Die Geistliche Nordwest-Bewegung

Ich versichere euch: Ein Weizenkorn muss in die Erde ausgesät werden. Wenn es dort nicht stirbt, wird es allein bleiben – ein einzelnes Samenkorn. Sein Tod aber wird viele neue Samenkörner hervorbringen – eine reiche Ernte neuen Lebens. Wer sein Leben in dieser Welt liebt, wird es verlieren. Wer sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es zum ewigen Leben bewahren. – Johannes 12,24.25

Die Mitglieder der Gruppe „Back to Jerusalem“, die sich am Nordwest-Bibelinstitut in der Provinz Shaanxi kennenlernten, waren nicht die einzigen chinesischen Gläubigen, die Gott berief, um den muslimischen Völkern im Westen zu dienen. Sie waren noch nicht einmal die ersten. Wie es scheint, gebührt diese Ehre einer Gruppe, die sich „Jesusfamilie“ nannte und sich in den 1920er-Jahren bildete.

Diese Jesusfamilie wurde 1921 in der Provinz Shandong von einem Mann namens Jing Dianying gegründet. Ihre Mitglieder waren überzeugt, dass sie all ihre Habe verkaufen und ihren Besitz unter den anderen Familienmitgliedern verteilen sollten. Das Motto der Gruppe fasst in fünf Worten ihre Hingabe an Jesus und ihre Vorstellung von einer schlichten Lebensweise zusammen: „Aufopferung, Verzicht, Armut, Leiden, Sterben“.

Die Jesusfamilie wanderte von Ort zu Ort und predigte in den Städten und Dörfern das Evangelium. Ihr Beispiel eines gemeinschaftlichen Lebens und ihre tiefe christliche Liebe versetzte viele Betrachter in Erstaunen. Es zog Menschen an, die nach Antworten für ihr Leben suchten, aber auch diejenigen, die obdachlos, verarmt und verzweifelt waren. Viele Blinde und Bettler schlossen sich der Jesusfamilie an und fanden ewiges Leben in Christus.

Während ihre Zahl beständig wuchs, erlitt die Jesusfamilie schreckliche Bedrängnisse. Wenn diese wandernde Gemeinschaft in eine neue Stadt kam, passierte es häufig, dass alle Einwohner aus ihren Häusern kamen, um sie zu schlagen, zu verhöhnen und zu demütigen. Diese Gegenwehr schreckte sie jedoch nicht ab. Und wenn sie dann das Evangelium predigten, schien es immer ein paar Leute zu geben, die bereit waren, alles aufzugeben, was sie besaßen, um Jesus nachzufolgen.

Die Jesusfamilie hatte als Erstes die „Back to Jerusalem“-Vision. Auf ihren Fußmärschen quer durch China trugen ihre Mitarbeiter Körbe mit Nahrungsmitteln und lebensnotwendigen Dingen bei sich. In den späten 1940er-Jahren gab es etwa 20.000 chinesische Gläubige in mehr als hundert verschiedenen Jesusfamilien-Gruppen in ganz China, sodass es möglich wurde, viele verschiedene Regionen mit dem Evangelium zu erreichen. Einige Gläubige gingen in die Mandschurei, einige in die Innere Mongolei, wieder andere nach Südchina. All diese Gruppen betrachteten sich als Teil der „Back to Jerusalem“-Vision. Sie unterstützten durch Gebet und praktische Hilfe die evangelistische Hauptgruppe, die zu Fuß nach Westen zu den muslimischen Nationen unterwegs war, um in den Gebieten entlang ihres Weges das Reich Gottes aufzubauen.

Jedoch scheint die Jesusfamilie nach einiger Zeit ihre Orientierung verloren zu haben. Sämtliche Entscheidungsgewalt lag bei dem einzigen Leiter, Jing Dianying. Infolgedessen wurde die „Back to Jerusalem“-Vision extrem auf ihn ausgerichtet und von den meisten einfachen Gläubigen nicht mitgetragen. Es kam zu einer Spaltung, aus der eine neue Gruppe hervorging, die als Geistliche Nordwest-Bewegung bekannt wurde. Die chinesischen Gläubigen von heute deuten diese Spaltung auf unterschiedliche Weise. Manche finden sie schlecht, während andere glauben, dass der Herr dahinter stand, weil die Vision zu schwammig geworden war und ein neuer Anfang gemacht werden musste.

