Entfernung vom Palast führt eine Folge gewundener Stufen zu einer versenkten Fläche, die ehemals ein Garten war. Manche Stufen sind zerbrochen, eine oder zwei sind von der Zeit oder von den Echsen, die in den Spalten zwischen den Steinen wohnen, fast vollständig abgetragen worden. Unten machen sich verkümmerte Bäume und verwilderte Sträucher den Raum streitig. Als meine Schwester noch am Leben war, gingen wir immer dorthin, wenn wir reden mussten und sicher sein wollten, dass niemand uns hören konnte. Als das Licht verblasste, wurde der Vogelgesang intensiv, fast erbittert. Vielleicht war der Lärm, den sie veranstalteten, für die Vögel ein Weg, den Wieseln zu trotzen, von denen der Ort wie verseucht war. Wir waren uns sicher — selbst wenn sich jemand im Schatten versteckte, würde er uns nicht hören können.
Jetzt lebt meine Schwester nicht mehr. Sie wird diesen Garten nie wieder betreten.
Dafür geht meine Mutter dorthin. Sie verlässt den Palast mit zwei oder drei Wächtern, die ihr in einigem Abstand folgen. An manchen Tagen begleite ich sie, aber wir reden nicht viel, und oft nickt sie kaum einmal, wenn ich mich von ihr trenne.
Dieser versunkene Garten ist der Ort, wo sie sterben wird. Hier wird sie jemand ermorden. Hier wird sie in ihrem eigenen Blut liegen, zwischen den knorrigen Sträuchern.
Manchmal lächle ich, während ich zusehe, wie sie die Treppe hinuntersteigt und ihre Wächter sich angespannt über die steinerne Brüstung beugen für den Fall, dass sie auf den brüchigen Stufen stolpert.
Man könnte leicht glauben, dass Aigisthos in Abwesenheit meiner Mutter, und in Abwesenheit ihrer Wächter, mehr auf sich gestellt und verwundbarer ist und dass jetzt ein günstiger Zeitpunkt für jemanden sein könnte, um sich in das Zimmer zu schleichen, in dem er arbeitet, rasch auf ihn zuzugehen und ihm ein Messer in die Brust zu stoßen, oder um sich ihm zögernd zu nähern, als wollte man von ihm eine Gunst erbitten, und dann, ohne Vorwarnung, seinen Kopf an den Haaren zurückzureißen und ihm gleichfalls die Kehle durchzuschneiden.
Es wäre aber falsch zu glauben, dass es wirklich so leicht sein könnte, den Geliebten meiner Mutter zu ermorden. Er steckt voller Strategien, und eine davon, die wichtigste vielleicht, ist sein eigenes Überleben. Er ist wachsam. Und es gibt Männer, in seinem Sold oder ihm hörig, die ebenfalls wachsam sind.
Aigisthos ist wie ein Tier, das um der Behaglichkeit und der Sicherheit willen zu Menschen ins Haus kam. Er hat gelernt zu lächeln, statt die Zähne zu blecken, aber sein Instinkt, seine Klauen und Fänge sind so scharf wie eh und je. Er wittert jegliche Gefahr. Er wird als Erster angreifen. Beim geringsten Anzeichen von Bedrohung wird er den Rücken krümmen und zuschlagen.
Es ist nicht verkehrt, sich vor ihm zu fürchten. Ich habe guten Grund, mich vor ihm zu fürchten.
*
An dem Tag, als mein Vater aus dem Krieg zurückkehrte und draußen die Ältesten begrüßte, befahl meine Mutter zwei von Aigisthos’ Freunden, mich zu suchen. Sie zerrten mich aus dem Speisesaal, ohne auf meine Schreie und empörten Proteste zu achten. Sie schleiften mich Strampelnde die Wendeltreppe hinunter ins nächste Geschoss, warfen mich ins Verlies unter der Küche und ließen mich dort ein paar Tage und Nächte lang ohne Essen und Wasser. Dann ließen sie mich frei. Sie schlossen einfach die Tür des dunklen Raums auf, in dem sie mich gefangen gehalten hatten. Sie erlaubten mir, durch meinen eigenen Unrat in meine Kammer zurückzukriechen, von allen beäugt, als wäre ich irgendein elendes Wildtier, das man nur halb zahm bekommen hatte. Sie erlaubten mir, von da an so zu leben, als wäre nichts Widriges geschehen.
Noch am Tag meiner Freilassung kam Aigisthos zu mir. Er blieb in der Tür meines Zimmers stehen und sagte, dass meine Mutter viel gelitten hatte und in einem heiklen Zustand war, und dass es nicht ratsam wäre, Themen anzuschneiden, die sie verstören oder daran erinnern könnten, was sie durchgemacht hatte. Und er sagte, ich dürfte das Palastgelände nicht verlassen oder mich dabei erwischen lassen, wie ich mit den Dienern sprach oder mit einem der Wächter flüsterte.
Ich dürfte keinen Ärger machen, sagte er. Er würde dafür sorgen, dass ich keinen Ärger machte.
»Wo ist mein Vater?«, fragte ich ihn.
»Er wurde ermordet«, sagte er.
»Wer ermordete ihn?«
»Einige seiner eigenen Soldaten. Aber man hat sich ihrer angenommen. Wir werden von ihnen nichts mehr zu hören bekommen.«
»Wo ist mein Bruder?«
»Man hat ihn zu seiner eigenen Sicherheit von hier fortgebracht. Er kommt bald wieder.«
»War ich dort auch zu meiner eigenen Sicherheit? Im Verlies?«
»Bist du jetzt etwa nicht unversehrt?«, fragte er.
»Was willst du?«, fragte ich.
»Deine Mutter wünscht, wieder zum Alltag zurückzukehren. Und ich bin mir sicher, das wünschst du dir auch. Wir brauchen dazu deine Hilfe.«
Er verbeugte sich in gespielter Förmlichkeit.
»Ich gehe davon aus, du hast mich verstanden«, sagte er.
»Wann kommt mein Bruder zurück?«, fragte ich.
»Sobald es für ihn sicher ist. Nur darauf wartet deine Mutter. Dann wird sie auch weniger gereizt sein, als sie jetzt ist, weniger besorgt.«
Ich brauchte nicht lang, um herauszubekommen, wie mein Vater ermordet worden war und warum meine Mutter nicht wollte, dass die Art und Weise seines Todes zur Sprache kam. Da begriff ich, warum sie Aigisthos mit seinen Drohungen zu mir geschickt hatte. Sie wollte den Vorwurf in der Stimme ihrer Tochter nicht hören. Beide, sie und er, waren mit dem Geflecht von alten Treuebanden und Verpflichtungen vertraut, das diesen Palast mit nachhallenden Echos und geflüsterten Worten umhüllt. Sie mussten gewusst haben, wie leicht ich herausbekommen würde, was meinem Vater zugestoßen war, und auch wie schnell man mir erzählen würde, wie mein Bruder von hier fortgelockt worden war, und auf wessen Befehl.
Meine Mutter und ihr Geliebter sicherten sich mit Drohungen mein Schweigen, aber über die Nacht haben sie keine Gewalt, ebenso wenig darüber, wie sich etwas herumspricht.
Die Nacht gehört mir ebenso sehr, wie sie Aigisthos gehört. Auch ich kann mich lautlos bewegen. Ich lebe im Schatten. Ich habe eine innige Beziehung zum Schweigen, und so weiß ich immer genau, wann man ohne Gefahr flüstern kann.
*
Ich bin mir sicher, dass Aigisthos weiß, wo mein Bruder ist oder was aus ihm wurde. Doch er wird es niemandem verraten. Er weiß, was Macht bedeutet. Sein Wissen verstört die Luft in diesem Haus.
Er kann uns jederzeit mit seinen Klauen packen. Er hält uns in der Hand wie ein Adler, der kleinere Vögel fängt, ihnen die Flügel abbeißt und sie am Leben hält, damit sie ihn zu gegebener Zeit ernähren werden.
Ihm ist völlig bewusst, wie sehr er mich beschäftigt. Wie er höre ich jedes Geräusch, einschließlich der Liebesgeräusche, die er mit seinem Lieblingswächter in einem der Zimmer dieses Korridors erzeugt, oder seiner raschen, huschenden Bewegungen in Richtung der Dienstbotenquartiere, wo er ein Mädchen finden wird, das ihn befriedigt, bevor er zum Bett meiner Mutter zurückkehrt und sich darin zusammenrollt, als sei er nirgendwo gewesen, als werde er nicht von einem schleimigen, gefräßigen Verlangen getrieben, das ihn auf den Weg der Lust und Macht geführt hat.
Nur ein Mal habe ich Aigisthos zusammenzucken oder Angst verraten sehen; nur ein Mal habe ich das Chamäleon in ihm in Deckung schießen sehen.
Als die Nachricht kam, dass die entführten Jungen freigelassen worden waren und sich, unter ihnen auch Orestes, wie wir annahmen, auf dem Weg in die Heimat befanden, setzten meine Mutter und ich uns zu ihm, aber er blieb beklommen und ernst.
Wir warteten darauf, meinen Bruder zu Hause willkommen zu heißen. Als uns die Neugier trieb, Genaueres darüber zu erfahren, wann er wohl eintreffen würde, trennten meine Mutter und ich uns von Aigisthos, um uns zu vergewissern, dass Orestes’ Zimmer ordnungsgemäß hergerichtet worden war. Wir gingen in die Küche und überlegten, welche Speisen ihm zu seiner ersten Mahlzeit schmecken könnten. Zum ersten Mal seit der Ermordung meines Vaters wieder freundlich zueinander, besprachen wir, welche Diener am besten für Orestes’ Wohl sorgen würden. Ich konnte spüren, wie glücklich meine Mutter über die Aussicht auf seine Heimkehr war.
