. Vielleicht wäre es besser, wenn sie alle drei gleichzeitig tränken, dachte er, dann aber hatte er das Gefühl, dass es Leandros beeindrucken würde, wenn er sich als Freiwilliger anbot, dass es ein Zeichen seiner Tapferkeit wäre.
Nachdem sie Mitros am Straßenrand zurückgelassen hatten, näherten sie sich der Quelle, und Leandros schöpfte mit der hohlen Hand daraus Wasser und roch daran. Er stand auf und sah sich um.
»Lass es mich trinken«, sagte Orestes.
»Einer von uns wird es tun müssen«, sagte Leandros.
Er tauchte beide Hände wieder ins Wasser, schöpfte so viel, wie er konnte, heraus und trank es, und dann bedeutete er Orestes, seinem Beispiel zu folgen. Orestes stellte sich vor, wie sie sich alle drei, vergiftet, auf dem Boden wanden. Sobald er aber trank, hatte er das Gefühl, dass das Wasser gut war. Sie warteten eine Zeitlang und schöpften dabei immer wieder Wasser und tranken aus den hohlen Händen, bevor Orestes zu Mitros ging und ihm sagte, dass er das Wasser für sauber hielt.
Später an demselben Tag begegneten sie einem Mann mit einer Herde Ziegen.
»Achtet darauf, dass er unsere Hände sehen kann«, flüsterte Leandros. Als er merkte, dass der Mann sich furchtsam von ihnen entfernt hatte, befahl Leandros Orestes und Mitros, dort zu warten. Er würde den Mann ansprechen, sagte er. Sie sahen ihm zu, wie er langsam, mit schwingenden Armen auf den Mann zuging und den Ziegen im Vorbeigehen sanft über die Köpfe strich.
»Alle vertrauen ihm«, sagte Mitros. »Als sie uns gerade entführt hatten und sie mich am Straßenrand zurücklassen wollten, weil ich krank war, hat er sie davon abgebracht. Die Bewacher haben auf ihn gehört.«
»Kanntest du ihn schon, bevor ihr entführt wurdet?«
»Ja, sein Großvater war regelmäßig im Haus meines Großvaters zu Besuch. Sein Großvater nahm ihn überallhin mit. Sie erlaubten ihm zuzuhören, wenn die Männer unter sich redeten, die älteren Männer. Sie behandelten ihn wie einen von ihnen.«
»Ich erinnere mich an ihn«, sagte Orestes. »Als ich klein war, haben wir miteinander gespielt, aber an dich kann ich mich nicht erinnern.«
»Ich war zu krank zum Spielen. Ich musste immer zu Hause bleiben. Aber deinen Namen hatte ich gehört. Ich kannte deinen Namen.«
Sie sahen, dass Leandros und der Mann mit den Ziegen sich angeregt unterhielten. Orestes hätte sich gern gesetzt, hielt es aber für besser, wenn sie beide stehen blieben, sodass sie gut zu sehen waren.
»Glaubst du, wir werden verfolgt?«, fragte er Mitros.
»Meine Familie würde für mich Geld bezahlen, und Leandros’ Familie würde sogar alles geben, was sie besitzt. Die Entführer wissen das bestimmt. Sie hatten bestimmt das Gefühl, dass ihnen jemand ein Vermögen gestohlen hat, als wir geflohen sind. Jetzt können sie uns nicht mehr zurückverkaufen.«
»Woher weißt du, dass sie die Absicht hatten, dich zurückzuverkaufen?«, fragte Orestes.
»Sonst hätten sie uns getötet«, sagte Mitros.
»Warum sind wir dann nicht dageblieben und haben abgewartet?«
»Leandros glaubte nicht, dass ich noch lange durchhalten würde, und er machte sich auch Sorgen, man könnte uns alle töten, wenn die Wärter einmal glauben sollten, dass unsere Familien Männer zu unserer Befreiung ausgeschickt hatten und sie ihnen allmählich zu nahe kamen.«
»Warum haben sie keine Männer zu unserer Befreiung ausgeschickt?«
»Weil jetzt Aigisthos das Sagen hat. Meint jedenfalls Leandros. Er hat es von einem der Wärter erfahren.«
»Worüber hat er das Sagen?«
»Über alles.«
»Hat er die Entführungen angeordnet?«
Mitros zögerte einen Augenblick lang und warf einen Blick hinüber zu Leandros und dem Mann. Er schien so zu tun, als habe er die Frage nicht gehört. Orestes beschloss, sie im Flüsterton zu wiederholen und zu sehen, was dann passieren würde.
»Hat er die Entführungen angeordnet?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Mitros zurück. »Vielleicht. Frag Leandros.«
»Leandros hat gesagt, dass manche der Jungen mich wegen meiner Familie hassen.«
Mitros nickte, gab aber keinerlei Kommentar ab.
Sie sahen, dass Leandros bei den Ziegen blieb, während der Mann auf sie zukam.
»Seid ihr bereit zu arbeiten, ihr beiden?«, fragte der Mann.
Sie nickten beide, und Orestes bemühte sich, einen eifrigen Eindruck zu machen.
»Ich habe Ställe, die ausgemistet werden müssen«, sagte der Mann. Er musterte Orestes eingehend, dann auch Mitros.
»Zum Lohn bekommt ihr Essen und Obdach, und wenn die Arbeit erledigt ist, geht ihr.« Orestes nickte.
»Werdet ihr verfolgt?«, fragte der Mann.
Orestes begriff, dass er nur eine Sekunde Zeit hatte, um sich zu entscheiden, was er darauf antworten sollte. Er wollte nichts sagen, womit er dem widersprochen hätte, was Leandros möglicherweise gesagt hatte.
»Mitros geht es nicht gut«, sagte er leise. »Deswegen werden Leandros und ich vielleicht den größten Teil der Arbeit übernehmen.«
Der Mann machte die Augen schmal und warf einen Blick auf Leandros.
»Wir werden euch gut verstecken, wenn jemand kommen sollte«, sagte er.
Sie folgten dem Mann und seiner Herde, bis sie bei Sonnenuntergang ein kleines Gehöft in der Nähe einiger Bäume erreichten. Leandros war dem Mann nicht von der Seite gewichen und hatte die ganze Zeit mit ihm gesprochen, während Orestes und Mitros hintendrein gingen. Orestes fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie etwas zu essen — wenn auch nur ein Stück Brot — bekämen, oder ob von ihnen erwartet wurde, dass sie zuerst etwas arbeiteten, oder ob sie würden warten müssen, bis der Mann selbst essen wollte, und dann die Mahlzeit mit ihm teilen.
Bereits an der Tür, als sie näher kamen, erweckte die Ehefrau des Mannes den Eindruck, als ob ihre Anwesenheit sie zutiefst beunruhigte. Sie ging ins Haus, fort von ihnen, dicht gefolgt von ihrem Ehemann. Als der Mann wieder herauskam, befahl er drei großen Hunden und einer Reihe kleinerer, sie einzukreisen. Der Mann führte die Ziegen in einen Stall und schien es nicht eilig zu haben zurückzukommen. Mitros streichelte einen der Hunde und fing an, mit ihm zu spielen, aber die übrigen Hunde waren weniger freundlich und schnappten nach ihren Waden. Es wäre einfach gewesen, erkannte Orestes, Leandros und ihn und Mitros hier, von den Hunden bewacht, festzuhalten, bis die Männer, die sie verfolgten, einträfen. Er versuchte herauszufinden, ob der Mann erraten haben konnte, dass sie bares Geld wert waren.
»Was hast du ihm über uns erzählt?«, fragte Orestes Leandros.
»Ich habe ihm die Wahrheit gesagt«, sagte Leandros. »Etwas anderes wäre unglaubwürdig gewesen. Er hat ja das Blut an meinen Kleidern gesehen. Ich habe ihm erzählt, wir wären in ein Handgemenge geraten. Aber dass wir einen Wärter getötet haben, habe ich ihm nicht erzählt, und ich habe ihm auch nicht erzählt, wie viel Geld unsere Familien für uns bezahlen würden. Er weiß nicht, wer wir sind.«
»Er kann uns trotzdem verkaufen«, sagte Mitros. »Selbst wenn er glaubt, dass er nicht viel bekommen würde, könnte es für ihn immer noch lohnender sein, uns zu verkaufen, als uns zu beschützen.«
»Wenn wir nichts zu essen bekommen, verhungern wir«, sagte Leandros. »Und es gibt meilenweit kein anderes Haus. Er sagte, bis zum nächsten Haus wäre es mehr als ein Tagesmarsch. Und danach kommt das Meer. Hier ist weit und breit nichts. Möglich, dass wir die falsche Richtung eingeschlagen haben.«
Er war besorgt.
»Seine Frau kann uns nicht leiden«, sagte Mitros.
Als der Mann wieder auftauchte, rief er den Hunden etwas zu, worauf sie die Jungen angriffslustiger umstellten, einer von ihnen knurrte dabei. Als Mitros versuchte, den Hund, mit dem er sich vorher gut verstanden hatte, zu streicheln, wandte sich dieser ab und setzte sich schwanzwedelnd in der Nähe des Hauseingangs nieder. Der Mann ging ins Haus und schloss die Tür.
Dann warteten sie, bewegungslos vor Angst, bis der Tag zur Neige ging. In der letzten halben Stunde Licht beobachteten sie die Mehl- und Rauchschwalben, die wild durch die Luft jagten und mit ihrem Geschrei fast jedes andere Geräusch übertönten.
Die Hunde schienen mit der Zeit nur noch wachsamer zu werden. Orestes verspürte zwar das Bedürfnis, sich zu erleichtern, wusste aber, dass die Hunde selbst auf die kleinste Veränderung reagiert hätten. Als es dunkel geworden war, sah er, wie nach und nach die Sterne am Himmel erschienen, aber der Mond war noch nicht aufgegangen.
»Tut nur, was ich euch sage«, flüsterte Leandros. »Ihr behaltet mich im Auge. Einverstanden?«
Orestes drückte zum Zeichen seiner Zustimmung Leandros’ Hand. Während es ringsum ganz still geworden war, begann Mitros zu husten, was die Hunde veranlasste, wieder lauter zu bellen. Orestes und Leandros hielten ihn fest, damit er nicht vor Schmerzen vornüberklappte.
»Rühr dich nur nicht«, sagte Leandros. »An das Geräusch werden sich die Hunde schon gewöhnen.«
Als der Mond aufging, trat der Mann aus dem Haus. Er rief den Hunden ein paar Worte zu, worauf sie sich beruhigten.
»Ihr könnt jetzt weiterlaufen«, sagte er. »Alle drei. Wir haben uns überlegt, dass wir euch hier doch nicht haben wollen. Es ist zu gefährlich.«
»Wir haben nichts zu essen«, sagte Leandros.
»Die Hunde werden euch anfallen, wenn ihr nicht geht«, sagte der Mann. »Und wenn ihr euch je wieder blicken lasst, gehen sie euch an die Kehle.«
»Nicht mal ein Stück Brot?«, fragte Leandros.
»Wir haben nichts.«
»Was wäre der beste Weg für uns?«
»Es gibt überhaupt keinen guten Weg, außer zurück in die Berge, von wo ihr gekommen seid. Ansonsten ist überall Meer.«
»Wem gehört das nächste Haus?«
»Das ist ebenfalls von Hunden bewacht. Und die werden nicht einmal bellen. Sie reißen euch in Stücke, sobald sie nur das Blut riechen.«
»Gibt es Inseln?«
»Es gibt keine Boote. Die Boote haben sie uns für ihren Krieg weggenommen.«
»Gibt es Trinkwasser?«
»Nein.«
»Keine Quelle, keinen Brunnen? Keinen Bach?«
»Nein.«
»Wer wohnt im nächsten Haus?«
»Das spielt keine Rolle. Es ist eine alte Frau, aber ihr werdet sie gar nicht zu sehen bekommen. Ihre Hunde sind die reinsten Wölfe. Ihr werdet nur ihre Hunde zu sehen bekommen.«
»Kannst du uns Wasser geben, bevor wir aufbrechen?«
»Nichts.«
Der Mann murmelte den Hunden leise etwas zu.