Auf jeden Fall hat Gott gegen Ende der 1930er-Jahre eine neue Generation von Gläubigen erweckt, die gewillt waren, alles aufzugeben, um diesen Ruf Gottes erfüllt zu sehen. Sie sagten: „Lasst uns aufstehen und das Kreuz zu den Nationen tragen, in denen Gott unbekannt ist. Lasst uns im Namen Jesu vorangehen, alles aufgeben, was wir haben, selbst unser Leben, wenn es nötig ist, damit Jesu Name unter allen Heiden verherrlicht wird.“ Die meisten der ursprünglichen Leiter dieser Gruppe, einschließlich ihres Gründers, Zhang Guquan, stammten aus der Provinz Shandong.

Die Strategie der Geistlichen Nordwest-Bewegung war einfach nur, das Evangelium zu verkünden im Glauben, dass Jesus bald wiederkommen würde. Sie verwendeten keine Mühe darauf, örtliche Gemeinden zu gründen, sondern konzentrierten sich darauf, zu evangelisieren und Seelen zu gewinnen.

Dennoch berief Gott in seiner Gnade viele neue Gläubige, und es gibt davon bis zum heutigen Tage viel Frucht. Sie gewannen unter vielen ethnischen Gruppen Menschen für Christus, einschließlich muslimischer Uiguren, Hui (eine mit den Han-Chinesen verwandte Volksgruppe mit überwiegend muslimischem Glauben – Anm. des Übersetzers) und Kasachen.

Man muss wissen, dass dies keine große geistliche Armee war, die durch das Land marschierte. Die Leitung bestand nur aus vier oder fünf Personen sowie einem Dutzend Mitarbeiter. Aber trotz ihrer geringen Zahl war die Geistliche Nordwest-Bewegung sehr effektiv, weil sie auf ihre Vision ausgerichtet war. Sie war wie eine scharfe Pfeilspitze, und die Neubekehrten, die sie hinterließen, stellten den Schaft des Pfeils dar.

Neben der Evangelistengruppe „Back to Jerusalem“ und der Geistlichen Nordwest-Bewegung gab es in den 1940er-Jahren mehrere kleinere Initiativen unterschiedlicher chinesischer Gemeindegruppen. Einige erreichten tibetische Gebiete, andere die Minderheiten in Südwestchina, wieder andere die muslimischen Gebiete. Aber trotz unterschiedlicher Herkunft und Arbeitsbereiche betrachteten sich all diese Gruppen als Teil der größeren Vision, das Evangelium zurück nach Jerusalem zu tragen.

Phyllis Thompson, die als Mitarbeiterin der China-Inland-Mission in Chongqing stationiert war, schrieb 1949:

Das, was mich am meisten beeindruckt hat, war der seltsame, unerklärliche Drang einer Anzahl unterschiedlicher chinesischer Gruppen von Christen, im Glauben vorzudringen und die Botschaft nach Westen zu tragen. Ich weiß von mindestens fünf verschiedenen Gruppen, die keine Verbindung untereinander haben, die jeweils ihr Zuhause im Osten Chinas verlassen haben, um in den Westen zu gehen, und die dafür praktisch alles aufgaben. Einige sind in Xikang (heute West-Sichuan), einige in Gansu, einige mitten in der großen nordwestlichen Provinz Xinjiang. Es erscheint wie eine Bewegung des Heiligen Geistes, die unaufhaltsam ist. Bemerkenswert daran ist, dass sie nicht miteinander verbunden sind und in den meisten Fällen nichts übereinander zu wissen scheinen. Dennoch sind alle überzeugt, dass der Herr sie an die westlichen Grenzen gesandt hat, um das Evangelium zu predigen, und sie gehen mit einem starken Gefühl der Dringlichkeit aufgrund der Kürze der Zeit und der nahe bevorstehenden Rückkehr des Herrn.37

Simon Zhao

Wir werden die Geschichte eines Mannes erzählen, der, obwohl er erst Anfang dreißig war, zum Leiter der Predigt- und Evangelisierungsarbeit in der Geistlichen Nordwest-Bewegung eingesetzt wurde.