Als wir zum Zimmer zurückkehrten, in dem Aigisthos saß, stellten wir fest, dass ein weiterer Mann anwesend war, ein Unbekannter. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, dass wir störten, dass wir diesen Mann und Aigisthos bei einem wichtigen, vielleicht sogar intimen Gespräch unterbrochen hatten. Ich fragte mich, ob dieser ungehobelte und unansehnliche Fremdling ein heimlicher Geliebter oder Anhänger Aigisthos’ gewesen war, der jetzt zurückkam, um ihn daran zu erinnern, was er ihm schuldete.
Als wir eintraten, starrte Aigisthos zum Fenster; er hielt die Fäuste geballt, während der Besucher an eine Wand in der Nähe der Tür gelehnt stand. Als Aigisthos sich umdrehte, sah ich Angst in seinen Augen. Mit einem Nicken bedeutete er dem Mann, den Raum zu verlassen. Mir kam der Gedanke, dass ich vielleicht ebenfalls gehen sollte, dass dies ein Moment war, in dem Aigisthos und meine Mutter, was auch immer geschehen sein mochte, wahrscheinlich lieber unter sich gewesen wären. Doch statt zu gehen, setzte ich mich hin. Ich gab klar zu verstehen, dass es mehr als eine höfliche Bitte erfordern würde, um mich zu vertreiben. Ich würde zusammen mit meiner Mutter darauf warten, dass Aigisthos erklärte, was diesen Ausdruck der Angst bei ihm verursacht hatte.
Zu jener Zeit wurde meine Mutter in Aigisthos’ Gegenwart häufig mädchenhaft und albern, dann wieder, gelegentlich, launisch und sonderbar anstrengend. Nichts, was sie sagte, war von geringstem Interesse. Sie hatte gelernt, wie ein Dummkopf zu klingen. Die Hitze, irgendwelche Blumen, wie müde sie war, das Essen, die Saumseligkeit mancher ihrer Dienerinnen, die Unverschämtheit eines bestimmten Wächters — das waren ihre Themen. Oft fragte ich mich, was aus ihrer zwitschernden Stimme, der launigen Sprunghaftigkeit ihres Tons wohl geworden wäre, wenn man unumwunden erklärt hätte, dass der fragliche Wächter durchaus das Recht zu haben meinte, ihr gegenüber unverschämt zu sein, weil er bisweilen keuchend in Aigisthos’ Armen angetroffen wurde, und dass zwei, drei Dienerinnen, wie sie selbst wissen musste, deswegen langsam waren, weil sie entweder von Aigisthos schwanger waren oder bereits ein Kind von ihm hatten. Eine von ihnen hatte meines Wissens sogar Zwillinge bekommen.
Die Räume im Untergeschoss waren also ebenso sehr von Fruchtbarkeit erfüllt, wie die Korridore von viehischer Begierde. So bequem es für meine Mutter auch war, so zu tun, als ob nichts davon wirklich geschähe, als wäre sie irgendwie zu dumm oder zu zerstreut, um etwas zu bemerken, bestand doch kein Zweifel daran, dass sie sich, genauso wie ich, nichts entgehen ließ. Sie war nicht dumm. Sie war nicht zerstreut. Unter all ihrem künstlichen Lächeln und Schmeicheln war Wut, da war Stahl.
»Wer war dieser Mann, der hier war?«, fragte sie.
»Welcher Mann?«, fragte Aigisthos.
»Dieser unangenehme Mensch.«
»Nur ein Bote.«
»Normalerweise kommen Boten nicht hier herein. Und das ist auch gut so, denn dieser Mann hat einen Geruch in diesem Zimmer hinterlassen. Vielleicht liegt es daran, dass er sich seit einiger Zeit nicht gewaschen hat.«
Aigisthos zuckte die Achseln.
»Ach, warum ist bloß kein Wind?«, fragte meine Mutter die sie umgebende Luft. »Ich bin erschöpft.«
Aigisthos ballte die Fäuste noch fester zusammen.
»Ich habe so das Gefühl, dass es Neuigkeiten gibt«, sagte meine Mutter, wobei sie die Stimme hob, damit für Aigisthos erkennbar wäre, dass sie mit ihm sprach.
Als unsere Blicke sich kreuzten, zeigte sie auf Aigisthos, als ob ich ihn irgendwie zu einer Reaktion bewegen könnte.
Ich sah sie kalt an.
»Welche Botschaft hat der Bote überbracht?«, fragte sie lauter.
Jetzt herrschte ein Schweigen, das keiner von uns brechen zu wollen schien. Meine Mutter hatte ein unbestimmtes Lächeln im Gesicht; sie sah wie jemand aus, der in etwas Saures gebissen hatte und jetzt alles tat, um sein Unbehagen zu verbergen.
Es war mir bis dahin nie aufgefallen, aber in diesem Moment traf es mich wie ein Schlag, dass sie und Aigisthos einander nicht mehr leiden mochten. Bislang hatte ich bei ihnen ein freundliches Einverständnis vermutet, nach dem sie bei Tag zufrieden Kreise umeinander zogen und während derjenigen Teile der Nacht, in denen Aigisthos nicht frei im Palast umherschweifte, sich fest umschlungen hielten. Jetzt bemerkte ich eine kalte Distanz. Sie hatten einander durchschaut und die groben Züge einer üblen Wahrheit ausgemacht.
Es belustigte mich, wie natürlich sie das Ganze erscheinen ließen; es sah gar nicht danach aus, als könnte es jeden Moment auseinanderbrechen. Ich verstand das Dilemma der beiden. Für meine Mutter und Aigisthos, dachte ich, würde eine Trennung schwierig werden. Zu viel war geschehen.
Während ich schweigend mit ihnen zusammensaß, stellte ich mir vor, wovon ihre Träume erfüllt sein mussten und dass das Geräusch erstickter Schreie auf ihren Stunden des Schlafes ebenso finster lasten musste wie auf ihrer wachen Zeit.
Ich beobachtete sie eine Zeitlang. Ich betrachtete meine Mutter, die fortwährend ihre Augen auf- und zuschlug, während Aigisthos völlig regungslos blieb. Was ich da erlebte, war fast so privat wie die intimste Handlung. Ich sah sie zusammen, als wären sie nackt.
*
Ich strebe fort von ihrer Welt, der Welt der Sprache und der realen Zeit und bloßer menschlicher Triebe, hin zu einer Welt, die schon immer hier war. Jeden Tag flehe ich die Götter an, mir zum Erfolg zu verhelfen, ich flehe sie an, über meines Bruders Tage zu wachen und ihm zur Heimkehr zu verhelfen, ich flehe sie an, meiner Seele Stärke zu schenken, wenn der Zeitpunkt gekommen sein wird. Ich bin eins mit der Wachsamkeit der Götter, da ich ebenfalls wache.
Mein Zimmer ist ein Vorwerk der Unterwelt. Ich verlebe jeden Tag mit meinem Vater und meiner Schwester. Sie leisten mir Gesellschaft. Wenn ich zum Grab meines Vaters gehe, atme ich die Stille des Ortes ein, wo sein Leichnam liegt. Ich halte den Atem an, damit diese neue Luft meinen Körper füllt, ehe ich langsam wieder ausatme. Dann kommt mein Vater aus seinem Ort der Finsternis auf mich zu. Auf dem Weg zum Palast ist sein Schatten bei mir, schwebt dicht an meiner Seite.
Mit Vorsicht nähert er sich dem Palast. Er weiß, dass es dort Leute gibt, vor denen er sich selbst noch im Tod besser vorsehen sollte. Ich gebe keinen Laut von mir, bis er in diesem Raum eine Stelle gefunden hat, an der er sich niederlassen kann. Und dann, sobald ich ihren Namen flüstere, erscheint meine Schwester Iphigeneia, zunächst blass, wie eine leichte Störung in der Luft. Zaghaft nähern sie sich einander an.
Anfangs fürchtete ich um die beiden. Ich glaubte, meine Schwester wäre zu uns gekommen, um meinen Vater daran zu erinnern, wie sie gestorben war, um ihm vorzuhalten, wie ungerührt er ihrer Opferung beigewohnt hatte. Ich glaubte, sie wäre als Klägerin gekommen, um ihn in eine noch tiefere Finsternis zu stürzen als jene, in der er jetzt lebte.
Stattdessen strebte meine Schwester Iphigeneia — desto blasser und schöner in ihren Hochzeitskleidern, je stofflicher sie wurde — lautlos auf meinen Vater zu, wie um ihn zu umarmen oder festzuhalten, oder Trost bei seinem Geist zu suchen. Ich wollte sie fragen, ob sie sich nicht erinnerte. Ich wollte fragen, ob die Art ihres Todes aus ihrem Gedächtnis getilgt worden war, ob sie jetzt so lebte, als wären diese Dinge gar nicht geschehen.
Vielleicht bedeuten die Tage vor ihrem Tod und die Art und Weise, wie sie zu Tode kam, nichts an dem Ort, wo sie ist. Vielleicht halten die Götter die Erinnerung an den Tod unter Verschluss, wie ein eifersüchtig gehütetes Gut. Dafür lassen die Götter Gefühle frei, die einst rein oder lieblich waren. Gefühle, die einst wichtig waren. Sie gestatten der Liebe, von Belang zu sein, weil die Liebe den Toten nichts anhaben kann.
Sie nähern sich einander, mein Vater und meine Schwester, mit zögernden Bewegungen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie jetzt, da sie einander gesehen haben, mich weiterhin wahrnehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Lebenden sie überhaupt interessieren. Sie haben zu viele Bedürfnisse, die ausschließlich ihnen gehören; sie haben zu viel mitzuteilen.
Also spreche ich meinen Vater und meine Schwester nicht an, während ihre Geister anmutig durch das Zimmer schweben. Es genügt mir, sie bei mir zu haben.