»Geht langsam, hintereinander«, sagte er mit lauterer Stimme zu den dreien. »Dreht euch nicht um.«
Orestes bemerkte, dass die Ehefrau des Mannes in der Tür erschienen war und jetzt mit dem Hund, den Mitros gestreichelt hatte, im Halbdunkel stand. Der Hund wedelte weiterhin mit dem Schwanz.
»Mein Freund hat Husten und —«, begann Leandros.
»Die Hunde werden euch eine Meile weit folgen«, unterbrach ihn der Mann. »Wenn ihr versucht umzukehren oder auch nur miteinander redet, greifen sie an. Wenn dein Freund anfängt zu husten, wissen sie nicht, was das ist, und sie fallen ihn an.«
»Ich kann nicht —«, begann Mitros.
»Konzentrier dich«, flüsterte Leandros ihm zu.
»Geht jetzt«, sagte der Mann, und dann rief er den Hunden irgendwelche Befehle zu, sodass die Hunde ihnen langsam folgten. Sie gingen weiter, bis die Hunde umkehrten, setzten auch dann ihren Weg fort und blickten nicht mehr zurück. Bald erreichten sie eine Stelle, die im Schutz einiger Sträucher lag. Sie setzten sich nieder. Mitros war der Erste, der einschlief. Leandros sagte, er würde wach bleiben, während Orestes schlief. Später würde er ihn wecken, sodass er dann Wache halten könnte.
Im Morgengrauen bemerkte Orestes die Seevögel, und da sie direkt über ihm und seinen schlafenden Gefährten kreisten, kam ihm ihr Geschrei lauter und bedenklicher vor. Jeder, der ihnen folgte, würde erkennen können, wo sie waren, genauso wie jeder, der vor ihnen war, wissen würde, dass sie sich näherten. Besonders schrill waren die Schreie der Möwen. Als er in den Himmel blickte, sah Orestes Habichte hoch über ihnen im blassen Morgenlicht schweben. Jetzt würde jeder im Umkreis von Meilen zweifelsfrei wissen, dass Eindringlinge in ihrer Gegend waren.
Als sie weitergingen, konnten sie das Salz des Meeres riechen, und ein paarmal, als sie über kleine Hügel stiegen, sah Orestes seine Bläue aufblitzen. Ihm war klar, dass sie sich immer weiter von Essbarem entfernten, und ebenso von Wasser, das sich zum Trinken geeignet hätte. Das Haus, von dem der Mann gesprochen hatte, das von Hunden bewachte Haus, war die letzte Gelegenheit, die sich ihnen bieten würde. Er nahm an, dass Leandros über einen Plan nachdachte, aber Leandros wirkte sogar noch niedergeschlagener als Mitros, und Orestes hatte Angst, ihn zu fragen, was er vorhatte.
Als sie, keuchend vor Durst, auf einem mit Steinen übersäten Feld Rast machten, legte sich Mitros mit geschlossenen Augen auf den Rücken. Leandros suchte nach Steinen oder kleineren Felsbrocken, die sich als Wurfgeschosse zu eignen schienen.
Langsam trug Leandros sie zu einem Haufen zusammen. Er zog sein Hemd aus und versuchte, daraus eine Trageschlinge zu knüpfen, die möglichst viele Steine fassen würde, prüfte dabei immer wieder das Gewicht und warf ein paar Steine wieder fort, als die Last ihm zu schwer erschien. Ohne Fragen zu stellen, folgte Orestes seinem Beispiel, da er in Leandros eine neue Munterkeit bemerkt hatte, einen Ausdruck in seinem Gesicht, der Entschlossenheit ausstrahlte und dazu noch etwas, das fast wie Zuversicht aussah.
Als sie Mitros weckten, öffnete er die Augen und stand auf und folgte ihnen. Sie rückten jetzt langsamer vor, horchten nach dem leisesten Geräusch, während Leandros sich aus einem verkrüppelten Baum einen Stock zurechtbrach und später noch einmal stehen blieb, um für Orestes und Mitros das Gleiche zu tun.
Sobald er anfing, von Essen und Wasser zu träumen, meinte Orestes, keinen Schritt weitergehen zu können. Als er versuchte, sich ihr Ziel vorzustellen, wurde daraus der Palast, wo seine Mutter ihn an der Tür erwartete, und Iphigeneia und Elektra im Haus.
Schaudernd fragte er sich, wo Elektra wohl war und ob sie ebenfalls entführt oder dazu ausersehen worden war, so getötet zu werden, wie Iphigeneia getötet worden war, inmitten von Geschrei und dem Blöken von Tieren. Einen Augenblick lang verspürte er den Drang, sich zu ducken, sodass keiner ihn sehen könnte, aber Leandros winkte ihn weiter.
Sie wanderten einige Stunden lang auf die untergehende Sonne zu. Orestes war vom Tragen der Steine ermüdet. Mitros fiel das Gehen immer schwerer. Da sie von der Last der Steine behindert wurden, konnten sie ihn nicht stützen. Leandros konnte nichts anderes tun, als mit sanfter, schmeichelnder Stimme auf ihn einzureden, obwohl auch er durch den steil ansteigenden Weg ganz außer Atem war.
Im ersten Teil des Tages waren hoch am Himmel über ihnen keine Vögel zu sehen gewesen, aber jetzt, da ihre Schatten länger wurden, kehrten die Seevögel zurück, flogen tiefer und tiefer und wirkten beinah wütend, als sie ihnen immer näher kamen.
Orestes und, hinter ihm stehend, Leandros betrachteten aufmerksam, was vor ihnen lag. Orestes suchte jeden Fingerbreit der Landschaft ab, aber er sah keinerlei Anzeichen von Besiedlung. Er fragte sich, ob der Mann sie vielleicht getäuscht hatte, als er ihnen erzählte, hier gebe es noch ein Haus. Als sie sich neben Mitros, der mit geschlossenen Augen flach ausgestreckt dalag, auf den Boden setzten, sah er Leandros an, dass er sich Sorgen machte, aber er hielt es für besser, ihn nicht zu fragen, worüber er nachdachte.
Leandros sprach Mitros sanft an und sagte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er ein Bett zum Schlafen und etwas zu essen und Wasser hätte. Er müsste nur noch dieses letzte Stück gehen. Orestes konnte jetzt auf zwei Seiten das Meer sehen; sie bewegten sich auf das Ende des Festlandes zu. Er wusste, wenn es hier kein Haus gab oder nicht wenigstens einen Brunnen oder eine Quelle, waren sie erledigt, und sie würden wieder umkehren müssen.
Vor ihnen wurde der Bewuchs dichter, was ihn vermuten ließ, dass es eine Wasserquelle gab. Und hinter den Sträuchern und den Kiefern konnte sich ohne Weiteres ein Haus verbergen. Als sie sich wieder in Bewegung setzten, schienen sich die Seevögel, die ihnen bis dahin gefolgt waren, zurückzuziehen, und es waren nur noch die Stimmen von Spatzen und anderen kleinen Vögeln zu hören. Dieses Geräusch wurde allerdings schon bald von Hundegebell übertönt. Leandros bedeutete den beiden anderen, sich sofort in die Deckung eines Strauchs auf der einen Seite des Weges zu begeben, während er sich hinter eine dünne Kiefer auf der anderen Seite in Stellung brachte. Als sie ihre Plätze eingenommen hatten, begann er zu pfeifen.
Sobald der erste Hund mordlustig den Pfad entlanggejagt kam, bewarf Leandros ihn mit kleineren und größeren Steinen, worauf das Tier abrupt stehen blieb und knurrte. Orestes versuchte, genau auf den Kopf des Hundes zu zielen, und schaffte es mit einem scharfkantigen Felsbrocken, das Tier seitwärts zu Fall zu bringen. Leandros trat vor und begann, mit einem Stock auf den Kopf des Hundes einzuschlagen, und holte dann von seinem Vorrat einen Stein, der schwer genug wäre, um den Kopf zu zerschmettern. Gerade als er sich über die Steine beugte, kam ein zweiter Hund den Pfad entlanggerannt. Sekunden später hatte er Leandros mit seinen Zähnen am Arm gepackt, und dieser schrie laut auf und wand sich vor Schmerzen. Orestes rief Mitros zu, er sollte einen schweren Stein von seinem Haufen holen, während er selbst den Stock packte und auf den Hund einzuschlagen begann.
Während Mitros den Hund mit Steinen bewarf, schlug Orestes fester und fester auf ihn ein. Als der Hund endlich mit blutiger Schnauze zusammenbrach, schnappte Leandros befreit nach Luft und griff sofort nach seinem Arm, um die Blutung zu stoppen. Alle drei blickten nach vorn, und Orestes war klar, dass sie, sollten mehrere Hunde auf einmal kommen, ihnen nicht würden standhalten können. Während Mitros Leandros stützte und nach der Wunde an seinem Arm sah, hörte Orestes Gebell. Er schaffte es gerade, mehrere Steinbrocken herbeizuholen, bevor ein großer schwarzer Hund, die Zähne gebleckt, auf sie zugesprungen kam. Mit verbissener Konzentration zielte er und schleuderte dem Hund einen Stein in das aufgerissene Maul. Halb erstickt, fiel der Hund unter Schmerzgeheul auf den Rücken.
Jetzt war nur noch ein Winseln zu hören. Noch immer am Leben, versuchte der erste Hund, obwohl sein Kopf aufgeschlagen war, wieder auf die Beine zu kommen. Orestes trat schnell auf ihn zu und schmetterte einen Felsbrocken auf den Rumpf des Tieres. Dann überquerte er den Weg und kniete sich neben Leandros, der einen riesigen blutigen Riss am Arm hatte.
»Hilf ihm, sich aufzusetzen«, sagte Orestes zu Mitros.
Langsam und unter großer Anstrengung und Schmerzen nahm Leandros eine sitzende Haltung ein. Als er die Augen weit öffnete und sich umsah, erkannte Orestes fast die alte Wachsamkeit in ihm wieder. Er stand auf, wobei er sich den rechten Arm mit der linken Hand hielt.
»Da könnten noch mehr Hunde sein«, sagte er, als wäre nichts Nennenswertes geschehen.
Sie saßen im Schatten, während das Licht allmählich schwand und der Vogelgesang lauter wurde. Orestes war so müde, dass er das Gefühl hatte, er hätte sich einfach ins weiche Gras zwischen den Bäumen hinlegen und gleich einschlafen können. Er vermutete, dass es Leandros und Mitros nicht anders erging.
Er döste schon halb, als er eine weibliche Stimme hörte. Er spähte zwischen den Zweigen hindurch und sah, wie sich eine Frau über einen der Hunde beugte und dessen Namen ausrief. Sie war alt und schien sehr gebrechlich. Als die Frau den anderen Hund sah, stieß sie einen spitzen Schrei aus, ging vom einen zum anderen hin und her, rief jeden beim Namen, nahm zuletzt den Kopf des einen auf den Schoß und wehklagte leise. Dann stand sie auf und schaute sich um; eine Sekunde lang war Orestes bewusst, dass sie nur genau hinzusehen bräuchte, um ihn auszumachen. Daran, wie sie die Augen zusammenkniff, erkannte er allerdings, dass ihr Augenlicht schwach war. Sie ging weg, zurück, von woher sie aufgetaucht war, weiterhin Worte und die Namen der Hunde rufend, wobei sie ihre Stimme hob, als versuchte sie, die Hunde vom Tode zu erwecken.