Simon Zhao (der ursprünglich Zhao Haizhen hieß) wurde am 1. Juni 1918 geboren und stammte aus Shenyang in der Provinz Liaoning im Nordosten Chinas. Sein Vater starb, als Simon ein kleiner Junge war, und seine Mutter war gezwungen, die Kinder allein großzuziehen. Sie war eine schöne Frau. Immer wieder kam der Dorfvorsteher zu ihr nach Hause und versuchte, sie zum Ehebruch zu überreden. Er machte ihr teure Geschenke, wurde aber von Mal zu Mal frustrierter, wenn sie seine Annäherungsversuche zurückwies. Schließlich hatte er ihren Widerstand satt und vergewaltigte sie.

Als der kleine Simon herausfand, was seiner geliebten Mutter angetan worden war, war er sehr aufgebracht. Er sagte seiner Mutter, wenn er groß wäre, würde er Kreisvorsteher werden, sodass er den Mann zur Rechenschaft ziehen könne für das Unrecht, das er ihr angetan hatte. Seine Mutter antwortete: „Das hat keinen Zweck. Die Kreisvorsteher sind genauso korrupt wie dieser böse Dorfvorsteher.“

„Dann werde ich einen höheren Rang als die Kreisvorsteher haben!“, rief Simon aus.

„Das hat keinen Zweck. Die Provinzvorsteher sind genauso korrupt wie die Kreisvorsteher“, antwortete seine Mutter.

„Dann werde ich ein höherer Vorsteher als die Provinzvorsteher!“

„Noch einmal, mein Sohn, es hat keinen Zweck. Der Herrscher ist genauso.“

Simon war todunglücklich und zornig und fragte seine Mutter: „Wer ist denn mächtiger als der Herrscher? An wen können wir uns wenden, um Gerechtigkeit zu bekommen?“

Seine Mutter antwortete: „Nur Gott kann Gerechtigkeit verschaffen, mein Sohn.“

„Dann werde ich ein Gott werden!“, beschloss der eifrige kleine Junge.

Die Wunde in Simons Herzen heilte nicht. Als Halbwüchsiger versuchte er sich als Schriftsteller und benutzte sein Können, um das Verbrechen des Dorfvorstehers in der Lokalzeitung zu enthüllen. Doch sein Zorn loderte weiter in ihm.

Viele Jahre später begegnete Simon Zhao Gott. Er stellte fest, dass er den Mann, der seiner Mutter Gewalt angetan hatte, nun nicht mehr hasste und dass seine Rachegedanken verschwunden waren. Seine Lebensziele hatten sich verändert und er wollte jetzt nur noch das Evangelium verkünden und die Herrlichkeit Gottes bekannt machen.

Während eines Gebetstreffens in Shenyang gab der Herr Simon zum ersten Mal eine Vision. Es war Winter und sehr kalt. Schneewehen türmten sich so hoch vor den Türen des Hauses, in dem die Gläubigen beteten, dass diese nicht heimgehen konnten. Während drei Gläubige über einer Karte von China beteten, lenkte der Herr ihre Gedanken auf die nordwestliche Provinz Xinjiang. Sie legten ihre Hände auf diesen Teil der Karte Chinas und beteten mit großer Vollmacht. Vor diesem Tag hatten sie noch nie ernsthaft daran gedacht, im entlegenen Nordwesten zu dienen.

In Nanjing traf Simon später andere Christen, die genau dieselbe Vision von Gott erhalten hatten, das Evangelium nach Xinjiang und in die Regionen jenseits davon zu tragen. Unter ihnen war eine junge Frau namens Wen Muling, die später Simons Ehefrau wurde. Sie entstammte der Familie eines kaiserlichen Beamten der Qing-Dynastie.