Eine Frage allerdings hätte ich ihnen gern gestellt. Ich wollte wissen, wo mein Bruder war. Ich erriet Tage, an denen sie dafür ansprechbar waren; sie warteten auf meine Frage, aber sie wehten davon, noch ehe ich seinen Namen sagen konnte.
An einem dieser Nachmittage, kurz nach dem Treffen zwischen Aigisthos und dem Mann, ertönte plötzlich Geschrei auf dem Korridor und dann die schnellen Schritte von Männern. Und dann hörte ich die kreischende Stimme meiner Mutter.
Da mir klar wurde, dass meine Geistergäste diese Geräusche nicht wahrnahmen, rührte ich mich nicht von der Stelle und wartete. Ich hörte weitere laute Rufe von außerhalb des Palastes; dann kam ein Wächter an die Tür und teilte mir mit, meine Mutter wünsche, mich bei sich zu haben, da die Jungen, die entführten Jungen, nun endlich bald eintreffen würden und wir bereitstehen müssten, Orestes willkommen zu heißen.
Sobald der Name meines Bruders gefallen war, merkte ich, dass mein Vater und meine Schwester physisch greifbarer, fühlbar tätiger wurden. Ich spürte, dass mein Vater an meinem Ärmel zog, meine Schwester meine Hand ergriff. Und dann verhallten die Schritte der Wächter, und es trat wieder Stille ein.
Ich beschloss, den Namen meines Bruders selbst auszusprechen. Als ich ihn flüsterte und ihn dann noch einmal, lauter sagte, hörte ich eine Stimme etwas lebhaft erwidern, doch Worte konnte ich keine darin ausmachen. Meine Schwester legte ihre Arme um mich, wie um mich festzuhalten. Ich versuchte kurz, mich zu befreien, als mein Vater erneut an meinem Ärmel zog, um sich meine Aufmerksamkeit zu verschaffen.
»Mein Bruder kommt endlich zurück«, flüsterte ich. »Orestes kommt.«
»Nein«, sagte Iphigeneia. Ihre Stimme, oder eine Stimme, die der ihren glich, war fast laut.
»Nein«, wiederholte mein Vater mit leiserer Stimme.
»Ich muss los, meinen Bruder sehen, ihn willkommen heißen«, sagte ich.
Und dann hielt mich nichts mehr fest. Ich lächelte erleichtert bei dem Gedanken, dass mein Vater und meine Schwester sich vielleicht vor die Tore des Palastes begeben hatten, um dabei sein zu können, wenn mein Bruder erschiene. Ich rannte, so schnell ich konnte, den Korridor entlang und zur Tür. Männerstimmen erschallten im Gleichtakt von draußen.
Als ich Jubel und Pfiffe hörte, wollte ich bei meiner Mutter sein, sodass Orestes uns in diesen ersten Momenten zusammenstehen sähe, bereit, ihn zu Hause willkommen zu heißen.
Als der erstgekommene Junge emporgehoben und der Menge gezeigt wurde, ging der Jubel weiter, aber ich sah, dass die Leute schnell unsicher wurden. Manche blickten um sich, als ob sie feststellen wollten, ob noch jemand sah, was sie gesehen hatten — das bleiche, verängstigte Gesicht des Jungen, seine schreckhaften Augen, wie die Augen eines Tieres, das in einem Käfig gehalten worden war und sich jetzt vor dem Lärm der Freiheit nur umso mehr fürchtete.
Meine Mutter packte meine Hand. Sie spähte und schnappte dann nach Luft und stieß kleine spitze Schreie aus und schrie dann auf die Umstehenden ein, erklärte, Orestes müsse direkt zu ihr geführt werden, er dürfe nicht von anderen in die Luft gehoben werden, er sei der Sohn des Agamemnon und es dürfe mit ihm nicht so umgegangen werden, wie mit den anderen umgegangen wurde.
Da bemerkte ich inmitten der Menge Aigisthos. Sein Gesicht war vor Sorge angespannt, seine Stirn in Falten gelegt, seine Augen zu Boden geschlagen. Als er aufsah, kreuzten sich unsere Blicke. Da wusste ich, dass Orestes nicht unter denjenigen war, die man freigelassen hatte. Ich wusste, während weitere Jungen unter Willkommensjubel und Rufen der Erleichterung hochgehoben wurden, dass mein Bruder nicht unter diesen Jungen war, und als ich mich nach einigen Männern umsah, die meiner Mutter bange Blicke zuwarfen, begriff ich, dass es auch ihnen bewusst war. Vielleicht wussten es alle. Die Einzige, die es nicht wusste, war meine Mutter, die sich völlig in Hitze und Atem und Stimme und blinder Erwartung verausgabte.
Ich behielt Aigisthos im Auge, während die Jungen von ihren beglückten Verwandten heimgeführt wurden. Als die Menge sich verlief, blieb er mit zwei der Familien zurück, deren Söhne gleichfalls nicht heimgekehrt waren. Sie hatten sich um ihn geschart, und als es ihm gelang, ihre Ängste mit Versprechungen und Zusicherungen zu beschwichtigen, blieb er allein mit meiner Mutter zurück. Ich stand neben ihr, während sie ihn herrisch fixierte.
»Wo ist Orestes?«, fragte sie ihn.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er.
»Könntest du es herausfinden?«
»Ich hatte es so verstanden, dass er bei den übrigen Jungen war«, sagte er.
»Tatsächlich?«, fragte sie.
Ihr Ton war kalt, direkt, beherrscht, aber es schwang auch Wut in ihrer Stimme mit.
»Wer war also dieser Bote, der, der den Geruch hinterließ?«, fragte sie.
»Er kam, um mir zu melden, dass die Jungen auf dem Weg hierher waren.«
»Und dass Orestes nicht bei ihnen war?«
Aigisthos senkte den Kopf.
»Man wird ihn finden«, sagte er.
»Lass die Männer, die die Jungen begleiteten, zu mir bringen«, sagte meine Mutter.
»Sie gingen nicht den ganzen Weg mit«, sagte Aigisthos. »Nach einem Teil des Weges vertrauten sie die Jungen anderen Männern an.«
»Ordne an, dass sie verfolgt und wieder zurückgebracht werden«, sagte meine Mutter. »Tu es jetzt. Wenn sie hier sind, lass sie mir vorführen. Das geht jetzt lang genug so. Ich werde es nicht länger dulden. Ich lasse mich von dir nicht so behandeln.«
Ich hielt mich von meiner Mutter fern, aber aus den Geräuschen von Männern auf dem Korridor und der Schrillheit der Stimme, mit der meine Mutter Befehle erteilte, und der folgenden Stille, erschloss ich, dass sich rings um mich her erbitterte Konflikte abspielten. Ich schlich mich leise davon, zum Grab meines Vaters, aber selbst dort spürte ich, dass die Luft unnachgiebig war und keine noch so flehentlich geflüsterte Formel die Toten veranlassen würde, sich aus ihrem Reich herauszuwagen.
Als ich in dieser Nacht an die Tür des Zimmers meiner Mutter ging, hörte ich sie weinen, und ich hörte Aigisthos’ Stimme, der sie zu beruhigen versuchte, und dann, wie sie ihn fortschickte, ihm befahl, ihr aus den Augen zu gehen.
Am folgenden Morgen wurde ich von erneutem Geschrei außerhalb des Palastes geweckt. Abermals hörte ich die Schritte und Stimmen von Männern auf dem Korridor. Ich kleidete mich sorgfältig an. Mein Plan war, meine Mutter und Aigisthos aufzusuchen und mich zu ihnen zu setzen, und wenn auch nur, um die Bestätigung dessen zu erhalten, was einer der Wächter mir anvertraut hatte: dass Aigisthos bis vor Kurzem gewusst hatte, wo Orestes sich aufhielt, für ihn verantwortlich gewesen und davon ausgegangen war, dass er zusammen mit den anderen zurückkehren würde, dass Orestes und zwei weitere Jungen aber irgendwie seinen Schergen entkommen waren.
Theodotos, der Großvater Leandros’, eines der Jungen, die nach wie vor vermisst wurden, und der Vater des dritten Jungen, Mitros, der sich gleichfalls nicht in der Gruppe der Heimgekehrten befand, erschienen mit einigen ihrer Gefolgsleute und verlangten eine sofortige Unterredung mit meiner Mutter und Aigisthos.
Unter den Männern, die zurückgeblieben waren, als mein Vater in den Kampf zog, war Theodotos der angesehenste und der geachtetste. Er war häufig zum Palast gekommen, um sich nach dem Verbleib der entführten Jungen zu erkundigen, jedes Mal wieder mit der Erklärung, dass Leandros sein einziger Enkel war.
Ich grüßte diese beiden Männer, die auf dem Korridor warteten. Ich folgte ihnen ins Zimmer meiner Mutter und stellte mich in die Ecke und beobachtete, wie Theodotos, ohne Aigisthos eines Blickes zu würdigen, meiner Mutter erklärte, sie hätten von den heimgekehrten Jungen erfahren, dass Orestes mit zwei Freunden entkommen war, von denen einer Theodotos’ Enkel Leandros war und der andere Mitros’ Sohn, gleichfalls Mitros genannt. Die drei Jungen, sagte er, wären nur wenige Tage vor der Freilassung der anderen geflohen, nachdem sie einen der Wächter getötet hätten. Keiner hatte die leiseste Ahnung, wohin sie gegangen waren.
»Man wird sie finden«, sagte meine Mutter, als sei sie nicht weiter überrascht. »Ich habe veranlasst, dass man sie ausfindig machen wird.«
»Alle Jungen wurden geschlagen und misshandelt«, sagte Theodotos, während der andere Mann demütig neben ihm stand. »Manche von ihnen wären fast verhungert.«
»Damit haben wir nichts zu tun«, sagte meine Mutter.