Sie warteten in der zunehmenden Dunkelheit. Orestes war davon überzeugt, dass die Frau, hätte sie weitere Hunde besessen, die toten nicht mit einer solchen Inbrunst beweint hätte. Trotzdem spitzte er die Ohren nach möglichem, und wenn auch noch so leisem Gebell. Er hörte andere Tierlaute, das Meckern von Ziegen, das Blöken und Gackern von Schafen und Hühnern, aber nichts, was auf einen Hund hingedeutet hätte. Als Mitros begann, sich zu übergeben, befiel auch Orestes der Drang dazu. Leandros ermahnte sie, leise zu sein. Danach lag Orestes erschöpft neben Mitros, der die Hand ausstreckte und die seine kurz drückte. Er wusste nicht, ob der Junge ihm damit zu verstehen geben wollte, wie erschöpft er war oder wie hungrig und durstig, oder wie sehr er sich fürchtete. Leandros saß abseits von ihnen, als ob er ihnen zürnte. Als der Mond erschien, stand er auf.
»Ich möchte, dass ihr beide hierbleibt und leise seid«, sagte er. »Ich werde mit ihr reden.«
Während sie auf Leandros’ Rückkehr warteten, hörte Orestes viele Geräusche, die wie Schritte klangen, als ob jemand näher käme. Überall im Gestrüpp, das sie umgab, begriff er, war Bewegung, die Geschäftigkeit kleiner Tiere. Er hörte auch ein weiteres Geräusch, das er zunächst nicht einordnen konnte. Es klang wie ein menschlicher Laut, wie von jemand, der ein- und ausatmete. Er horchte und bedeutete Mitros, gleichfalls auf dieses Geräusch zu achten, ein Geräusch, als ob jemand Größeres als sie friedlich schliefe, entspannt atmete, immer ein und aus. Einen kurzen Augenblick lang war er sich sicher, dass jemand in der Nähe war, jemand, der bald aufwachen und für sie zum Problem werden würde. Doch dann flüsterte Mitros ihm zu: »Das ist das Meer.« Plötzlich ergab es einen Sinn: Es waren die Wellen, die schwollen und auf das Land zurollten, sich brachen und dann, mit einem raschen gedämpften Luftholen, sich wieder zurückzogen. Er hatte nicht gewusst, dass dieses Geräusch so laut sein konnte. Als er bei seinem Vater im Feldlager war, hatte er das Meer gesehen, und er musste ganz in dessen Nähe geschlafen haben, aber er hatte es nie so vernommen wie jetzt. Er war sich sicher, dass dieses Atmen zuvor nicht zu hören gewesen war. Vielleicht, dachte er, hatte der Wind sich gedreht, oder es war ein Geräusch, das der Nacht vorbehalten war.
Während sie warteten, war es fast so, als schaukelten sie in einem Boot — so gleichmäßig war der Rhythmus des Wassers. Orestes glaubte, dass er, wenn er sich auf das Geräusch des Meeres konzentrierte und alles Übrige vergäße, zumindest nicht würde nachdenken müssen, aber wie die Zeit verging und Leandros nicht wiederkam, begann er doch, sich Sorgen zu machen — dass die Verantwortung für Mitros ihm zufallen könnte und er dann nicht wüsste, ob er den Versuch wagen sollte, sich dem Haus der Frau zu nähern, so wie Leandros es getan hatte, oder eher mit Mitros den Rückweg einschlagen, wobei sie dann den anderen Hunden oder auch den Wärtern, die ihnen gefolgt sein konnten, schutzlos ausgeliefert wären.
Als Leandros zurückkam, musste er ihre Namen rufen, da er sie nicht sofort ausmachen konnte. Die Tatsache, dass er fast schrie, verriet Orestes, dass er Vorsichtsmaßnahmen für unnötig hielt. Als sie seine Stimme erkannten, standen sie auf.
»Sie sagt, wir können bleiben«, sagte er. »Ich hab ihr versprochen, dass wir so lange bleiben, bis sie uns selbst wieder wegschickt. Sie hat zu essen, und es gibt einen Brunnen. Sie fürchtet sich vor uns, und sie weint wegen dem, was wir mit ihren Hunden gemacht haben.«
Als sie sich dem Haus näherten, stießen Fledermäuse haarscharf über sie herab, und Mitros bedeckte sich furchtsam den Kopf. Leandros schärfte ihnen ein, ihm langsam zu folgen und auf jeden Schritt zu achten, da das Haus dicht bei steilen Klippen stehe. Mitros hatte bald solche Angst vor den Fledermäusen, dass er sich, Schutz suchend, zwischen die zwei anderen schmiegen musste.
Die Frau an der Tür wirkte gigantisch, fast unheildrohend, inmitten der Schatten, die eine Öllampe warf. Sie trat beiseite, um sie hereinzulassen, und folgte ihnen dann hinein. Orestes sah sich im Raum um und verweilte mit gierigen Augen bei einem tönernen Wasserkrug und dem daneben stehenden Becher, aus dem Leandros, wie er vermutete, getrunken hatte, bevor er sie holen gekommen war. Da er und Leandros, weil sie ihre Hemden als Trageschlaufen gebraucht hatten, barbrüstig waren, fühlte er sich in der Enge des Zimmers seltsam unbehaglich. Ohne ihm oder Mitros Beachtung zu schenken, machte sich die Frau daran, die Wunde an Leandros’ Arm zu untersuchen, auf die sie zuvor schon einen weißen Brei aufgetragen hatte.
Orestes beäugte den Becher und fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn er einfach fragte, ob er trinken und seinen Trunk mit Mitros teilen durfte.
»Trink«, sagte Leandros. »Du brauchst nicht zu fragen. Es gibt einen Brunnen gleich draußen. Sie hat mir geschworen, dass er nicht vergiftet ist.«
Als Mitros fast im Laufschritt zum Wasser stürzte, ging ihm die alte Frau flink aus dem Weg und drückte sich an die Wand, um sie alle von da aus im Auge zu behalten.
»Im ersten Moment wollte ich die Hunde rufen, damit sie mich beschützten. Aber ich kann die Hunde nicht rufen«, flüsterte sie. »Ich habe keine Hunde mehr, die ich rufen könnte. Ich habe keinen, der mich beschützt.«
»Wir werden dich beschützen«, sagte Leandros.
»Ihr werdet gehen, sobald ihr satt seid, und ihr werdet anderen erzählen, dass ich hier schutzlos bin.«
»Wir werden nicht gehen«, sagte Leandros. »Du brauchst keine Angst vor uns zu haben. Wir werden besser als die Hunde sein.«
Nachdem Mitros einen Becher Wasser getrunken hatte, reichte er den Becher Orestes, der ihn füllte und austrank. Leandros schrie vor Schmerz, als die Frau den Brei vollständig von seinem Arm entfernte und ihn nach und nach durch eine dicke weiße Flüssigkeit ersetzte, die sie auf der Wunde verstrich.
»Es muss die ganze Zeit jemand Wache halten«, sagte Leandros. »Wenn sie uns immer noch folgen, werden sie hierherkommen. Der Bauer wird ihnen den Weg hierher beschreiben.«
»Und sie werden das Haus niederbrennen«, sagte die alte Frau. »Ganz bestimmt.«
»Wir lassen sie nicht in die Nähe des Hauses kommen«, sagte Leandros und stand auf, sodass sein Schatten an der Wand emporwuchs.
»Ich werde heute Nacht Wache halten«, sagte Orestes.
»Sobald das Essen fertig ist, bringen wir es dir nach draußen«, sagte Leandros.
»Wie lang wird es mit dem Essen dauern?«, fragte er.
»Hier ist Brot, das du gleich mitnehmen kannst«, sagte Leandros.
Als Orestes das Haus verließ, rief die alte Frau etwas Unverständliches. Dann wandte sie sich an Leandros, als wäre er der Einzige, der sie vielleicht verstehen würde.
»Er darf sich nicht zu weit entfernen. Es gibt Klippen. Nur die Tiere kennen die sicheren Wege. Er sollte eine der Ziegen mitnehmen und der Ziege folgen.«
»Sind das deine Ziegen?«, fragte Orestes.
»Ja, wem sollen sie sonst gehören?«
Die alte Frau verließ kurz den Raum und kehrte dann mit einem derben Kittel zurück, den sie Orestes reichte.
Leandros führte Orestes hinaus in die Dunkelheit und blieb eine Weile bei ihm, bis sie im Sternenlicht Umrisse ausmachen konnten. Er tätschelte eine der Ziegen, die die alte Frau herbeigerufen hatte.
»Wirst du es schaffen, wach zu bleiben?«, fragte er.
»Ja«, sagte Orestes. »Und ich kann sehen und werde vorsichtig sein.«
»Wenn du auch nur das leiseste ungewöhnliche Geräusch hörst, komm und weck mich. Sie hat mehr Ziegen, und weiter weg stehen Schafe auf der Weide. Vielleicht kannst du sie aus der Ferne hören. Und die Hühner werden anfangen zu gackern, sobald es hell wird. Und es könnte auch andere Geräusche geben, Vogelgesang. Aber wenn du meinst, Hundegebell zu hören, das zu nah klingt, oder ein menschliches Geräusch, dann weck mich. Wir können versuchen, uns zu verteidigen. Morgen können wir dieses Haus sichern, jedenfalls so weit es geht.«
»Wie lang werden wir hierbleiben?«
Leandros seufzte.
»Wir gehen nicht wieder weg.«
»Was?«
»Nicht bevor …« Er verstummte. »Nicht bevor sie gestorben ist oder uns selbst zum Gehen auffordert. Das habe ich ihr versprochen.«
»Aber vielleicht könnten wir ihr andere Hunde beschaffen.«
»Wir bleiben hier«, sagte Leandros. »Ans Weggehen dürfen wir nicht einmal denken.«
Nachdem Leandros ihn verlassen hatte, folgte Orestes langsam einer der Ziegen und versuchte dabei, anhand des Geräuschs der Wellen abzuschätzen, wo die Klippen lagen. Da ein leichter Wind wehte und das Laub der Bäume, die in recht großer Zahl um das Haus wuchsen, zum Rauschen brachte, versuchte er, sich vorzustellen, wie ein neues Geräusch, das Geräusch eines Eindringlings, wohl klingen würde. Er hoffte, dass Leandros ihm bald etwas zu essen bringen würde, etwas mehr als das Brot, das er jetzt aß.
Als das Essen endlich kam, verschlang er es heißhungrig, gierig nach mehr, voll Bedauern, nicht mit den anderen am Tisch zu sitzen und so sehen zu können, ob es denn mehr gab. Und dann war er allein, mit dem Geräusch des Meeres und dem rauschenden Laub und dem gelegentlichen Ruf einer Eule und nichts weiter, keinem weiteren Laut.
In der Stunde vor dem Morgengrauen döste er ein und wurde vom Licht wieder aufgeschreckt. Die Morgenröte musste auf Zehenspitzen gekommen sein, dachte er, denn sie hatte ihn nicht eher geweckt, als bis alles ringsum hell erleuchtet war und neue Geräusche die Luft füllten, Vogelgesang und das Krähen eines Hahns. Er setzte sich auf und horchte für den Fall, dass da noch etwas anderes wäre, aber es kam ihm nicht so vor. Er würde Leandros nichts davon sagen, dass er eingeschlafen war.