Drei Teams brachen auf, um die Ernte einzubringen. Nachdem die erste Gruppe Xinjiang erreicht hatte, traf auch Simon Zhaos Gruppe dort ein. Später, nach dem Aufkommen des Kommunismus in China 1949, machte sich eine dritte Gruppe unter der Leitung von Zhu Congen aus Zibo in der Provinz Shandong zu Fuß auf den Weg nach Xinjiang.

Die Gruppe, die von Simon Zhao und seiner Frau geleitet wurde, reiste von Nanjing über die Provinz Shaanxi nach Xinjiang. Den größten Teil des Weges legten sie zu Fuß zurück, aber es gab einige Gegenden wie die Wüste, wo es unmöglich war zu Fuß zu gehen, und so reisten sie zu Pferd, auf Kamelen und gelegentlich in Fahrzeugen und bewegten sich dabei kontinuierlich auf die Nordwestgrenze zur Sowjetunion zu. Unterwegs gewannen sie viele Soldaten für den Glauben an Christus, denn es war eine schwierige Zeit in der Geschichte Chinas. Es herrschte Bürgerkrieg und ein innenpolitisches Chaos.

Schließlich erreichten sie Hami an der Ostgrenze von Xinjiang und schlossen sich Mitgliedern der Geistlichen Nordwest-Bewegung an, die dort ein oder zwei Jahre zuvor eingetroffen waren. Erpicht darauf, den Samen des Evangeliums in jungfräuliche Erde zu säen, reiste Zhao im Winter des Jahres 1950 mit fünf Mitarbeitern Richtung Süden nach Hetian, einer entlegenen Oasenstadt im äußersten Süden von Xinjian. Aber zwei Wochen nach ihrem Eintreffen wurden sie vom Amt für öffentliche Sicherheit aufgefordert, abzureisen. Sie waren also gezwungen noch weiter westlich nach Kashgar zu gehen, wo die Evangelistengruppe „Back to Jerusalem“ 1949 in Shule eine Predigtstation gegründet hatte. […] Sie trafen im Januar 1950 ein und fanden eine chaotische Situation vor. Das Gelände der Station war von bewaffneten Soldaten übernommen worden, die behaupteten, es hätte einen „konterrevolutionären Vorfall“ gegeben. Onkel Simon wusste nicht, was er davon halten sollte. Aber innerhalb von wenigen Tagen wurde er verhaftet und ins Gefängnis gesteckt.38

Alle Mitglieder der Geistlichen Nordwest-Bewegung wurden zu unterschiedlich langen Gefängnisstrafen verurteilt. Die fünf Leiter wurden extrem hart bestraft – Simon Zhao war der einzige, der seine Haftstrafe überlebte. Seine Frau war schwanger, als sie verhaftet wurden, aber kurz darauf erlitt sie eine Fehlgeburt. 1959 starb sie im Frauengefängnis, was Simon jedoch grausamerweise erst 1973 mitgeteilt wurde.

Während der ersten Wochen und Monate im Arbeitslager von Kashgar versuchten die Wachen Simon zu zwingen, seinen Glauben zu widerrufen, merkten aber bald, dass das nicht gelingen würde. Sie befahlen ihm, mit dem Beten aufzuhören, und schlugen ihn jedes Mal, wenn sie ihn dabei antrafen. Er hörte nie auf zu beten, lernte aber, es heimlich zu tun, wenn ihn niemand beobachtete.

Nach einiger Zeit dachten die Gefängnisbehörden, er müsste sich verändert haben, weil sie ihn niemals beten sahen. Deshalb befahlen sie dem ehemaligen Schriftsteller, einen Beitrag für die Gefängniszeitung zu schreiben, in der er die verändernde Kraft des kommunistischen Systems rühmen sollte.

Er begann, an dem Artikel zu arbeiten, was die Gefängnisbehörden hoch erfreute. Als sie dann aber sahen, was er geschrieben hatte, gerieten sie in Rage und merkten, dass sie hereingelegt worden waren. Sein Artikel bestand aus einem kleinen Gedicht über die Schönheit Jesu und aus einer Zeichnung des Kreuzes.