Theodotos bedachte sie mit einem blassen Lächeln. Den Kopf neigend, wies er höflich darauf hin, dass er wohl verstehen konnte, warum sie so sprach, er ihr aber nicht glaubte. Dann verneigte er sich in meine Richtung. Doch weder er noch der andere Mann sahen Aigisthos an. Durch ihr Betragen gaben sie zu verstehen, dass er nicht einmal ihrer Verachtung würdig war.
Einige Tage später wurden die zwei Männer, die die Jungen den größten Teil des Weges begleitet hatten, zum Palast gebracht und wie Gefangene zum Zimmer meiner Mutter eskortiert. Man befahl ihnen, auf dem Korridor zu warten, während Männer, deren Söhne zurückgekehrt waren, sich zusammen mit Theodotos und Mitros in dem Zimmer versammelten. Als ich an den zwei Männern vorüberging, wandte ich mich um und sah sie mir genauer an; sie schienen starr vor Angst zu sein. Abermals trat ich in das Zimmer meiner Mutter und stellte mich in die Ecke.
Als die zwei Männer ihr vorgeführt wurden, hob meine Mutter augenblicklich die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Wir wissen, dass er mit den zwei anderen entkommen ist. Das brauchen wir nicht noch einmal zu hören. Ihr müsst sie nur finden, alle drei. Ihr müsst irgendeine Vorstellung davon haben, wohin sie geflohen sind. Ich will damit Folgendes sagen: Verfolgt sie, findet sie, bringt sie hierher. Nicht mehr und nicht weniger. Keine Ausflüchte. Und brecht sofort auf. Ich stehe wegen der Sache Todesängste aus.«
Einer von ihnen setzte zum Sprechen an.
»Ich will nichts von dir hören«, sagte meine Mutter. »Wenn du eine Frage stellen möchtest, dann frage Aigisthos beim Hinausgehen. Ich will meinen Sohn wiedersehen; das ist alles, was ich will. Ich will mir nichts anderes anhören müssen. Und ich will nicht, dass er oder seine Gefährten auf irgendeine Weise misshandelt werden. Wenn ich die geringste Klage von ihnen zu hören bekomme, werde ich euch eigenhändig die Ohren abschneiden.«
Sie entfernten sich demütig, gefolgt von Aigisthos. Während die anderen gleichfalls das Zimmer verließen, wartete ich noch; mir fiel auf, wie stolzgeschwellt meine Mutter war. Sie berührte zärtlich, sanft ihr Gesicht und fasste sich dann mit beiden Händen behutsam an die Haare. Sie warf selbstgefällige Blicke um sich, wie ein plumper Pfau. Sie saß da, als hätte sie ein großes Publikum vor sich und könnte jeden Augenblick alle hinausschicken oder irgendeinen Befehl geben, der mit seiner Aura von purer Willkür und scharfer Bedrohlichkeit alle beeindrucken würde. Als sie mich entdeckte, stand sie auf und lächelte.
»Es wird herrlich sein, Orestes wiederzuhaben«, sagte sie, während sie die Blicke weiter über eine imaginäre Volksmenge gleiten ließ. »Und vielleicht ist es besser so, dass er nicht zusammen mit den anderen gekommen ist und sich diesen pöbelhaften Empfang gefallen lassen musste. Ich werde dafür sorgen, dass er allein ankommt und die zwei anderen Jungen vielleicht ein, zwei Tage später folgen.«
Sie lächelte zuckersüß. Ich konnte es nicht erwarten, wieder in meinem Zimmer zu sein. Ich hatte den Verdacht, dass sie den Rest des Tages damit zubringen würde, Kleider anzuprobieren und prüfende Blicke auf ihr Gesicht und ihr Haar zu werfen, um bereit für den Auftritt zu sein, wenn es Zeit wäre, Orestes zu empfangen und von der Menge als die liebevolle Mutter gesehen zu werden, die ihren heimgekehrten Sohn willkommen hieß.
*
Während der folgenden Monate kam Theodotos oft mit Mitros, dem anderen Mann, zum Palast. Stets wurden beide förmlich empfangen, wobei mitunter auch andere als Zeugen der Begegnung hinzugezogen wurden, und meine Mutter erklärte dann wortreich und mit großer Autorität, man würde sich gedulden müssen. Obwohl Aigisthos immer zugegen war und, wenn es für sie Zeit zu gehen wurde, die Besucher hinausbegleitete, sahen sie ihn nicht ein einziges Mal an.
Meine Mutter und ich sprachen oft über Orestes und darüber, wo er jetzt sein mochte. Ich wusste, dass das Verhältnis zwischen ihr und Aigisthos prekär war, deswegen nahm ich meine Mahlzeiten allein ein und ging täglich zum Grab, und kehrte ich zurück, war der Geist meines Vaters dicht bei mir. Ich flüsterte auch mit meiner Schwester. Doch Iphigeneias Gegenwart und die meines Vaters waren blass; manchmal waren sie kaum da.
Ich spürte rings um mich Spannungen; es gab Tage, da war auf den Palastkorridoren niemand unterwegs, Tage und Nächte, wo meine Mutter ihr Zimmer nicht verließ und Aigisthos noch geräuschloser als sonst zu agieren schien. Eine Zeitlang empfingen sie niemanden, keine Menschenseele. Wagte ich mich auf den Korridor hinaus, standen die Wächter regungslos da wie in Stein verwandelte Gestalten.
Eines Morgens wurde ich von Männerstimmen geweckt. Theodotos und Mitros hatten zehn weitere Männer versammelt, die in einer Reihe hinter ihnen standen, und sie wiederum hatten Verwandte und Bedienstete zu ihrer Unterstützung mitgebracht. Ich ging an den Wächtern vorbei zum Palastvorplatz und sprach Theodotos an. Ich erfuhr, dass meine Mutter sich seit Längerem weigerte, ihn oder Mitros zu empfangen, und dass Aigisthos ihnen erklärt hatte, sie dürften nicht wieder zum Palast kommen, es sei denn, sie wurden gerufen.
»Sag deiner Mutter, wir verlangen, zu ihr vorgelassen zu werden«, sagte Theodotos, während Mitros und die anderen neben ihm standen und nickten.
Ich zeigte mit der Hand nach drinnen zum Zeichen, dass sie, wenn sie wollten, den Palast ungehindert betreten konnten. Ich wandte mich an die Wächter und sagte, meine Mutter habe den Wunsch geäußert, diese Besucher zu sprechen. Ich lief vorweg, während die Männer, angeführt von Theodotos und Mitros, die Korridore entlang zum Zimmer meiner Mutter marschierten, aber sie wurden schon bald von Wächtern aufgehalten, die aus allen Richtungen angelaufen kamen.
»Lasst mich durch!«, befahl ich den Wächtern.
In ihrem Zimmer stand meine Mutter am Fenster und Aigisthos saß. Sie starrten sich erbittert an, als ob gerade unerfreuliche Worte gefallen wären oder in Kürze fallen könnten. Sie drehten sich beide um und sahen mich an mit einer Mischung aus Tücke und grimmiger Vertraulichkeit.
»Sag den Männern, dass sie warten sollen«, sagte meine Mutter. »Ich werde sie bald empfangen, aber nur zwei von ihnen.«
»Ich bin nicht dein Laufbursche«, sagte ich.
Aigisthos stand auf und starrte mich an. Das machte mir Angst und ließ mich langsam zur Tür zurückweichen. Dann aber wurde ich mutig und durchquerte das Zimmer und stellte mich neben meine Mutter. Als Aigisthos für einen Augenblick hinaustrat, hörte ich die Stimmen der Männer lauter werden. Bald darauf drängten sie sich ins Zimmer, von Mitros angeführt, dem Theodotos folgte. Sie blieben vor meiner Mutter stehen.
Während Aigisthos erneut die Tür hinter sich schloss und sich leise in die Ecke zurückzog, nahm meine Mutter Platz, nachdem sie sich, wie jemand, der an vieles andere Wichtige zu denken hat, ans andere Ende des Zimmers begeben hatte. Als sie es sich bequem gemacht hatte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Theodotos.
»Wie könnt ihr es wagen, mich derart zu überfallen? Ist es wirklich so weit gekommen? Nach allem, was ich getan habe?«
Theodotos lächelte höflich. Er setzte gerade zum Sprechen an, als Mitros ihm ins Wort fiel.
»Nach allem, was du getan hast! Was hast du denn getan?«, fragte Mitros. Sein Gesicht war zorngerötet.
»Ich habe unermüdlich daran gearbeitet, die Rückkehr der drei Jungen zu ermöglichen«, sagte meine Mutter. »Als die ersten zwei Wächter, die wir entsandt, nicht zurückkehrten, schickten wir weitere nach, die zu unseren treusten —«
»Du hast die Jungen doch überhaupt erst entführt«, unterbrach Mitros sie. »Es geschah auf deinen Befehl hin. Und dazu auch noch deinen eigenen Sohn!«
Aigisthos ging wütend auf Mitros los, wurde aber von einem der anderen Männer weggestoßen. Meine Mutter hielt sich die Hand vor den Mund und starrte stur geradeaus. Als Theodotos zu sprechen versuchte, unterbrach ihn Mitros erneut.
»Und du, und nur du, hast deinen Ehemann ermordet«, sagte Mitros meiner Mutter ins Gesicht. »Es war deine Hand, die es getan hat. Einzig und allein deine Hand.«
Meine Mutter stand auf. Ein paar aus der Gruppe schlichen sich zur Tür und verließen rasch das Zimmer.
»Du hast uns gezwungen, uns zu setzen und zu essen, während sein Leichnam dalag, und dann so zu tun, als hätten wir dein Vergnügen nicht bemerkt. Du hast uns gezwungen, so weiterzuleben, als ob nichts geschehen wäre. Du hast uns durch Angst zum Schweigen gebracht.«
»Das genügt!«, fuhr Theodotos Mitros an.