Während Mitros im Bett blieb oder der alten Frau nicht von der Seite wich, sammelten Orestes und Leandros über die nächsten zwei Tage hinweg Felsbrocken und kleinere Steine. Die Felsbrocken versuchten sie, so zu zerschlagen, dass sich jedes Bruchstück weit schleudern ließe. Immer wieder übten sie, mit größeren und kleineren Steinen ein bestimmtes Ziel zu treffen, bevor sie zwischen den Sträuchern zu beiden Seiten des schmalen Pfades, der zum Haus führte, Haufen aufschichteten.
Sie begannen auch, das Umland des Hauses zu erkunden, wobei Leandros auf die Obstbäume hinwies, die kürzlich beschnitten worden waren, und die Bruchsteinmauern zwischen den Feldern und die Tiere, die alle gut gepflegt aussahen. Er sah sich auch das Haus selbst und die Wirtschaftsgebäude und Vorräte an Dörrfleisch und Korn und Brennholz gründlich an.
»Das kann sie unmöglich alles allein gemacht haben«, sagte Leandros.
Bei Einbruch der Dunkelheit bot Mitros an, nach draußen zu gehen und zu wachen, während die anderen aßen. Später würde Leandros übernehmen und die ganze Nacht auf der höchsten Erhebung sitzen, zu der sie einen mit Steinen und Felsbrocken gesäumten Pfad angelegt hatten. Als die alte Frau ihnen das Essen auftischte, fragte er sie, ob sie schon immer allein gewesen sei.
»Nicht von mir wurde dieses Haus gefüllt«, sagte sie, »sondern von den anderen, die fortgegangen sind. Es sind ihre Stimmen, die ich höre und denen ich antworte, wenn ich kann. Aber zu kochen brauche ich für sie nicht mehr, deswegen ist der Speicher voll.«
»Aber wo sind sie?«, fragte Leandros.
»In alle Winde verstreut«, sagte sie.
»Wer?«, fragte Orestes. »Wer wohnte hier?«
»Meine zwei Söhne wurden für das Heer eingezogen, für den Krieg geraubt, und ihre Boote ebenfalls gestohlen.«
»Wann hat man sie mitgenommen?«, fragte Orestes.
»Vor einigen Monden. Sie sind alle weg und kommen nicht wieder. Sie ließen mir die Hunde, und jetzt sind auch die Hunde weg.«
»Wie viele lebten früher hier?«, fragte Leandros.
»Ihre Frauen sind mit den Kindern geflohen, einschließlich des Jungen mit dem steifen Bein, den ich am liebsten hatte«, sagte sie, ohne auf seine Frage einzugehen. »Du trägst seine Sachen.«
»Und warum bist du nicht auch gegangen?«, fragte Orestes.
»Keiner hat mich gefragt, ob ich mitkomme«, sagte sie. »Ein Wort von einem von ihnen hätte genügt, und ich wäre mitgegangen. Wenn man bei Nacht auf der Flucht ist, kann keiner eine alte Frau gebrauchen.«
Sie seufzte.
»Wir dachten, sie wollten bloß die Schafe und die Ziegen und die Hühner haben, die Männer, die kamen«, sagte sie. »Aber junge Männer und Boote waren alles, was sie wollten. Wenn wir das gewusst hätten, dann hätten wir die Männer verstecken können. Es hat keine Sekunde gedauert, und sie waren gefangen, und wir wussten, sie würden nicht wiederkommen.«
»Wo sind sie jetzt?«, fragte Orestes.
»Sie sind im Krieg.«
»Welchem Krieg?«
»Dem Krieg«, sagte sie. »Dem Krieg.«
»Und die anderen?«, fragte Leandros.
»Die anderen hatten Angst zu bleiben. Nur einer von ihnen, der Junge mit dem steifen Bein, hat zurückgeschaut, als sie aufbrachen.«
Dann verstummte sie, und sie aßen, ohne irgendetwas zu sagen. Als sie fertig waren, kam Mitros wieder herein. Die Alte lächelte ihm zu und zerzauste ihm scherzhaft, liebevoll die Haare, als sie ihm sein Essen auftischte. Orestes hatte den Eindruck, dass Mitros sich in seine eigene Welt geflüchtet hatte, ihn und Leandros so weit wie möglich mied und der alten Frau auf Schritt und Tritt folgte.
Am folgenden Morgen saßen Orestes und Leandros zusammen neben einem Haufen Steine und blickten schweigend in die Ferne, als sie einen Hund langsam, schwanzwedelnd näher kommen sahen. Als der Hund vorüberging, zogen sie sich, jeder mit einem Stein bewaffnet, in die Büsche zurück, und, gewiss, dass jemand sich näherte, machte sich Orestes zum Angriff bereit. Sie spähten und warteten, aber niemand ließ sich blicken. Der Hund schien allein gekommen zu sein. Schließlich ließ Orestes Leandros als Wachposten zurück und begab sich zum Haus, wo er den Hund mit den Pfoten auf dem Tisch stehen sah, während Mitros und die alte Frau ihm das Fell kraulten.
»Das ist der Hund von dem Haus. Ich hatte mich mit ihm angefreundet«, sagte Mitros.
»Von welchem Haus?«
»Dem Haus, wo die anderen Hunde uns eingekreist haben. Dieser Bursche hat nicht mitgemacht. Er hat nur mit dem Schwanz gewedelt. Er ist zutraulich.« Die alte Frau stellte dem Hund eine Schüssel Wasser nach draußen. Er schlürfte sie schnell leer und kam dann wieder herein, um in Mitros’ Nähe zu sein.
Als Orestes zurückkehrte und Leandros erzählte, was vorgefallen war, lächelte dieser.
»Jeder kann Mitros gut leiden. Abgesehen von den Wärtern. Die hatten was gegen ihn. Und diese anderen Hunde genauso. Aber die alte Frau mag ihn gern.«
Bevor er sich zur Ruhe legte, ermahnte Leandros Orestes, weiterhin aufzupassen für den Fall, dass der Bauer käme und nach seinem Hund suchte.
»Was mache ich, wenn er kommt?«
»Sag ihm, dass ein Stück weiter eine Falle aufgestellt ist, und wenn er sich dem Haus weiter nähert, schnappt sie um sein Bein zu.«
»Was mache ich, wenn er mir nicht glaubt?«
»Dann schrei und wirf mit Steinen. Ziel auf seine Beine und wirf mit aller Kraft. Mach ihm Angst.«
*
Langsam lebten sie sich im Haus der Alten ein. Sie brachte ihnen bei, sich um die Tiere zu kümmern, und unterwies sie darin, Getreide zu ernten und Gemüse anzubauen und die Obstbäume zu pflegen. Mitros blieb am liebsten bei ihr in der Küche und ging nur nach draußen, um Eier zu sammeln oder die Ziegen zu melken, und dann immer in Begleitung des Hundes. Orestes und Leandros wechselten sich bei den Nachtwachen ab, jeder immer drei Nächte hintereinander. Orestes wurde mit den Geräuschen der Nacht vertraut und erzog sich dazu, in der Stunde vor dem Morgengrauen, wenn seine Müdigkeit immer am größten war, nicht einzuschlafen.
Bisweilen stellte er sich vor, Leandros und Mitros wären seine Schwestern Iphigeneia und Elektra. In seinen Träumen machte er sich immer auf die Suche nach einer von beiden. Zudem stellte er sich vor, die alte Frau wäre seine Mutter. Er fragte sich, ob Leandros und Mitros die gleichen Gedanken hatten wie er und ob sie träumten, dieses Haus wäre ihr wirkliches Zuhause und die Leute, mit denen sie dieses Haus bewohnten, wären die Leute daheim.
Eines Morgens, als er zusammen mit Mitros in der Küche am Tisch saß, während Leandros im Gebüsch Wache hielt und die alte Frau nach den Hühnern sah, fing der Hund an, mit der Pfote zu scharren, und sah sich dabei erwartungsvoll im Zimmer um. Mitros lachte und tätschelte den Hund auf dem Kopf, bis das Scharren hektischer wurde. Orestes unterbrach seine Mahlzeit, um sich das Schauspiel anzusehen. Als die alte Frau hereinkam, waren die Jungen vom Hund so in Anspruch genommen, dass sie nicht einmal zu ihr aufschauten. Als sie sah, was vor sich ging, stieß sie einen Schrei aus und eilte dann zur Tür.
Orestes und Mitros folgten ihr, um herauszufinden, wo das Problem lag.
»Der Hund!«, sagte sie. »Es bedeutet, dass jemand kommt. Holt Leandros!«
Orestes hatte sie noch nie Leandros’ Namen aussprechen hören. Der einzige Name, den sie bis dahin gekannt zu haben schien, war der von Mitros. Er lief zu Leandros, der, als er ihn fand, neben einem Haufen Steine im Schatten saß. Als er ihm berichtet hatte, was vorgefallen war, befahl ihm Leandros, auf die andere Seite des Pfades zu gehen, dicht bei dem Steinhaufen zu bleiben und nichts zu unternehmen. Er sollte auf ein Zeichen Leandros’ warten, ehe er einen Stein warf.
Sie warteten, aber niemand kam. Orestes bedauerte, Leandros nicht gefragt zu haben, wann er zum Haus zurückgehen durfte. Er war die ganze Nacht auf den Beinen gewesen, und jetzt war er müde. Als er zu den Büschen auf der anderen Seite des Pfades hinüberspähte, war von Leandros nichts zu sehen. Er vermutete, dass er immer noch dort war, versteckt, aber wachsam. Als weitere Zeit verstrichen war, war er versucht, nach ihm zu rufen, aber dann sagte er sich, dass Leandros, wäre er der Ansicht gewesen, dass er gehen konnte, es ihm dann schon zugerufen hätte.
Er sah die zwei Männer nicht kommen. So wurde er vom Schrei überrascht, als der eine von beiden von einem Stein, den Leandros geschleudert hatte, am Kopf getroffen wurde. Da Orestes die ganze Zeit in jeder Hand einen Stein gehalten hatte, konnte er schnell handeln. Die zwei Männer, sah er, waren stehen geblieben. Einer von ihnen hielt sich den Kopf mit beiden Händen. Der andere konnte sich nicht erklären, woher der Stein gekommen sein mochte, und blickte in die Runde. Orestes erkannte die beiden als die Wächter, die ihn aus dem Palast verschleppt hatten.
Orestes trat einen Schritt zurück und zielte sorgfältig, kaltblütig, nachdem er beschlossen hatte, sich den bereits verletzten Mann vorzunehmen, und traf ihn mit dem einen Stein am Kopf und eine Sekunde später, mit dem zweiten, mitten ins Gesicht. Jetzt lief der andere Mann los und rannte, den zwei Steinen ausweichend, die Leandros ihm nachwarf, in Richtung des Hauses. Orestes nahm einen weiteren Stein, schleuderte ihn dem Flüchtenden nach und traf ihn mit Wucht an der Schulter, doch das hielt ihn nicht auf.
Leandros, der sein Hemd ausgezogen und es mit Steinen gefüllt hatte, sprang aus seinem Versteck hervor und setzte dem Mann nach. Da bemerkte Orestes, dass der Mann, der die Treffer abbekommen hatte, noch immer stand. Er zielte abermals mit zwei Steinen, einem größeren und einem kleineren, scharfkantigen, und traf beide Male. Der Mann brach zusammen. Dann zog Orestes gleichfalls sein Hemd aus, las ein paar Steine auf und lief Leandros den Weg entlang hinterher.