Die Gefängniswachen schlugen ihn, ließen eine schwere Holzbank auf seinen Rücken niederkrachen und traten gnadenlos auf ihn ein. Die Behörden bestraften ihn, indem sie seine Haft um viele Jahre verlängerten und ihn zur Arbeit in ein Kohlebergwerk schickten, wo die meisten Gefangenen innerhalb von sechs Monaten infolge unmenschlicher Bedingungen und aufgrund der harten Knochenarbeit starben. Jeden Tag verlangte man von ihm, ein Leistungssoll von mehreren Tonnen Kohle einzuhalten, eine Forderung, die menschlich unmöglich war für so einen kleinen und schwächlichen Mann. Er musste die Kohle nicht nur abbauen, sondern auch in einem Korb auf dem Rücken aus dem Stollen heraustragen.

Die Gefangenen wurden gezwungen, 14 Stunden am Tag zu arbeiten, 7 Tage die Woche. Das Essen war karg und meist ranzig. Die Sommer waren glühend heiß, in den rauen Wintern fielen die Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt. Simon Zhao wurde zu einem lebenden Wunder, zu einem Beispiel von Gottes lebenserhaltender Kraft. Hunderte Mitgefangene, von denen die meisten körperlich stärker waren als Simon, starben in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft.

Über Jahre hinweg bezeugte Simon unauffällig seinen Glauben gegenüber vielen seiner Mitgefangenen, und einige kamen zum Glauben. Es gab außer ihm noch andere christliche Pastoren im Arbeitslager, aber die Behörden steckten sie in unterschiedliche Zellen und Arbeitseinheiten, sodass Simon nur für flüchtige Momente Kontakt mit ihnen haben konnte. In all den Jahren, in denen Simon sich in Gefangenschaft befand, war es ihm nicht gestattet, Besuch zu empfangen. In seinem Herzen wusste er, dass sowieso niemand an ihn denken würde in dieser abgeschiedenen muslimischen Grenzstadt, Tausende von Kilometern von seiner Heimat entfernt.

Abgesehen von der treuen Gegenwart seines Herrn, der versprochen hatte, immer bei ihm zu sein und ihn niemals im Stich zu lassen, fühlte Simon sich vollkommen allein und verlassen. Zuhause in seiner Heimatprovinz Liaoning auf der anderen Seite des Landes wussten seine Verwandten nicht, ob er lebte oder tot war, und als aus den Jahren, in denen sie nichts von ihm hörten, Jahrzehnte wurden, dachten nur noch wenige Leute an ihn und beteten für ihn.

Die „Back to Jerusalem“-Vision ging buchstäblich in den Untergrund. Das Samenkorn war gestorben.

Simon erinnerte sich später, wie er während dieser harten Jahre immer wieder zu den Sternen aufgeschaut und sich an die Vision erinnert hatte, die Gott ihm und seinen Mitarbeitern gegeben hatte: das Evangelium zu Fuß den ganzen Weg zurück nach Jerusalem zu tragen. Er hatte gehört, dass seine geliebte Frau und sein ungeborenes Kind gestorben waren, aber er wusste nicht, was mit seinen Mitarbeitern geschehen war. In den ersten Jahren seiner Gefangenschaft, wenn die Wachen und seine Mitgefangenen ihn nicht beobachteten, betete Simon daher oft: „Herr, ich werde niemals in der Lage sein, nach Jerusalem zu gehen, aber ich bete, dass du eine neue Generation chinesischer Gläubiger erweckst, die die Vision erfüllen werden.“ Über die Jahre ging Simon Zhao jedoch das Feuer und die Leidenschaft für die „Back to Jerusalem“-Vision verloren, obwohl er niemals den Herrn Jesus verleugnete, der ihm diese Vision gegeben hatte.

Nach vielen leidvollen Jahren im Kohlebergwerk war Simon halbtot, daher verlegten die Gefängnisbehörden ihn in eine Chemiefabrik in einem anderen Teil von Xinjiang. Obwohl dies eine kommerzielle Fabrik war, wurden hauptsächlich Gefangene als Arbeitskräfte eingesetzt.