»Wir sind hier, um zu sagen, dass wir eine kleine Armee auf die Suche nach den Jungen schicken wollen«, setzte Theodotos fort. »Wir versuchen schon seit geraumer Zeit, dich aufzusuchen, um das zu besprechen.«
»Du hast die Jungen entführt«, sagte Mitros und zeigte auf meine Mutter. »Du gabst den Befehl, um uns einzuschüchtern. Und es war deine Hand und nicht die eines anderen, die das Messer führte, das Agamemnon ermordete. Das geschah nicht auf deinen Befehl hin. Du selbst hast es getan! Du allein.«
»Meinen Freund plagt der Kummer um seinen Sohn«, sagte Theodotos. »Seine Frau ist von schwacher Gesundheit und hat vielleicht nicht mehr lange zu leben.«
»Mich plagt die Wahrheit!«, sagte Mitros. »Ich habe die Wahrheit gesprochen. Will jemand bestreiten, dass das, was ich sagte, die Wahrheit ist? Willst du es, ja, du?«
Er sah Aigisthos an, der nur mit den Achseln zuckte.
Als er seine Aufmerksamkeit auf mich richtete, lächelte ich fast. Was die Mägde in der Küche und die Wächter auf den Korridoren wussten, worüber jeder aber immer nur wagte zu flüstern, war hier zum ersten Mal klar ausgesprochen worden. Jetzt, da die Wahrheit im Raum stand, hatte ich keine Scheu, mich vor meine Mutter zu stellen und sie fest bei den Handgelenken zu packen und zu schütteln.
Als ich mich den Männern zuwandte, die noch da waren, bemerkte ich, dass manche von ihnen jetzt beklommen wirkten, andere aber entschlossene, furchtlose Mienen zeigten, als hätten sie aus Mitros’ Worten und dem, was ich getan hatte, neue Kühnheit geschöpft.
Und dann blickte ich zu Aigisthos. Er hatte wieder begonnen, mich anzustarren. Plötzlich von Grauen gepackt, wandte ich mich ab. Als ich wieder hinsah, war sein Blick härter und brennender geworden. Er starrte ausschließlich mich an, als wäre ich diejenige, die meine Mutter vor Zeugen offen der Entführung meines Bruders und der Ermordung meines Vaters bezichtigt hatte, als wäre ich diejenige, um die man sich würde kümmern müssen, sobald diese Männer gegangen wären.
»Du bist hysterisch. Was du zu sagen hast, interessiert mich nicht«, sagte meine Mutter zu Mitros, bevor sie sich zu Theodotos wandte. »Und keine Armee, gleich ob groß oder klein, wird ohne meinen Befehl von hier aufbrechen.«
»Wir müssen nach ihnen suchen«, sagte Theodotos.
»Wir haben Männer ausgesandt, die das Gelände kennen, und wir sehen ihrer Rückkehr entgegen«, sagte meine Mutter. »Treffen wir uns doch in ein paar Tagen wieder, wenn die Gemüter sich vielleicht etwas beruhigt haben. Und vielleicht könntest du deinen Freund bitten, seine Worte zurückzunehmen? Seine Lügen haben den empfindlichen Seelenfrieden meiner Tochter gestört. Meine Tochter ist nicht stark.«
Keiner der Männer wich von der Stelle.
Meine Mutter stand auf und erhob die Stimme.
»Ich bestehe darauf, dass ihr augenblicklich geht, und wenn du« — sie deutete auf Mitros — »dich noch einmal in die Nähe des Palastes wagst, lasse ich dich umgehend wegen Verbreitung gemeiner und böswilliger Lügen in Gewahrsam nehmen.«
»Du hast deinen eigenen Ehemann erstochen«, sagte Mitros. »Du hast ihn getäuscht. Und du hast deinen eigenen Sohn verschleppen lassen. Und meinen Sohn dazu und all die anderen. Dieser Mann da in der Ecke ist bloß deine Marionette.«
Wieder zeigte er auf Aigisthos.
»Ich werde die Wächter rufen, und sie werden euch entfernen«, sagte meine Mutter.
»Und deine Tochter!«, sagte Mitros.
»Meine Tochter?«
»Du hast sie zur Schlachtbank geführt.«
Meine Mutter stürzte sich auf ihn und versuchte, ihm ins Gesicht zu schlagen, aber er wich zurück.
»Du hast sie zur Schlachtbank geführt!«, sagte Mitros noch einmal. »Und die da« — er zeigte auf mich — »hast du wie einen Hund in einem Verlies eingesperrt gehalten, während du deine üble Tat verübt, deinen Mann ermordet hast.«
Er spuckte auf den Boden, während zwei Männer ihn aus dem Zimmer zerrten. Als Letzter ging Theodotos, der sich zuvor zu meiner Mutter wandte und flüsterte: »Könnte ich in ein paar Tagen vielleicht allein zu dir kommen? Das eben war eine Schande. Keiner von uns hatte erwartet, dass er so sprechen würde.«
Meine Mutter bedachte ihn mit einem schiefen, übertriebenen Lächeln.
»Ich glaube, du solltest deinen Freund nach Hause begleiten.«
Nachdem alle gegangen waren, bemerkte ich, dass Aigisthos’ Blick noch immer auf mir ruhte. Als meine Mutter sich umdrehte, wie um etwas zu sagen, floh ich aus dem Zimmer.
*
Später, als ich beinahe eingeschlafen war, spürte ich, wie jemand in der Tür stand. Ich wusste, wer es war. Ich hatte ihn erwartet.
»Komm nicht in mein Zimmer«, sagte ich.
Aigisthos lächelte und bewegte sich nicht von der Stelle.
»Du weißt, warum ich hier bin«, sagte er.
»Komm nicht in mein Zimmer«, wiederholte ich.
»Deine Mutter —«, begann er.
»Ich will von meiner Mutter nichts hören«, unterbrach ich ihn.
»Es ist schwierig für sie, dieses Warten, und diese Männer machen es ihr nicht leichter. Du darfst das, was du heute gehört hast, nicht vor ihr wiederholen. Sie hat mich gebeten, dir das auszurichten.«
»Ich soll nicht wiederholen dürfen, was alle gehört haben? Was am helllichten Tag gesagt wurde?«
»Außerdem, sollte dein Bruder zurückkehren, ist es entscheidend, dass du nichts von alledem mit ihm besprichst.«
»Wann kommt er zurück?«
»Keiner weiß, wo er ist. Aber er könnte jederzeit zurückkehren. Und es wird die Aufgabe deiner Mutter sein, ihn über das Vorgefallene zu informieren.«
»Ihn fehlzuinformieren, meinst du?«
»Habe ich mich klar ausgedrückt? Du darfst mit ihm über nichts von dem sprechen, was heute gesagt wurde.«
»Er wird es erfahren. Irgendjemand wird es ihm erzählen.«
»Bis dahin wird er sich an die Rolle seiner Mutter und an meine gewöhnt haben. Er wird wissen, dass wir uns um die Interessen aller kümmern. Alles Übrige ist vorbei und vergessen.«
»Du erwartest von ihm, dass er dir vertraut? Nach allem, was geschehen ist?«
»Warum sollte er mir nicht vertrauen?« Er lachte fast.
»Er wird dir mit Sicherheit ebenso viel Vertrauen schenken wie wir alle.«
»Wenn ich herausfinde, dass du dich deiner Mutter widersetzt hast, wirst du eine Seite von mir kennenlernen, die du möglicherweise noch nicht erlebt hast. Unter dem Verlies gibt es noch ein Geschoss.«
Er richtete den Finger nach unten, als ob ich nicht wüsste, wo das Verlies war.
»Und deine Mutter hat mich, wie gesagt, gebeten zu betonen, dass sie kein Wort darüber dulden wird, niemals, selbst dann nicht, wenn du und sie miteinander allein seid. Sie hat genug davon gehört.«
Er bestritt gar nicht erst, was Mitros gesagt hatte. Vielmehr versetzte sein Verbot, es selbst vor meiner Mutter zu wiederholen, die Sache lediglich in die Sphäre der unangenehmen, peinlichen Fakten, machte sie zu etwas, was den vorgeblichen Seelenfrieden meiner Mutter beeinträchtigen könnte.
Sie hatte meinen Vater ermordet und seinen Leichnam in der Sonne verwesen lassen. Sie hatte mich und meinen Bruder in die Finsternis geschickt. Aber sie wollte, dass man all das beiseiteschob, wie einen Teller nicht angerührtes, unappetitliches Essen.
Ich wollte zu ihr gehen und darauf bestehen, dass sie mir zuhörte, wenn ich ihr noch einmal klar und deutlich erzählte, was sie meinem Bruder und mir angetan hatte, damit wir nicht Zeugen der Tatsache würden, dass sie, ohne Erlaubnis der Götter, ohne den Rat auch nur eines der Ältesten eingeholt zu haben, beschlossen hatte, dass mein Vater sterben würde. Ich wollte dafür sorgen, dass sie mich hörte, wenn ich wiederholte, was Mitros gesagt hatte, sodass es selbst die Götter vernehmen könnten: dass sie allein das Messer geführt hatte, das meinen Vater tötete.
Ich rief sie mir ins Gedächtnis, wie sie nach der Opferung meiner Schwester zurückgekommen war. Ich erinnerte mich an ihr Schweigen und ihre Wutanfälle, ihre blitzartig wechselnden Stimmungen, ihren Eigensinn, ihren Hochmut.
Jetzt war öffentlich ausgesprochen worden, was sie war. Sie war eine Frau, die ein tückischer Hunger nach Mord verzehrte.