Als er ihn sichtete, stand Leandros allein da und hatte sein Bündel Steine abgesetzt. Er blickte gehetzt um sich und versuchte krampfhaft festzustellen, wohin der Flüchtige verschwunden war. Plötzlich sprang der Mann aus einem Gebüsch hervor und packte Leandros an der Kehle. Noch in einiger Entfernung von den beiden, zückte Orestes einen Stein, aber bevor er ihn schleudern konnte, war es dem Mann gelungen, Leandros zu Fall zu bringen. Er hielt etwas in der Hand — ein Messer, vermutete Orestes —, während er und Leandros auf dem Boden rangen.
Wie er näher kam, sah er, dass der Mann allmählich die Oberhand gewann, sich rittlings auf Leandros setzte und einen seiner Arme zu Boden drückte. Leandros seinerseits versuchte, die andere Hand des Mannes von sich abzuhalten, mit der dieser versuchte, ihm das Messer in den Hals zu bohren.
Orestes ließ die Steine fallen. Ihm war klar, dass er keinen Augenblick zögern durfte, oder das Überraschungsmoment wäre verspielt gewesen. Er schlich sich möglichst geräuschlos an, packte dann unvermittelt den Kopf des Mannes und drückte ihm mit aller Kraft die Daumen in die Augen. In diesen Sekunden kam es ihm so vor, als hätte er keinen eigenen Körper mehr, keinen Willen, nichts außer der Kraft der zwei Daumen. Er hielt den Atem an, bis er spürte, dass in den Augenhöhlen etwas nachgab, während der Mann einen Schrei ausstieß, das Messer fallen ließ und Leandros’ andere Hand freigab.
Mit einer einzigen Bewegung bäumte sich Leandros auf, packte das Messer und begann, auf Brust und Hals des Mannes einzustechen. Als er keinen Laut mehr von sich gab, legten sie ihn flach auf den Boden.
»Wir müssen uns noch um den anderen kümmern«, sagte Leandros. Am liebsten hätte Orestes ihn zurückgehalten, um ihm zu erklären, wer der Tote war — und wer dessen Kumpan, nämlich der freundlichere Wächter, der, der ihn weniger grob angefasst hatte. Aber Leandros war schon losgegangen, und er musste ihm folgen.
Der Mann hatte den Feldweg verlassen. Sie setzten ihre Schritte mit Bedacht für den Fall, dass er sich im Gebüsch versteckt hatte. Als sie die Lichtung erreichten, sahen sie ihn weiter unten, in der Ferne, wie er langsam hin und her wankte und sich dabei den Kopf hielt. Als er sich umdrehte und sie beide sah, versuchte er loszulaufen.
»Wart auf mich«, sagte Leandros und kehrte um, um ein paar Steine zu holen.
»Wir können ihn noch einholen«, sagte er, als er zurückkam. »Sag Bescheid, wenn du glaubst, dass du ihn treffen kannst.«
Nachdem sie ein paar Steine aufgesammelt hatten, jagten sie ihm, so schnell sie konnten, hinterher. Es war Orestes klar, dass der Mann nicht die Kraft haben würde, sie abzuschütteln, aber er befürchtete, dass er gleichfalls ein Messer hatte, wie sein Gefährte zuvor. In dem Fall bestand seine einzige Chance darin, einen von ihnen so nah an sich herankommen zu lassen, dass er es einsetzen konnte.
In der Hoffnung, so weit aufzuholen, dass er stehen bleiben und zielen könnte, bevor Leandros, der ihm voraus war, den Mann erreichte, beschleunigte Orestes noch einmal sein Tempo. Er spürte, dass ihm alles gelingen konnte, solange er nicht zauderte oder auch nur vorauszuplanen versuchte. Er würde treffsicher zielen, und er würde es schaffen, den richtigen Augenblick abzupassen, um mit dem Steinewerfen zu beginnen. Der Mann versuchte offenbar verzweifelt, seinen Vorsprung zu vergrößern, aber Orestes war sich bewusst, dass er plötzlich kehrtmachen und ihnen die Stirn bieten konnte.
Statt Leandros und dem Flüchtigen hangabwärts zu folgen, querte Orestes die Lichtung so, dass er auf erhöhtem Gelände blieb. Er achtete darauf, dass er keine Steine aus dem Hemd verlor, das er an die Brust gedrückt hielt. Als er bemerkte, dass der Mann sich abermals umsah, steigerte er noch einmal sein Tempo. Er überlegte offenbar, rechnete Orestes sich aus, wann er stehen bleiben und sich bereit machen sollte, Leandros — sollte dieser dumm genug sein, ihm zu nah zu kommen — mit dem Messer anzugreifen.
Jetzt war Orestes bereit. Er suchte einen passenden Stein aus, zielte und warf, aber der Mann lief nicht in einer geraden Linie, und so verfehlte ihn der Stein und verriet ihm zudem, wo sich sein Verfolger befand. Orestes hatte jetzt keine Wahl, als das Hemd voller Steine wieder aufzuheben und der flüchtenden Gestalt so schnell wie möglich nachzulaufen. Den Vorteil des abschüssigen Geländes würde er zwar dadurch verlieren, aber wenn er seine ganze Energie in seine Schnelligkeit steckte, dann, dachte er, würde er vielleicht nah genug herankommen, um einen weiteren Stein von der Seite werfen zu können, auch wenn der Winkel dann weniger günstig wäre.
Er blieb stehen und nahm einen weiteren Stein in die Hand. Er atmete ein und sammelte, wie zuvor für den Wurf auf den anderen Mann, all seine Kräfte. Und dann warf er. Das Geschoss traf den Mann an der Schulter. Rasch wählte Orestes einen weiteren Stein aus. Dieser zweite traf den Mann am Kopf und brachte ihn rücklings zu Fall.
Als Orestes Leandros einholte, sagte er kein Wort. Sie starrten beide auf die am Boden liegende Gestalt. Als sie näher kamen, konnten sie den Mann stöhnen und ächzen hören. Orestes ließ seine fünf, sechs verbliebenen Steine fallen, bückte sich und klaubte einen davon auf. Dann nahm er Anlauf und schlug seinem Opfer mit voller Wucht auf den Kopf.
Der Mann lag reglos da, aber seine Augen waren weit geöffnet. Als Orestes seinem verzweifelten Blick begegnete, schien ihn der Gefällte wiederzuerkennen und sagte etwas, was wie sein Name klang. Nach kurzem Zögern schleuderte Orestes einen weiteren Stein, der den Kopf des Mannes zertrümmerte.
Leandros durchsuchte die Kleidung des Mannes und fand zwei Messer. Orestes ging zurück und hob sein Hemd auf. Dann gesellte er sich wieder zu Leandros, und gemeinsam begannen sie, jeder einen Fuß in der Hand, den Toten in Richtung Haus zu ziehen, wobei der Kopf des Mannes bei jedem ihrer Schritte vom Boden abprallte. Da der Tote schwer war, legten sie mehrere Pausen ein. Sie schafften ihn bis zu seinem Gefährten, dessen Leiche schon Fliegen anlockte. Sie rollten die beiden nacheinander bis an den Rand der Klippe, und dann ließen sie sie über die Kante fallen.
»Ich hatte mir geschworen, dass wir nie wieder töten würden«, sagte Leandros.
»Sie hätten uns getötet. Es waren die zwei Männer, die mich entführten.«
»Jetzt werden sie nichts mehr anstellen. Aber ich habe meinen Schwur nicht gehalten.«
Während er und Leandros zum Haus zurückgingen, war Orestes versucht, von seiner Wanderung mit diesen zwei Männern zu erzählen, aber er begriff, dass — da weder Leandros noch Mitros je über die genauen Umstände ihrer eigenen Entführung gesprochen hatten — Leandros kein Interesse daran haben würde. Das würde er mit sich allein ausmachen müssen.
Mitros und die alte Frau saßen am Tisch. Als Orestes und Leandros hereinkamen, stand der Hund auf und streckte sich und gähnte.
»Er hat vor einer Weile aufgehört, auf dem Boden zu scharren«, sagte Mitros, »deswegen haben wir angenommen, dass, wer immer gekommen, auch wieder gegangen war.«
Orestes sah Leandros an, der ohne sein Hemd im Schatten stand.
»Ja, sie sind weg«, sagte Leandros.
»Und wir haben einen Mann schreien hören«, sagte die Alte. »Und ich habe zu Mitros gesagt, schreit der Mann noch einmal, gehen wir nachsehen, was los ist. Aber da nichts mehr zu hören war, sind wir dann doch hiergeblieben.«
Leandros nickte.
»Ich habe mein Hemd verloren«, sagte er.
»Ich habe noch Stoff übrig«, sagte die alte Frau. »Und ich kann dir ein neues machen. Vielleicht für jeden von euch eins. So habe ich etwas zu tun.«
Als Orestes Leandros ansah, schien er älter geworden zu sein. Seine Schultern waren breiter, und sein Gesicht war schmaler und magerer geworden. Er wirkte auch größer, wie er da, allein, im Schatten stand. Eine Sekunde lang war Orestes versucht, hinzugehen und Leandros zu berühren, die Hand an sein Gesicht oder an seinen Oberkörper zu legen, aber er rührte sich nicht von der Stelle.
Orestes war hungrig und müde, aber es kam ihm so vor, als ob er noch mehr tun müsste, als ob er tatsächlich gern wieder aufgesprungen wäre, wenn man ihm gesagt hätte, dass weitere Männer im Anmarsch waren.
Während Leandros sich mit entblößtem Oberkörper im kleinen Zimmer umherbewegte, konnte Orestes kein Auge von ihm wenden. Als ihre Blicke sich trafen, sah er, dass auch Leandros aufgewühlt war. Wenn die alte Frau gesagt hätte, dass eines der Schafe oder eine der Ziegen, oder selbst eines der Hühner getötet werden musste, hätte er sie mit dem scharfen Messer in der Hand begleitet. Er wäre bereit gewesen, ihr zu helfen. Und das Gleiche, spürte er, galt auch für Leandros.
Sie setzten sich an den Tisch und aßen das Essen, das die Frau zubereitet hatte, als wäre es für sie ein Abend wie jeder andere. Der Hund beobachtete die Szene von einer Ecke des Zimmers aus, wobei er wie gewohnt jedem Bissen, den sich Mitros in den Mund steckte, aufmerksam mit dem Blick folgte und jedes Mal näher kam, wenn er hustete.
Da sie jetzt wussten, dass der Hund sie vor jedem Eindringling warnen würde, brauchten weder Orestes noch Leandros weiter bei Nacht Wache halten. Also nahmen sie Leandros’ Vorschlag an, und Orestes teilte sich von da an ein Bett mit Mitros und, zwischen ihnen beiden, dem Hund. Leandros schlief im nächsten Zimmer, die alte Frau im hinteren Teil des Hauses.
Tagsüber trafen sie sich zu den Mahlzeiten, die von der alten Frau und Mitros zubereitet wurden. Orestes und Leandros kümmerten sich um die Tiere und die Äcker, das Gemüse und die Bäume und arbeiteten dabei häufig zusammen. Wenn sie alle vier beim Essen saßen, herrschte nie Schweigen. Sie konnten über das Wetter reden oder über einen Wechsel des Windes; sie konnten über eine neue Sorte Ziegenkäse diskutieren, den die alte Frau herstellte, oder über eines der Tiere, oder darüber, was mit einem bestimmten Baum geschehen war. Sie konnten Scherze darüber machen, wie faul Mitros war, oder wie schwierig es war, Orestes am Morgen aus dem Bett zu bekommen, oder wie groß Leandros geworden war. Sie warfen dem Hund Brot zu und lachten, wenn er es gierig verschlang. Aber die alte Frau sprach nie von ihrer Familie, die fortgegangen war, und die Jungen ihrerseits sprachen nie von zu Hause. Orestes fragte sich, ob Mitros der alten Frau vielleicht ihre Geschichte erzählt hatte, oder ob zumindest Teile dessen, was sich zugetragen hatte, zwischen ihnen zur Sprache gekommen waren.