Als sie unbewegt darauf wartete, meinen Vater willkommen zu heißen, und Aigisthos sich im Palast versteckte, war es der Beginn einer langen Vorstellung, einer Vorstellung, die mit Lächeln begann und mit Schreien endete.
Begriff sie denn nicht, dass die Diener wussten, was sie getan hatte, dass die Diener sie gesehen hatten, wie sie meines Vaters blutigen Leichnam, die Augen voller Genugtuung, hinter sich ließ, und dass ihre Tat sich so rasch herumgesprochen hatte, wie das Feuer in einer trockenen, windigen Jahreszeit um sich greift?
Dennoch führten sie und Aigisthos von früh bis spät ihr Märchenspiel auf. Wenn sie uns nur daran hindern konnten, sie an ihre Taten zu erinnern, dann konnten sie ungestört in einer selbsterdichteten Welt leben. Sie brauchten das Schweigen, um weiter die Unschuldigen geben zu können, da es keine anderen Rollen gab, die sie hätten spielen können, ohne den Drang zu verspüren, über einander und über uns alle herzufallen. Die Rolle der Mörderin und Entführerin war, wie ich merkte, meiner Mutter ein paar Nummern zu groß. Für sie war das etwas, das lediglich einmal passiert war. Es war vorbei und durfte nicht wieder erwähnt werden. Ebenso wenig war die Rolle der Marionette und des Gehilfen einer Mörderin etwas, das Aigisthos spielen konnte, ohne bald gierig nach mehr Dramatik, mehr Blut, mehr Barbarei zu sein.
Während Aigisthos weiterhin dastand und mich mit unverhohlener Böswilligkeit betrachtete, erkannte ich, dass ich in großer Gefahr schwebte, solange ich nicht einwilligte, das zerbrechliche Töchterchen, die treuherzige Idiotin zu spielen, die das Grab ihres Vaters besucht und mit dessen Geist spricht, die Zeugin, die sich kaum noch an alles erinnern konnte, was sie gehört hatte.
Ich würde bei ihrem Unschuldsspiel so lange mitmachen, wie es eben erforderlich wäre. Ich würde meine Mutter dabei unterstützen, eine Frau zu spielen, die Kummer erlebt hatte und jetzt fast närrisch, verwirrt, harmlos war. Wir würden unsere Rollen gemeinsam weiterspielen, selbst wenn mein Bruder zurückkam.
»Wir werden dich im Auge behalten«, sagte Aigisthos. »Und sollte dein Bruder auftauchen, werden wir dich noch schärfer beobachten. Wann auch immer du Lust bekommen solltest, das Geschoss unter dem Verlies kennenzulernen, brauchst du es mir nur zu sagen. Es steht zu deiner Verfügung. Und wenn dir deine Sicherheit etwas bedeutet, tätest du gut daran, die Palastanlage auch weiterhin nicht zu verlassen. Wir möchten gern wissen, wo du dich aufhältst.«
Nachdem er gegangen war, sagte ich mir, dass ich, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen wäre, meine Mutter ermorden lassen würde. Und sobald sich die erste Gelegenheit dazu bot, würde ich auch Aigisthos ermorden lassen. Ich würde die Götter bitten, mir beizustehen, wenn es zu planen galt, wie dies zu bewerkstelligen wäre.
*
Einige Tage nach dem Zusammenstoß meiner Mutter mit Mitros und Theodotos wurde ich auf dem Korridor von einem der Wächter angehalten, nachdem ich meinen Vater zu seinem Grab zurückbegleitet hatte und dort geblieben war, bis sein Geist wieder zur Ruhe gefunden hatte.
»Ich habe eine Botschaft für dich«, sagte er. »Sie kommt von Kobon, Theodotos’ Sohn. Er möchte, dass du zu ihnen nach Haus kommst. Er sagt, es sei dringend. Er kann nicht herkommen. Er fürchtet sich. Alle fürchten sie sich. Du darfst nicht verraten, dass ich mit dir gesprochen habe.«
»Es ist mir verboten, den Palast und das Palastgelände zu verlassen«, sagte ich.
»Er würde nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre.«
Anfangs meinte ich, dass ich unmöglich gehen konnte, und fragte mich, ob es vielleicht eine Falle war, die Aigisthos mir gestellt hatte. Ich schwankte zwischen dem Entschluss, mich durch die Seitentür hinauszustehlen, die ich immer nahm, um zum Grab meines Vaters zu gehen, und der kühnen Vorstellung, den Palast durch das Haupttor zu verlassen und die Treppe hinunterzusteigen, wohl wissend, dass mich die Wächter beobachteten und dass Aigisthos schnell von meinem Ausbruch erfahren würde. Ich schwankte zwischen Augenblicken des Wagemuts, in denen ich bereit war, ihm die Stirn zu bieten, und der zitternden Einsicht, dass ich das Verlies kein zweites Mal ertragen würde. Ich beschloss, die Seitentür zu benutzen.
Am Grab meines Vaters vergewisserte ich mich, dass mich niemand beobachtete. Verstohlen schlich ich zwischen den Grabsteinen davon und fand den jetzt zugewachsenen alten Pfad, den Pfad entlang des ausgetrockneten Flusses, auf dem die Leute früher die Leichen zur Begräbnisstätte trugen. Nur noch wenige nahmen diesen Weg. Keiner war gern in diesen gespenstischen Gefilden.
Überall, selbst als ich an Häusern vorbeikam, in denen, wie ich wusste, ganze Familien wohnten, begegnete mir eine verschlossene Stille. Wie ich von Schatten zu Schatten huschte, war mir schnell klar, dass ich auf keinen Fall hätte hierherkommen dürfen. Ich war mir gewiss, dass man mich schon gesehen hatte. Während ich mich langsam dem Haus des Theodotos näherte, war ich mir sicher, dass irgendjemand bereits zum Palast gelaufen war und Aigisthos, um sich bei ihm lieb Kind zu machen, von meinen Aktivitäten unterrichtet hatte.
Selbst Theodotos’ Haus war verrammelt. Ich ging außen herum und klopfte ans Fenster. Endlich hörte ich jemanden flüstern. Während ich wartete, konnte ich weitere Geräusche aus dem Hausinneren hören, einen Riegel, der zurückgezogen wurde, und Schritte. Und dann eine Frauenstimme. Nach einer Weile erschienen Raisa, Kobons Ehefrau, und deren Mutter an der Tür und winkten mich herein. Mit gedämpfter Stimme forderten sie mich auf, ihnen in ein innen liegendes Zimmer zu folgen, in dem fast völlige Dunkelheit herrschte.
Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich, dass sich die ganze Familie in dem Zimmer versammelt hatte — Theodotos’ Ehefrau, Dakia, Raisas Eltern und ihre Schwester und deren Ehemann und deren beider Kinder, fünf oder sechs an der Zahl, um Vater und Mutter geschart, und dann noch Raisas und Kobons Tochter, Ianthe. Sie blickte mir aus einer Ecke des Zimmers entgegen, beide Hände zu Fäusten geballt und vor den Mund gehalten. Ich hatte sie zuletzt als Kind gesehen; jetzt war sie schon fast eine junge Frau.
»Was ist geschehen?«, fragte ich.
Keiner von ihnen sprach ein Wort, während eines der Kinder zu weinen begann.
»Wo ist Theodotos?«, fragte ich.
»Deswegen baten wir, dich sprechen zu können«, sagte Kobon. »Wir dachten, du würdest es vielleicht wissen.«
»Ich weiß nichts.«
»Die Männer, die Leandros mitgenommen hatten, dieselben Männer, sie kamen bei Nacht und nahmen meinen Schwiegervater mit«, sagte Raisa.
»Diesmal sprachen sie kein Wort«, sagte Ianthe und fing an zu weinen, »aber das letzte Mal, als sie meinen Bruder holten, da sagten sie, sie wären auf Befehl deiner Mutter hier.«
»Ich bin nicht meine Mutter«, sagte ich, und dann sah ich sofort, wie anklagend ihre Blicke waren. Ich dachte krampfhaft nach, was ich noch sagen könnte, damit sie begriffen, dass ich ihnen nicht helfen konnte. Allerdings hatte ich durch mein Nachdenken zu lange geschwiegen. Ich hatte zugelassen, dass die anklagenden Blicke mich irgendwie zeichneten.
»Könntest du sie fragen?«, sagte Kobon sanft. »Könntest du deine Mutter fragen?«
Mir war klar, dass es unwahr klingen würde, wenn ich ihnen schilderte, was für ein Leben ich führte und wie fern mir meine Mutter und Aigisthos standen. Diese Menschen suchten Hilfe; sie waren nicht daran interessiert zu erfahren, wie sehr ich mich fürchtete.
»Ich habe keinerlei Einfluss«, sagte ich. »Ich bin nur —«
»Und das ist noch nicht alles«, fiel mir Raisa ins Wort.
Ich fragte mich, ob sie noch ein weiteres Mitglied der Familie geholt hatten. Im Halbdunkel blickte ich von Gesicht zu Gesicht, ohne entscheiden zu können, ob irgendjemand fehlte.
»Was ist es?«, fragte ich. »Sag es mir.«
»Mitros«, sagte Kobon.
»Ihn haben sie ebenfalls abgeholt?«
»Wir wissen es nicht.«
»Ist er denn nicht bei sich zu Haus?«
»Es gibt kein Haus mehr«, sagte Raisa leise. »Ich gehe mit dir nach draußen und zeig dir, wo sein Haus stand.«
»Es ist gefährlich, nach draußen zu gehen«, sagte ihr Vater.
»Sie haben meinen Sohn mitgenommen, und sie haben den Vater meines Mannes mitgenommen«, erwiderte Raisa. »Wenn sie mich auch noch wollen, können sie mich haben.«
Sie kamen nicht auf den Gedanken, dass es auch für mich gefährlich sein könnte, nach draußen zu gehen, wozu Raisa mich jetzt mit einer Geste aufforderte. Mir fiel auf, wie stolz und kühn sie wirkte, sobald sie das Haus verließ. Sie glich einer Frau, die geradezu verlangte, in Gewahrsam genommen zu werden, einer Frau, die bereit war, sich aufzuopfern. Ich ging langsam und vorsichtig neben ihr her.
Als wir die Stelle erreichten, wo Mitros’ Haus gestanden hatte, war da nichts. Ein paar Bäume und Gestrüpp, das war alles. Nichts deutete darauf hin, dass da einmal ein großes Haus mit Garten und Ölbäumen ringsum gestanden hatte.
»Vor zwei Tagen war da ein Haus«, sagte Raisa mit lauter Stimme. »In dem Haus lebte eine Familie. Jeder, der hier vorüberkam, wusste, dass es das Haus von Mitros war. Jetzt ist da nichts mehr. Diese Bäume wurden während der Nacht gepflanzt. Gestern waren sie noch nicht da. Sie wurden von anderswo hergeschafft. Das Haus wurde in Schutt und Asche gelegt, und dann wurde der Schutt weggekarrt. Die Grundmauern wurden zugedeckt. Wo sind die Menschen? Wo ist Mitros’ Familie? Wo ist Mitros’ Gesinde? Jemand hat versucht, es so aussehen zu lassen, als hätten sie nie hier gelebt. Aber das ist nicht wahr! Ich erinnere mich an sie. Ich werde mich an sie erinnern, solange ich atme.«
Mittlerweile hatten sich Leute angesammelt und hörten zu. Dann wandte sich Raisa zu mir. Sie wollte mich als Zeugin haben. Da wusste ich, dass ich besser daran tun würde, von ihr wegzukommen, aber ich wollte nicht, dass sie glaubte, ich wäre mit meiner Mutter und Aigisthos im Bunde. Ich stand gleichsam allein da. Ich ließ meine Augen auf der Stelle verweilen, wo das Haus gestanden hatte. Ich senkte nicht den Kopf. Als ich Raisa ins Gesicht sah, fühlte ich mich durch sie gestärkt, so sehr, dass ich mich gern irgendwie zu ihr bekannt hätte. Aber ich war fest entschlossen, keinem dieser Menschen die Möglichkeit zu geben, Aigisthos und meiner Mutter irgendeine Äußerung von mir zu überbringen.
Ich wollte nur, dass Raisa wieder nach Hause ging, und ich selbst wollte auch nach Hause zurück.
»Wo ist mein Sohn?«, schrie Raisa der Menge zu. »Wo ist der Vater meines Mannes? Wo sind Mitros und seine Familie?«
Dann sah sie mich an.
»Wirst du deine Mutter fragen, wo sie sind?«
Sie forderte mich heraus, wartete auf eine Reaktion. Ich wusste, wenn ich mich wortlos abwandte, würde ich wie eine Komplizin meiner Mutter und ihres Geliebten erscheinen. Wich ich andererseits nicht von der Stelle, würde ich antworten müssen.
Ich rief den Geist meines Vaters an und den toten Körper meiner Schwester. Ich rief die Götter in der Höhe an. Ich flehte sie an, diese Frau zum Schweigen zu bringen, zu machen, dass sie verschwand.
Während ich Raisa anstarrte, schien es gerade meine Unschlüssigkeit zu sein, die sie verstörte. Ich versuchte, zum Ausdruck zu bringen, dass, wenn die Männer bei Nacht kommen und ein Haus verschwinden lassen konnten, wenn sie die zwei einflussreichsten Ältesten verschleppen konnten, es an Torheit grenzte, mich um Hilfe zu bitten.
Ich wollte aber auch betonen, dass ich im Besitz einer Macht war, die aus dem Grab und von den Göttern kam, einer Macht, die nicht leicht zu benennen oder zu überwinden war. Sie sollte wissen, dass ich, meiner Schwäche zum Trotz, irgendwann in der Zukunft den Sieg davontragen würde.
»Jetzt habe ich keine Macht«, sagte ich. »Aber es wird eine Zeit kommen. Meine Zeit wird kommen.«
Raisa drehte sich um und ging mit stolzem Schritt zurück zu ihrem Haus und ihren Angehörigen. Sie war schon ein Stück weit entfernt, als ich sah, wie ihr Körper sich krümmte, und ich ihre zerrissenen Schreie vernahm.
Ich füllte meine Lungen mit Atem und rührte mich nicht, um die gaffende Menge zu zwingen, sich zu verlaufen. Zurück würde ich, entschied ich, übers offene Feld gehen. Auf dem Weg schaute ich niemanden an, dem ich begegnete, aber als ich mich dem Palast näherte, sah ich Aigisthos’ Gestalt auf mich warten. Er lächelte. Dieselbe Verkörperung puren Charmes, die vor Jahren meine Mutter betört hatte. Als ich mich der Treppe näherte, machte er Anstalten, mir hinaufzuhelfen. Ich ließ zu, dass er mich als die fehlgeleitete Tochter meiner Mutter in den Palast führte und die Korridore entlang zu meinem Zimmer.
*
Wie die Jahre vergingen und meine Hoffnung, meinen Bruder je wiederzusehen, zu schwinden begann, erkannte ich, dass ich als Frau ohne Ehemann machtlos war und auch bleiben würde. Alles, was ich besaß, waren meine Geister und meine Erinnerungen. Selbst mein entschlossener Wille würde ohne Gewicht sein, würde nichts fruchten.
Ich beobachtete die Männer, die an den Tisch meiner Mutter kamen, die Männer, die sie unter meines Vaters Soldaten ausgewählt hatte, damit sie die Orte verteidigten, die mein Vater erobert hatte. Von Zeit zu Zeit kamen sie, um sich mit ihr zu beraten, und blieben dann wochenlang.
An den Abenden, an denen im Speisesaal Gastmähler für sie gegeben wurden, nahm ich eine lüsterne Wachsamkeit wahr, da jeder Gast wusste, dass gleich hier draußen einst der nackte Leichnam meines Vaters neben dem einer schönen Frau in roten Kleidern gelegen hatte, die er aus dem Krieg mitgebracht hatte.
Die Gäste saßen jetzt der Frau gegenüber, die ihn ermordet hatte, und zwar, wie man wusste, ohne die Erlaubnis der Götter. Dies verlieh meiner Mutter eine seltsame, bösartige Macht. Eine zunehmend glühende Ausstrahlung. Sie beherrschte den Raum, und doch schien das niemanden zu stören; vielmehr waren alle erregt, befeuert, gesprächig. Der Tod und all seine Dramatik erfüllten sie mit einer Befriedigung, die ganz bis zum Ende des Abends vorhielt.
Anfangs glaubte ich, dass die Zeit und die Umstände jeden dieser Männer zur Erkenntnis führen würden, wie viel Macht in seine Hände gelangen konnte, sollte ich, deren Schwester ja tot und deren Bruder verschollen war, seine Ehefrau werden.
Ich befahl den Näherinnen, die Garderobe meiner Schwester Iphigeneia zu sichten, die als die Lieblingstochter stets eine kostbarere als ich besessen hatte, und festzustellen, was nach all den Jahren davon noch übrig war. Wir wählten ein paar Kleider und Roben aus, die sich vielleicht für eine weniger schöne Schwester umändern ließen.
Anfangs trug ich, was sie für mich fertigstellten, zu keinem der Gastmähler, doch ich probierte die Sachen häufig am Nachmittag an und trug sie, wenn ich allein war.
Saß ich dann an der Festtafel, stellte ich mir vor, ich trüge die Roben meiner Schwester, mein Haar sorgfältig aufgewunden und mein Gesicht geweißt, die Augen schwarz umrandet. Ich stellte mir vor, wie es wäre, beachtet zu werden und Eindruck zu machen.
Ich würde schweigen, sagte ich zu mir, sobald ich diese neuen Kleider trug. Ich würde lächeln, aber nicht zu sehr, und ich würde so zufrieden erscheinen, als besäße ich ein inneres Licht.
Ich betrachtete die Gäste und träumte, wie leicht es geschehen könnte, dass einer von ihnen bei uns blieb, und wie wir dann heimlich unseren Bund schließen würden. Ich malte mir aus, wie bestürzt meine Mutter und Aigisthos sein würden, wenn ich mir einen Ehemann nahm.
Wir würden uns treu ergebene Wächter haben und Quellen des Reichtums, die ausschließlich uns gehörten. Und wir würden den rechten Augenblick abpassen oder schnell handeln, gerade so, wie es uns richtig erschien. Wir würden tun, was ich allein nicht zu tun vermochte.
Ich würde meinen Abend wählen. Ich würde mich zwischen einem der kleineren Festessen, die meine Mutter abhielt, oder einem größeren Anlass entscheiden, vielleicht der Feier eines jüngsten Sieges, eines neuen Beuteschatzes.
Als Nachricht kam, dass an einem der entlegeneren Orte ein Aufstand ausgebrochen war und dass die Aufrührer wochenlang ausgehalten und Mord und Totschlag gefrönt, die Frau eines alten Bundesgenossen meines Vaters erschlagen und dessen Kinder niedergemetzelt hatten, erfuhren wir bald, dass der Krieger selbst, Dinos, und eine kleine Schar seiner Kämpfer das Massaker überlebt und zu guter Letzt die marodierenden Feinde besiegt hatten, sodass der Frieden wiederhergestellt worden war. Viele Hinrichtungen waren vollstreckt worden.