An manchen Tagen wurde der Wind zum Sturm. Die alte Frau wusste immer im Voraus, wann es passieren würde. Dann warnte sie sie. Beginnen konnte es mit einem pfeifenden Geräusch in der Nacht, oder tagsüber damit, dass der Wind noch wärmer als gewöhnlich wurde, und dann konnte er an Heftigkeit zunehmen und zwei, drei Tage lang anhalten, bevor er sich wieder beruhigte. Wenn er am lautesten pfiff, musste Mitros ganz in der Nähe des Hundes bleiben, der nervös wurde und knurrte und sich zu verstecken versuchte. In den Nächten, in denen der Wind am heftigsten war, in denen keiner von ihnen schlafen konnte und sie sich beklommen in der Küche zusammensetzten, holte die alte Frau eine Flasche vergorenen Obstsaft hervor, schenkte sich einen Becher davon ein und gab den Jungen reichlich Obst und Wasser. Und dann erzählte sie ihnen eine Geschichte, mit dem Versprechen, dass sie sich bemühen würde, sie nicht vor Tagesanbruch enden zu lassen.
»Es war einmal ein Mädchen«, begann sie eines Nachts, »und es war als das schönste Mädchen bekannt, das man jemals gesehen hatte. Über ihre Geburt herrschten unterschiedliche Ansichten. Manche glaubten, dass ihr Vater einer der alten Götter war, der als Schwan verkleidet auf die Erde gekommen war. Aber ganz gleich, was sie über den Vater dachten — darin, wie die Mutter des Mädchens hieß, waren sich alle einig.«
Die alte Frau hielt inne, während der Wind weiter um das Haus jagte. Als der Hund sich tiefer in die Ecke drückte, setzte sich Mitros zu ihm auf den Fußboden.
»Wie hieß denn die Mutter?«, fragte Orestes. »War sie auch eine Gottheit?«
»Nein, sie war sterblich«, sagte die alte Frau und verstummte dann wieder. Sie sah aus, als versuchte sie, sich etwas einfallen zu lassen.
»Es war die Zeit der Götter«, sagte die alte Frau. »Der Schwan legte sich zu ihr, der Mutter, und manche sagen …«
»Was sagen sie?«, fragte Orestes.
»Sie sagen, dass sie vom Schwan zwei Kinder gebar und zwei weitere von einem sterblichen Vater. Ein Junge und ein Mädchen, und noch einmal ein Junge und ein Mädchen. Und das Mädchen, die Tochter des Schwans, war die Betörende. Die anderen …«
Wieder verstummte sie und seufzte.
»Die zwei Jungen sind mittlerweile tot«, fuhr sie flüsternd fort. »Sie sind tot, wie alle Männer aus jener Zeit. Sie starben, als sie ihre Schwester beschützten. So starben sie.«
»Warum mussten sie sie beschützen?«, fragte Leandros.
»Alle Prinzen und Könige wollten sie heiraten«, sagte die alte Frau. »Und es wurde vereinbart, dass jeder, der um ihre Hand anhielt, falls er abgewiesen wurde, versprechen musste, ihrem späteren Ehemann zu Hilfe zu eilen, wenn ihr je etwas zustoßen sollte. Und auf diese Weise begann der Krieg, der Krieg, der die Boote und die Männer raubte. Er begann wegen ihrer Schönheit.«
Die Frau sprach, während der Wind um das Haus heulte. Die drei Jungen saßen mit ihr die ganze Nacht beisammen, Orestes und Leandros, halb wach, halb dösend, auf ihren Stühlen, Mitros weiterhin beim Hund, den der Wind verängstigte.
*
Leandros und Orestes lernten zu pfeifen, sodass sie sich selbst über einige Entfernung hinweg verständigen konnten. Ihr wichtigster Pfiff war ein Gruß, eine Weise, einander wissen zu lassen, wo sie gerade waren; ein anderer Pfiff sollte heißen, dass es Zeit war, zum Essen nach Hause zu gehen; wieder ein anderer Pfiff bedeutete, dass sie sich so schnell wie möglich treffen mussten; der letzte Pfiff schließlich bedeutete: Eindringlinge. Sie unterrichteten Mitros, brachten ihm bei zu pfeifen, wenn sie sich zu einer Mahlzeit verspäteten, und lehrten ihn den lautesten, gellendsten Pfiff als Signal, dass der Hund auf dem Boden zu scharren begann.
Da sie jetzt pfeifen konnten, wenn sie einander brauchten, konnten Orestes und Leandros auf unterschiedlichen Feldern arbeiten, oder einer konnte im Haus bleiben, während der andere sich auf die Suche nach einem der Tiere machte. Es bedeutete auch, dass Orestes am Klippenrand lang gehen konnte, bis er einen Einschnitt erreichte, einen felsigen Pfad, der hinunter zum Ozean führte. Er wusste, dass die alte Frau sich vor den Wellen fürchtete, die hoch und heftig sein konnten, also erzählte er ihr nie, dass er häufig dorthin ging, wenn der Tag sich zum Ende neigte — einfach nur, um allein zu sein und aufs Wasser zu schauen.
Er entdeckte einen Felssims. An manchen Tagen stieg er dort hinunter und sah den Wellen zu, die sich heranschoben, gegeneinanderdrängten, um an den Felsen unter ihm zu zerschellen. Manchmal flogen Vögel in seltsamen Formationen über das Meer, manche höher und andere näher der Wasseroberfläche. Diese war meistens ruhig und glatt, aber an windigen Tagen schien der Wind das Wasser weit von sich zu schleudern.
Bald hatte er Leandros überredet, mit ihm zu kommen. Sie saßen zusammen auf dem Sims, während das Sonnenlicht schwand. Leandros trug selten ein Hemd, wenn er im Freien arbeitete; sein Körper war braungebrannt. Er war viel größer als Orestes, und kräftiger. Er sah aus wie einer der Krieger seines Vaters, einer der Männer, die zielbewusst im Zelt seines Vaters ein und aus gegangen waren.
Orestes hätte Leandros gern gefragt, ob er einen Plan hatte, ob er das Verstreichen der Zeit, wie Orestes es tat, nach den zu- und den abnehmenden Monden bemaß, nach den Lammzeiten, nach dem Wuchs des Getreides und den Obstbäumen und ihren Erträgen, und ob er glaubte, dass sie für den Rest ihres Lebens hierbleiben würden, ob sie selbst nach dem Tod der alten Frau noch weiter bleiben würden. Aber wie die Zeit verging, wie Monde voll und mager wurden und sich keine weiteren Eindringlinge blicken ließen, sah es so aus, als ob sie alle drei vergessen worden wären, als ob sie den Ort gefunden hätten, wo sie in Sicherheit leben konnten, und jegliche Ortsveränderung sie nur in Gefahr bringen würde.
Manchmal starrte Orestes aufs Meer und suchte den Horizont nach Schiffen oder Booten ab. Er hatte sich an die Schiffe und Boote erinnert, die alle im Hafen gewartet hatten, als er bei seinem Vater im Feldlager war. Doch es war nicht das Geringste zu sehen.
Wenn sie beieinandersaßen, lehnte sich Orestes zurück und legte den Kopf an Leandros’ Brust, während Leandros die Arme um ihn legte und ihn festhielt. Wenn das geschah, hütete sich Orestes, irgendetwas zu sagen oder etwas zu denken, sondern wartete lediglich, bis die Sonne ins Meer sank, worauf Leandros seine Arme entspannte, Orestes aus dem Weg stupste, aufstand und sich streckte, und dann kehrten sie zusammen zum Haus zurück.
Nachts wiederholte Mitros Orestes oft die Geschichten, die ihm die alte Frau erzählt hatte, während er mit ihr allein war. Im Flüsterton gab er wieder, was sie gesagt hatte, versuchte, sich an ihre genauen Worte zu erinnern, legte die gleichen Pausen ein, die sie machte, bevor er auf bestimmte Einzelheiten einging.
»Es war einmal ein Mann, vielleicht auch ein König«, sagte er, »der vier Kinder hatte, ein Mädchen und drei Jungen. Er liebte seine Frau und seine Kinder, und sie alle waren glücklich.«
»Wann war das?«, fragte Orestes.
»Ich weiß nicht«, sagte Mitros.
»Und dann starb die Frau«, fuhr er fort, »die Mutter der vier Kinder, und sie waren traurig, bis ihr Vater die Schwester ihrer Mutter kommen ließ, und er heiratete sie, und sie waren wieder glücklich, bis sie auf die vier Kinder eifersüchtig wurde. Also befahl sie, dass die Kinder getötet werden sollten, aber der Diener, dem sie die Sache aufgetragen hatte, sagte, er konnte sie nicht töten, weil sie so schön waren, und …«
Er verstummte kurz, als hätte er vergessen, wie es weiterging.
»… und vielleicht würde der König böse werden«, sagte Orestes.
»Ja, vielleicht. Aber dann beschloss sie, sie selbst zu töten.«
»Während sie schliefen?«
»Oder während sie spielten. Aber als sie kam, um sie zu töten, war sie dazu nicht fähig. Also verwandelte sie sie stattdessen in Schwäne.«
»Und konnten sie fliegen?«
»Ja. Sie flogen fort. Es war Teil des Zaubers, dass sie weit weg fliegen mussten, aber bevor sie dies taten, hatten sie eine Bitte. Sie baten um eine silberne Kette, sodass sie nie voneinander getrennt wären. Die Kette wurde für sie angefertigt, und sie flogen davon, durch die Kette miteinander verbunden.«
»Aber was geschah mit ihnen?«
»Sie flogen zu einem Ort und dann zu dem nächsten und wieder zu einem anderen, und viele Jahre vergingen. Manchmal war es kalt.«
»Sind sie gestorben?«
»Sie flogen neunhundert Jahre lang. Und all die Jahre lang warteten sie und sprachen sie davon, wieder heimzukehren. Sie sprachen von dem Tag, an dem sie, nach wie vor durch ihre silberne Kette verbunden, den Ort wiederfinden würden, von dem sie herkamen. Aber als diese Zeit kam, waren alle, die sie einmal gekannt hatten, tot. Es waren andere Menschen da, Menschen, die sie nicht kannten, fremde, neue Menschen, die erschraken, als die Schwäne landeten und ihre Flügel von ihnen abfielen, und dann fielen ihre Schnäbel und dann alle ihre Federn ab. Und da waren sie wieder Menschen. Sie waren Menschen, aber sie waren keine Kinder mehr. Sie waren alt. Sie waren neunhundert Jahre alt, und alle neuen Menschen liefen weg, als sie sie sahen.«
»Und was geschah dann?«
»Sie starben, und dann kamen die Menschen, die weggelaufen waren, zurück und begruben sie.«
»Und die silberne Kette? Begruben sie auch die?«
»Nein. Die Menschen behielten die Silberkette, und später verkauften sie sie, oder fingen etwas anderes damit an.«
*
Langsam wurde die alte Frau immer schwächer. Als sie nicht mehr gehen konnte, richtete Mitros ihr ein Bett in der Küche. Tagsüber redete sie weiterhin mit ihm, und bei den Mahlzeiten nahm sie etwas zu sich, aber nur, wenn Mitros es ihr gab. Orestes oder Leandros erkannte sie nicht mehr. Wenn sie sie ansprachen, gab sie keine Antwort. Manchmal begann sie eine Geschichte von Schiffen und Männern und einer Frau und den Wellen, wusste aber dann nicht weiter. Zu anderen Gelegenheiten sagte sie Namen auf, aber sie schienen mit nichts im Zusammenhang zu stehen. Sie aßen schweigend am Tisch und ließen ihre Stimme kommen und gehen und hörten kaum hin, da fast alles, was sie sagte, sinnlos in ihren Ohren klang.