Die Vorstellung, dass Dinos, der so viel verloren hatte, ihr unerschütterlich treu geblieben war, bereitete meiner Mutter große Freude. Sie schickte ihm gut ausgerüstete Truppen zu Hilfe und dazu viele persönliche Geschenke. Seinem Vater, der nicht weit vom Palast wohnte, gewährte sie Land. Und sie entsandte einen von Aigisthos’ engsten Verbündeten, damit er Dinos’ Posten übernähme, sollte dieser den Wunsch haben, heimzukehren, um seinen Vater zu sehen und im Siegesglanz empfangen zu werden. Sie sprach oft von seiner Tapferkeit, davon, wie mannhaft schön er sei und wie sehr er bewundert werde.
Da erkannte ich, dass solch ein Ehemann mich frei machen würde. Er würde stark und listig genug sein, um meiner Mutter und Aigisthos zu widerstehen, und da sich seine Taten herumgesprochen hatten, würde sein Name jedem bekannt sein. Sollte er den Wunsch haben, sich wieder zu vermählen, würde es ihm niemand missgönnen. Und sollte er den Wunsch haben, die Tochter Agamemnons zu heiraten, neben dem er oft gekämpft hatte, dann würde das nur natürlich erscheinen, fast wie etwas, das ihm gebührte.
Anfangs, dachte ich, würden wir vorsichtig sein. Er konnte meine Mutter und Aigisthos beraten. Und langsam würde er dann, nach und nach, erkennen, wie verderblich sie beide waren, dass sie nach Blut stanken, und wie notwendig es war, meine Mutter und ihren Geliebten an einen Ort zu befördern, an dem sie keinen weiteren Schaden anrichten konnten.
Es begannen die Vorbereitungen für Dinos’ Empfang. Man war übereingekommen, dass ihm zu Ehren ein großes Schauspiel auf den Straßen veranstaltet werden würde, und dem würde ein Festmahl folgen.
Ich beschloss, mir dafür von der Näherin eine prächtige Robe anfertigen zu lassen, die in Schnitt und Stoff einem Kleid ähneln sollte, das meine Schwester einmal getragen hatte. Jeden Tag kam eine Magd, um mein Haar neu zu frisieren, und eine andere Dienerin kam mit Salben und süßem Wasser, die meine Haut weicher machen sollten. Als das Kleid nach ein paar Wochen fertig war, kamen die Näherin und ihre Gehilfinnen und die übrigen Dienerinnen in mein Zimmer und sahen mir zu, wie ich mich fertig machte.
Als ich mit den Geistern meines Vaters und meiner Schwester allein war, legte ich das Kleid an und zog mein Haar straff zurück, sodass mein Gesicht gut zu sehen sein würde. Während ich stolz im Zimmer umherging, spürte ich, dass ich in ihrer Obhut stand. Vor dem Fest für Dinos brauchte ich ihre Zustimmung.
Vor dem Schauspiel und dem Festmahl verbrachte Dinos mehrere Tage im Palast. Er wurde von meiner Mutter und Aigisthos, wie man mir sagte, zu formellen Besprechungen empfangen, über Nachschub an Truppen und sonstige Hilfsmittel, die er benötigte, um gewährleisten zu können, dass es zu keinen weiteren Aufständen käme. Außerdem fand für ihn und seinen Vater ein Essen im kleinen Kreis statt, bei welchem Anlass er sich, wie mir eine der Dienerinnen berichtete, für untröstlich über den Verlust seiner Frau und seiner Kinder erklärte. Tränen aber vergoss er keine. Er wahrte durchweg eine gewisse Distanz, wie ein Befehlshaber. Er war schön, erzählte mir eine meiner Mägde, einer der schönsten Männer, die sie je gesehen hatte.
Da ich meine Mutter während dieser Tage nicht sah, ließ sie mich durch eine ihrer Dienerinnen wissen, dass es ihr wenig gefallen würde, wenn ich dem Gastmahl fernbliebe, wenngleich es aus Sicherheitsgründen ratsamer wäre, davor nicht zum Schauspiel auf die Straßen zu gehen.
Ich stellte mir vor, den großen Speisesaal erst in dem Moment zu betreten, da alle anderen schon da wären. Ich sah die Tür sich öffnen, und ich hörte die Stille, die wenigen Sekunden, in denen keiner zu sprechen schien, in denen es ein Leichtes wäre, ihre Aufmerksamkeit zur Tür hinzulenken. Ich sah Dinos’ Vater auf mich zukommen, mir Platz schaffen, während ich mit ihm auf die Haupttafel zuging. Und dann stellte ich mir vor, wie sich Dinos selbst umdrehte.
Den ganzen Nachmittag lang beschäftigten sich die Mägde mit meinem Haar und meiner Haut. Das Kleid wurde zu einer weiteren letzten Änderung mitgenommen und dann wieder zurückgebracht. Eine Stunde bevor die Gäste sich einfanden, war ich bereit. Sobald die Striche um meine Augen gezogen worden waren, forderte ich die Näherin und die Dienerinnen auf, mich allein zu lassen, damit ich mich sammeln könnte. Einer Dienerin aber befahl ich, in der Nähe meines Zimmers zu bleiben, sodass sie mir Bescheid geben könnte, wenn die Gäste vollzählig da wären.
Langsam beschwor ich den Geist meiner Schwester herauf. Ich berührte mein Gesicht, als wäre es das ihrige. Ich flüsterte zu meinem Vater. Als die Dienerin winkte, war ich bereit. Ich schritt allein den Korridor entlang zum Speisesaal. Ich stand still, während der Diener die Flügeltür öffnete, und dann trat ich allein in den Saal, ohne jemanden anzusehen, aber bereit, jeden Blick, der mich streifte, zu fesseln.
Das Erste, was ich hörte, war die Stimme meiner Mutter. Sie erzählte gerade, wie sie, sobald sie von dem Aufstand erfahren, die Götter angerufen und dann, auf deren Rat hin, ihre verlässlichsten Soldaten ausgesandt hätte, damit sie Dinos zu Hilfe eilten und die Revolte geschwind und gründlich niederschlügen. Von den Göttern sprach sie leichthin, fast respektlos, und das, dachte ich, hätte jeder im Raum bemerken können.
Und dann sah sie mich. Ich stand noch immer an der Tür. In der Sekunde, als ich die Augen hob, trafen sich unsere Blicke. Sie verstummte.
»O nein«, sagte sie, mit lauterer Stimme als zuvor. »Ich hatte schon die ganze Woche lang gehört, dass bei Elektra etwas im Gange war, aber das hätte ich niemals erwartet.«
Sie schob Gäste beiseite und kam auf mich zu, aber es war doch noch immer viel Raum zwischen uns, so viel, dass sie schreien musste, damit ich sie verstand.
»Und wessen Einfall war das?«, fragte sie.
Ich warf kurze Blicke in die Runde; man starrte mich an. Niemand war in meiner Nähe. Die Tür hinter mir war geschlossen worden.
»Ach, setz dich schon hin«, sagte sie, »bevor zu viele Leute dich so sehen. Aigisthos, kannst du Elektra an den Tisch führen und ihr Gesellschaft leisten? Oder such jemand anderen, der’s macht.«
Aigisthos flüsterte mit einem seiner Vertrauten, der mich daraufhin an den Tisch begleitete. Ich saß zwischen ihm und einem seiner Freunde und schaute weg oder starrte stur geradeaus, während sie müßige Bemerkungen austauschten. Wiederholt richtete ich den Blick auf Dinos, aber er nahm von meiner Anwesenheit keinerlei Notiz. Es wurden viele Speisen aufgetischt und danach schöne Reden. Der Wein floss in Strömen. Für die meisten Gäste war die Erinnerung an meinen Vater, wie es schien, längst verblasst. Aber nicht für mich. Während ich meine Mutter und Dinos beim Plaudern beobachtete, während ich die Augen meiner Mutter aufblitzen sah, als sie ihm irgendwas erzählte, während ich zusah, wie sie ihren ganzen Charme verströmte, während sie ihm lauschte, dachte ich an meinen Vater, bis er wahrhaftiger war, wirklicher in diesem Raum gegenwärtig als irgendeiner dieser Leute, die meiner Mutter und ihrem Liebhaber und ihrer gemeinsamen Macht hörig waren.
Am Ende des Abends schaffte ich es, mich unter andere zu mischen, die gerade im Aufbruch waren. Und so bemerkte mich niemand, als ich zu meinem Zimmer zurückkehrte.
Und dann wollte ich nur eins: ein Zeichen von meinem Vater und meiner Schwester, dass mein Bruder noch am Leben war und dass er zurückkommen würde. Aber ich wartete mit dieser Frage, ich wartete, bis ich sicher war, bis ich wusste, dass das Aussprechen seines Namens nicht bloß eine Erschütterung der Luft bewirken würde.
Eines Tages flüsterte ich ihn. Ich sprach den Namen aus. Anfangs war Stille. Mit einem weiteren Flüstern bat ich sie beide, wenn er noch lebte, mir ein Zeichen zu geben. Ich stemmte mich gegen die Tür, um sicherzugehen, dass wir nicht gestört werden würden.
Doch es kam nichts, kein Zeichen.
Später ging ich wieder an das Grab meines Vaters. Ich war sicher, dass der Geist meiner Schwester noch immer bei mir war. Die Luft war gewittrig, das Licht violett. Während ich am Grab wartete, versuchte ich, dem Geist meines Vaters näherzukommen, als ich jemals gewesen war. Und da geschah es, als der Regen mit schweren Tropfen einsetzte, dass ich erkannte, was geschehen würde.
Orestes war am Leben. Das wusste ich nun. Doch er war irgendwo anders, in einem Haus, in dem er in Sicherheit, in dem er geschützt war. Es würde eine Weile dauern, ehe er zurückkäme. Aber dieses Grab war der Ort, an dem ich ihn wiedersehen würde.
Er würde kommen, erfuhr ich, er würde rechtzeitig kommen. Ich brauchte lediglich zu warten.