Oft schlief sie mitten im Satz ein, wachte dann wieder auf und rief nach Mitros, und er fütterte sie und setzte sich mit dem Hund zu ihr, während die anderen zwei sich wieder an die Arbeit machten oder in einen anderen Teil des Hauses begaben, oder hinunter zum Felssims, von wo aus sie die Wellen betrachteten.
Eines Abends hatte die Frau fortwährend irgendwelche Dinge und dann irgendwelche Namen wiederholt, um zuletzt zu verstummen und einzuschlafen. Sie hatten fast aufgegessen, als sie wieder aufwachte und zu flüstern begann. Anfangs verstanden sie sie nur mühsam. Es war eine Aufzählung von Namen. Orestes stand auf und ging zu ihr.
»Kannst du die Namen noch einmal sagen?«, fragte er.
Sie schenkte ihm keinerlei Beachtung.
»Mitros, kannst du sie bitten, die Namen zu wiederholen?«, fragte Orestes.
Mitros ging zur Frau und kniete sich neben sie hin.
»Kannst du mich hören?«, flüsterte er.
Sie hörte auf zu sprechen und nickte.
»Kannst du die Namen noch einmal sagen?«, fragte er.
»Die Namen?«
»Ja.«
»Dieses Haus war voller Namen. Jetzt ist nur noch Mitros da.«
»Und Orestes und Leandros«, sagte Mitros.
»Sie werden fortgehen wie die anderen«, sagte sie.
»Das werden wir nicht«, sagte Leandros mit etwas lauterer Stimme.
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Die Häuser waren alle voll von Namen«, sagte sie. »All den Namen. Dieses Haus war …«
Sie legte den Kopf zurück und sagte nichts mehr. Als Orestes nach einer Weile sah, dass sie nicht atmete, blieben sie noch eine Zeitlang dicht bei ihr, dabei hielt Mitros ihre Hand fest.
Schließlich flüsterte Orestes zu Leandros: »Was machen wir jetzt?«
»Sie ist tot. Wir sollten sie in ihr Zimmer tragen, ein Licht mitnehmen und bis zum Morgen bei ihr bleiben«, sagte Leandros.
»Bist du sicher, dass sie tot ist?«, fragte Mitros.
»Ja«, sagte Leandros. »Wir werden heute Nacht bei ihrem Leichnam bleiben.«
»Und sie dann begraben?«, fragte Orestes.
»Ja.«
»Wo?«
»Mitros wird es schon wissen.«
Als sie ihren Leichnam behutsam in das Zimmer am Ende des Hauses trugen, wo sie immer schlief, begann Mitros, der ihnen zusammen mit dem Hund folgte, zu husten und blieb dann zusammengekauert in der Ecke des Zimmers, in dem die Frau lag, und kam nur gelegentlich hervor, um ihr Gesicht und ihre Hände zu berühren, ehe er sich dann wieder in seinen Winkel zurückzog. Als die Nacht aber voranschritt und sein Husten sich verschlimmerte, musste er nach draußen an die Luft gehen.
Orestes und Leandros blieben beim Leichnam, der inzwischen kalt und steif geworden war, und keiner von beiden wagte, etwas zu sagen. Das, erkannte Orestes, war der Augenblick, vor dem sie sich zunehmend gefürchtet hatten, der Augenblick, in dem sie eine Entscheidung würden fällen müssen. Fünf Jahre waren sie in diesem Haus gewesen. Ihm ging auf, dass er überhaupt nicht wusste, was Leandros machen wollte, worüber er während ihrer ganzen Zeit hier nachgedacht hatte.
Er wollte nicht von hier weg. Zu viel Zeit war vergangen. Wenn Leandros, sobald Mitros zurückkam, erklärte, seiner Meinung nach sollten sie hierbleiben und nicht ans Fortziehen denken, dann würde Mitros sofort zustimmen, und er selbst ebenfalls. Sie würden bleiben, bis sie so alt wären, wie die Frau geworden war.
Orestes versuchte, sich vorzustellen, wer von ihnen als Erster sterben und wer zum Schluss hier allein sein würde. Er nahm an, dass Mitros als Erster sterben würde, da er der Schwächste von ihnen war. Er stellte sich vor, dass er und Leandros allein hier wären, Leandros sich um die Tiere und die Felder und er, Orestes, sich um die Küche und das Essen kümmerte und die Eier einsammelte. Er stellte sich vor, wie Leandros zum Feierabend hereinkam und er das Essen für ihn gerichtet hatte, und dann ihre Gespräche über das Wetter und die Felder und die Tiere, und vielleicht würden sie mit der Zeit auch über Mitros und die alte Frau sprechen, und vielleicht sogar über die Heimat, die Menschen, die sie zu Hause zurückgelassen hatten.
Am Morgen führte Mitros sie zu der Stelle im Gebüsch, die die alte Frau als Ruhestätte für ihren Leichnam ausgewählt hatte. Er hustete noch immer und hielt sich die Brust, während die beiden anderen eine Grube für den Leichnam der Frau aushoben. Als mehr und mehr Fliegen kamen, übernahm Mitros, kurzatmig, die Aufgabe, sie zu verscheuchen.
Die Augen der Frau waren noch immer halb geöffnet, und obwohl ihr Körper leblos und starr war, gab es Augenblicke, in denen Orestes meinte, sie hätte sich tatsächlich kurz bewegt oder sie könnte ihnen dabei zusehen und zuhören, wie sie ihr das Grab richteten. Als es so weit war, dass sie ihren Leichnam in die Grube hinablassen konnten, zögerten sie. Sie betrachteten die Szene wie gelähmt.
Mitros beugte sich hinunter und hielt die Hand der Frau fest. Leandros setzte sich auf den Boden und starrte vor sich hin. Der Hund kroch in den Schatten.
Plötzlich wusste Orestes, was er machen konnte. Er stellte sich aufrecht hin, was Mitros und Leandros aufmerken ließ. Wie er den toten Körper der Frau betrachtete, war ihm das Lied wieder eingefallen, das die Frau gesungen hatte, als ihr Mann, vom Wasser des Brunnens vergiftet, vor ihr gelegen hatte. Er räusperte sich und begann zu singen. Die Worte bekam er nicht mehr vollständig zusammen, aber an die Melodie erinnerte er sich. Er erinnerte sich auch an die Inbrunst, mit der die Frau den Himmel angesungen hatte. Orestes sah wie damals die Frau zum Himmel auf. Wenn er die Worte nicht mehr wusste, wiederholte er schon gesungene Verse oder dachte sich neue aus. Er zwang seine Stimme, lauter zu werden, als er sah, wie Mitros Leandros zunickte. Mitros legte die Hände unter die Schultern der Frau, Leandros kniete sich hin und legte die Arme unter ihre Beine. Langsam schoben sie sie an den Rand der Grube, ließen sie sanft in die Erde hinab und füllten am Ende das Grab.
Als alle drei, vom Hund gefolgt, auf dem Weg zurück zum Haus waren, fragte Leandros Orestes, woher er das Lied kannte. Orestes sah die Szene vor sich — den sterbenden Mann auf dem Boden, die ungerührt starrenden Wächter, das Kind in den Armen der Frau, den Himmel über ihnen. Es schien wie ein anderes Leben zu sein oder ein Leben, das zu jemand anders gehört hatte.
»Ich weiß nicht mehr, woher ich es kenne«, sagte er.
Während Mitros mit dem Hund in der Küche blieb, ging Leandros auf die Felder, und Orestes ging zu seinem Felssims in der Hoffnung, dass Leandros hinzukommen würde und er so herausfinden könnte, welche Pläne er hatte. Doch Leandros ließ sich nicht blicken.
Er sah hinaus auf das Meer und lauschte dem Klang der Wellen, die unten zerschellten, so lang, wie er konnte, und als er des Wartens müde wurde, ging er zum Haus zurück, wo er Mitros auf dem Fußboden vorfand, heftig hustend, während ihm Blut aus dem Mund kam. Er ging vor die Tür und pfiff nach Leandros, lief dann in die Küche zurück und nahm Mitros’ Kopf auf den Schoß.
In dieser Nacht saßen sie an Mitros’ Bett, während er schlief und dann hustend aufwachte und dann wieder einschlief. Später brachten sie ihm zu essen und vergewisserten sich, dass er bequem lag, den Hund ausgestreckt an seiner Seite.
»Wir müssen fort von hier«, sagte Leandros. »Bis jetzt haben wir Glück gehabt. Aber eines Tages werden mehr Leute kommen, und wir werden ihnen nicht standhalten können.«
»Ich kann nicht weg«, sagte Mitros.
»Wir werden warten, bis es dir besser geht«, sagte Leandros. »Bis der Husten weg ist.«
»Ich kann nicht weg«, wiederholte er.
»Warum?«, fragte Orestes.
»Die Frau sagte, sobald ich hier wegginge, würde es den Tod bedeuten.«
»Auch für uns?«, fragte Orestes.
»Nein, nur für mich.«
»Und wir?«, fragte Orestes.
»Sie hat mir alles gesagt, was geschehen wird«, sagte Mitros.
»Schlimmes?«, fragte Orestes.
Mitros gab keine Antwort, sah aber Orestes eine Zeitlang in die Augen, als legte er sich eine Erwiderung zurecht.
»Du kannst es uns ruhig sagen«, sagte Leandros.
»Nein, kann ich nicht«, entgegnete er.
Dann schloss er die Augen und blieb regungslos liegen. Orestes und Leandros ließen ihn schlafen und gingen in die Küche zurück.
Als sie wieder das laute Husten hörten, kamen sie umgehend zurück. Mitros’ Augen waren offen; er griff nach Orestes’ Hand.
»Werdet ihr …?«, setzte er an, um dann wieder zu husten.
»Du brauchst nichts zu sagen«, sagte Leandros. »Ruh dich einfach aus.«
»Ich will sitzen.«
Sie halfen Mitros, sich aufzusetzen. Dabei hielt er die ganze Zeit Orestes’ Hand fest.
»Werdet ihr es ihnen sagen?«, fragte er.
»Ihnen was sagen?«, fragte Orestes.
»Dass ich all die Jahre lang mit euch zusammen war, und auch von der Frau erzählen und dem Hund und dem Haus. Werdet ihr ihnen unsere Geschichte erzählen, was wir alles gemacht haben?«
»Wem erzählen?«, fragte Orestes.
Leandros legte eine Hand auf Orestes’ Schulter und zog ihn zurück. Mitros ließ seine Hand los.
»Wir werden ihnen erzählen, dass du glücklich warst«, sagte Leandros, »und dass man sich um dich gekümmert hat, und dass wir dich liebten und für dich gesorgt haben, und dass dir nichts Schlimmes passiert ist, überhaupt nichts Schlimmes. Ich werde es ihnen erzählen, und Orestes wird es ihnen ebenfalls erzählen. Es ist das Erste, was wir tun werden, sobald wir nach Hause kommen.«
»Orestes …«, begann Mitros.
»Mitros, ich bin hier.«
»Vielleicht ist das, was sie sagte, was noch kommen würde, gar nicht wahr«, flüsterte Mitros.
»Aber was sagte sie denn?«, fragte Orestes.
»Versprecht ihr, dass ihr es ihnen sagen werdet?«, fragte Mitros mit lauterer Stimme, ohne auf Orestes’ Frage einzugehen.
»Ja, ich verspreche es.«
»Ihnen allen? Meinem Vater und meiner Mutter und ihnen allen, meinen Brüdern? Vielleicht habe ich ja neue Brüder und Schwestern, welche, die ich nie gesehen habe.«
»Wir werden es ihnen allen erzählen.«
Mitros lehnte sich zurück und schlief wieder ein. Später ging Orestes und legte sich in Leandros’ Bett, aber Leandros legte sich nicht dazu; stattdessen pendelte er zwischen der Küche und Mitros’ Krankenlager, und Orestes belauschte die ganze Nacht lang sein Kommen und Gehen.
Am Morgen musste Orestes eingenickt sein, denn er wurde von Leandros’ Hand auf seiner Schulter geweckt.
»Mitros hat vor einer Weile aufgehört zu atmen«, flüsterte Leandros.
»Hast du versucht, ihn zu wecken?«
»Er schläft nicht«, sagte Leandros. »Er ist tot.«
Sie warteten bei seinem Leichnam, bis die Sonne am Himmel verblasste, und dann trugen sie ihn dorthin, wo sie die alte Frau begraben hatten, und der Hund folgte ihnen eifrig, mit aufgestellten Ohren, als horchte er auf ein fernes Geräusch. Als sie bereit waren, den Leichnam in den Raum hinabzulassen, den sie neben der alten Frau geschaffen hatten, sah Leandros Orestes an und fragte ihn mit den Augen, ob Orestes das Lied noch einmal singen würde. Orestes trat an das Grab und setzte sich nieder. Er begann, die Worte, die er kannte, mit zaghafter Stimme zu singen, und ließ sie dann immer leiser werden, bis sie fast nur noch ein Flüstern war.
Der Hund schien rastlos, als das Grab aufgefüllt wurde. Er blieb eine Zeitlang dort bei den beiden, aber dann ging er langsam zum Haus zurück, folgte ihnen zögernd, knurrte halblaut. Er setzte sich an seinen gewohnten Platz in der Küche. Orestes gab ihm zu essen und Wasser und tätschelte ihm den Kopf und sprach sanft auf ihn ein.
Er wusste, dass Leandros daran dachte fortzuziehen. Gesprochen hatten sie darüber zwar nicht, aber er war sich sicher, dass das sein Plan war. Er wusste nicht, was dann aus dem Hund werden würde.
Als er nachts aufwachte, zog er von seinem in Leandros’ Bett um, und der Hund folgte ihm. Leandros machte ihm Platz und hielt ihn fest, nachdem er sich zu ihm gelegt hatte. Orestes begriff, dass sie sich beide davor fürchteten, wie es anderswo sein würde.
Von da an legte er sich abends gar nicht erst in sein eigenes Bett, sondern wartete stattdessen, bis Leandros so weit war, und ging dann mit ihm in sein Zimmer, auch hier gefolgt von dem Hund. Er begann, sich auf die Nacht zu freuen, darauf, was sich während dieser Stunden zwischen ihnen abspielte, und auf den Morgen, wenn sie aufwachten.
Eines Nachts schien Leandros nicht einschlafen zu können. Nachdem er sich eine Zeitlang im Bett gewälzt hatte, rutschte Orestes näher heran. Sie hielten sich im Dunkeln in den Armen, beide hellwach.
»Ich will meinen Großvater wiedersehen, wenn er noch lebt«, sagte Leandros. »Er hatte zwei Söhne, aber einer von ihnen starb, und dann hatte mein Vater nur einen Sohn, und das bin ich. Vielleicht wartet mein Großvater auf mich. Ianthe, meine Schwester, war zehn, als ich entführt wurde. Jetzt ist sie eine Frau, und auch sie wartet auf mich, und mein Vater und meine Mutter warten auf mich, und meine Onkel und Tanten und meine anderen Großeltern, die Eltern meiner Mutter.«
»Ich weiß nicht, wer auf mich wartet«, sagte Orestes. »Vielleicht war es ja das, was Mitros zu sagen versuchte, dass es niemanden gibt, der auf mich wartet.«
»Deine Mutter wartet auf dich, und auch Elektra«, sagte Leandros.
»Aber mein Vater nicht?«
»Dein Vater ist tot.«
»Wer tötete ihn?«
Leandros schwieg einen Augenblick lang, und dann fasste er Orestes enger und flüsterte: »Es genügt, dass er tot ist.«
»Meine Schwester Iphigeneia ist ebenfalls tot«, sagte Orestes.
»Ich weiß.«
»Ich sah sie sterben«, sagte Orestes. »Keiner von ihnen wusste, dass ich sie sterben sah und ich ihre Stimme hörte und ich meine Mutter schreien hörte und sah, wie sie weggeschleift wurde.«
»Wie konntest du das sehen?«
»Ich war auf dem Hügel im Lager. Sie hatten mich dagelassen, damit ich mit den Soldaten Fechten spielte, aber nach einer Weile hatten die Soldaten genug von dem Spiel, und dann war ich allein in einem der Zelte, und ich schlief ein und wachte vom Gebrüll von Tieren auf, ich ging nach draußen und legte mich auf den Boden hoch über der Stelle, wo die Färsen hingebracht wurden, und ich schaute zu, wie sie geschlachtet wurden. Ich hörte das Geräusch, das sie machten, das verängstigte Geräusch, das aus ihren Bäuchen kam, und dann sah ich das Blut spritzen. Und mein Vater war dort und andere Männer, die ich kannte. Ich konnte das Blut der Tiere riechen, und die Gedärme, die überall waren, überallhin strömten. Ich wollte zu meinem Vater hinunterlaufen, oder vielleicht auch meine Mutter und Iphigeneia suchen gehen. Aber dann sah ich sie. Sie gingen in Prozession, an der Spitze einer Prozession, Iphigeneia und meine Mutter, sie gingen all den anderen voraus, und hinter ihnen waren Männer. Es war vollkommen still, als sie erschienen. Ich sah, wie sie meiner Schwester die Haare abschnitten. Dann drückten sie sie hinunter auf die Knie. Ihr wurden Hände und Füße gefesselt. Und dann hörte ich ihre Stimme und die meiner Mutter. Sie banden ihnen etwas vor den Mund, damit sie nicht mehr schrien. Und die Männer schleiften meine Mutter weg, und dann versuchte meine Schwester, meinen Vater zu erreichen, aber man zerrte sie zurück. Dann verbanden sie ihr die Augen. Und dann ging ein Mann, der neben meinem Vater gestanden hatte, mit einem Messer in der Hand langsam auf sie zu. Und das Tuch vor ihrem Mund fiel herunter, und sie fing an zu schreien. Sie schrie wie ein Tier. Sie fiel zu Boden, und sie schafften ihren Körper fort.«
»Und was geschah dann?«
»Dann ging ich wieder ins Zelt und legte mich hin und wartete. Männer kamen, und sie fragten mich, ob ich Fechten spielen wollte, aber ich sagte ihnen, ich hätte schon genug gespielt. Dann kam mein Vater, und er spielte mit mir und trug mich auf den Schultern durch das Lager.«
»Und wo war deine Mutter?«
»Ich war bei den Männern meines Vaters. Ich muss ein paar Nächte in seinem Zelt geschlafen haben, denn ich erinnere mich, wie sie alle redeten, und an das Geschrei, als sie wussten, dass die Schiffe endlich in See stechen konnten, weil der Wind gewechselt hatte. Nach dem Windwechsel liefen überall Männer durcheinander. Sie vergaßen mich fast, bis Achilleus mich sah und mich zu meinem Vater brachte. Und dann trug mein Vater mich wieder auf den Schultern durch das Lager zu meiner Mutter. Und dann machten wir uns auf die Rückreise.«
»Hast du deiner Mutter davon erzählt, was du gesehen hattest?«
»Anfangs war ich mir nicht sicher, ob sie wusste, dass Iphigeneia tot war, oder ob sie vielleicht noch fragen würde, mich oder jemand anders, was geschehen war, nachdem man sie fortgeschleift hatte. Sie sah nicht, was geschah. Ich sah alles. Meine Mutter sah es nicht, und Elektra war überhaupt nicht da. Ich war der Einzige, abgesehen von der Menschenmenge und meinem Vater.«
»Möchtest du nach Hause gehen, zu deiner Mutter und Elektra?«
»Manchmal möchte ich nicht, aber jetzt vielleicht schon.«
»Wir müssen uns entscheiden.«
»Wir gehen. Und wir nehmen den Hund mit?«
»Wir müssen das Vertrauen des Hundes gewinnen, damit er uns folgt«, sagte Leandros. »Wir werden Essen zum Mitnehmen einpacken. Wir sollten so viel Proviant wie möglich mitnehmen, und Wasser.«
Orestes legte die Arme um Leandros, um deutlich zu machen, dass er Angst hatte. Leandros hielt ihn fest.
Orestes wusste, als die Nacht verging und es langsam Licht wurde, dass Leandros wach war. Er spürte, dass Leandros’ Augen offen waren und er nachdachte. Er wünschte sich, sie könnten zu einer Zeit davor zurückkehren, als die Alte und Mitros noch gelebt hatten, oder selbst davor noch, zu einer kaum noch vorstellbaren Zeit, als seine Mutter und er und Iphigeneia aufgebrochen waren, um seinen Vater zu besuchen, der sich zum Kampf rüstete, und er sie willkommen geheißen hatte.
Er fragte sich, als Leandros sich bewegte, ob es je eine Zukunft geben würde, in der er sich an Nächte wie diese zurückerinnern würde, Nächte, in denen er und Leandros allein miteinander gewesen waren, in denen sie lange miteinander geflüstert hatten, den schlafenden Hund neben sich, Mitros und die alte Frau nicht weit entfernt, in ihren Gräbern. Er blieb im Bett liegen, als Leandros aufstand. Er sah ihm dabei zu, wie er sich anzog, sich für den Tag fertig machte. Er würde ebenfalls aufstehen müssen und sich daranmachen, Proviant einzupacken. Im Geiste begann er, die Dinge aufzulisten, die sie für ihre Reise benötigen würden.
Am Morgen, an dem sie aufbrechen wollten, fanden sie den Hund in der Küche vor, wie er matt dalag und die Zunge heraushängen ließ, als ob er Wasser bräuchte. Doch als sie ihm welches anboten, trank er es nicht.
»Der Hund stirbt«, sagte Leandros. »Er will nicht mit uns weg.«
Als sie ihn aufhoben, leistete der Hund keinen Widerstand. Sie trugen ihn zum gemeinsamen Grab von Mitros und der alten Frau und warteten dort bei ihm. Im Laufe des Tages holten der eine oder der andere von ihnen Essen und Wasser, aber der Hund rührte nichts an. Er tat nichts anderes, als leise zu winseln, und auch das hörte bald auf. Sie warteten mit ihm, sprachen flüsternd zu ihm und der Alten und Mitros, bis nach Einbruch der Dunkelheit. Dann verstummten sie beide, und die Stille wurde nur noch vom stockenden Atmen des Hundes unterbrochen. Und dann hörte der Atem ganz auf.
Am Morgen, sobald die Sonne aufgegangen war, öffneten sie wieder das Grab und legten den Leichnam des Hundes zu den Leichnamen Mitros’ und der Alten. Sobald das getan war, kehrten sie zum Haus zurück und suchten zusammen, was sie für ihre Reise bereitet hatten. Sie sollten möglichst bald aufbrechen, sagte Leandros, damit sie schon am ersten Tag ein gutes Stück schafften.