Diese neue Arbeit war nicht viel besser als das Bergwerk, denn er war jeden Tag giftigen Gasen und schädlichen Chemikalien ausgesetzt. Jeden Abend nach der Arbeit kehrte er ins Gefängnis zurück, wo er weiterhin geschlagen wurde, jetzt allerdings meist von seinen Mitgefangenen. Der Plan der Wachen war, dass die Gefangenen ihre Frustrationen aneinander auslassen sollten: Sie belohnten diejenigen, die über das Verhalten der anderen berichteten. Da er ein verhasster Christ war, den die Behörden nicht vom Glauben hatten abbringen können, war Simon Zhao für die brutalen Männer ein besonders leichtes Opfer.

Doch Gott hatte ihn nicht vergessen. Bei einer Gelegenheit mitten im strengen Winter verwehrten die Gefängniswachen Simon den Aufenthalt im geheizten Zellenblock. Sie zogen ihn bis auf die Unterwäsche aus und zwangen ihn, draußen im Schnee zu stehen. Als sie ihn aus der Tür stießen, machten sie sich über ihn lustig und sagten: „Du glaubst an deinen Gott, warum betest du nicht zu ihm und bittest ihn, dich warm zu halten!“

In den ersten Minuten schnitt der kalte Wind wie eine Rasierklinge in seinen Körper. Simon schrie zum Herrn um Gnade – und etwas Erstaunliches geschah. Er verspürte eine außerordentliche Wärme, die so stark war, dass bald der Schweiß an ihm heruntertropfte, als würde er sich in einer Sauna entspannen! Der Schnee um ihn herum begann zu schmelzen von der Wärme, die von seinem Körper ausstrahlte. Er rief nach seinen Zellengenossen, und als sie aus dem Fenster sahen, trauten sie kaum ihren Augen. Dampf stieg von seinem Körper auf!

Allerdings waren solche Aufsehen erregenden Wunder selten, und er litt schrecklich. Hunderte Male wurde er gnadenlos geschlagen. Die Mehrheit der Gefangenen waren ethnische Uiguren, die vorherrschende muslimische Volksgruppe in Xinjiang. Die uigurischen Gefangenen waren besonders brutal gegenüber Simon, weil er ein verhasster chinesischer „Schweineesser“ war. Später beschrieb er die Art, wie die Uiguren ihn schlugen, als „so, wie sie eine Ziege umstellen und sich auf sie stürzen, bevor sie sie töten“.

Einmal wurde er so heftig geschlagen und getreten, dass er einen Schädelbruch erlitt und ohnmächtig zu Boden fiel. Während der Bewusstlosigkeit hatte er eine Vision, in der der Herr voller Liebe zu ihm sprach: „Mein Kind, ich bin mit dir. Ich werde immer bei dir sein und dich niemals im Stich lassen.“ Als er in diesem Moment wieder zu Bewusstsein kam, hatte er keine Ahnung, wie lange er ohnmächtig gewesen war. Ihm war schwindlig, und er wusste nicht, wo er sich befand. Er berührte seinen Kopf dort, wo sein Schädel zerschmettert worden war, und stellte fest, dass die Verletzung auf wundersame Weise verheilt war, obwohl sich an der Stelle noch getrocknetes Blut befand.

Simon Zhao wurde in den meisten der 31 Jahre, die er im Gefängnis verbrachte, geschlagen. Lediglich in den letzten Jahren – als älterer Mann in den Sechzigern – war er solchen körperlichen Qualen nicht mehr ausgesetzt.

Während dieser langen Jahre hinter Gittern schrieb er folgendes Gedicht:

Ich will dieselben Schmerzen und Leiden durchleben

wie Jesus am Kreuz.

Den Speer in seiner Seite, den Schmerz in seinem Herzen.

Lieber möchte ich den Schmerz der Ketten an meinen Füßen spüren,

als in Pharaos Triumphwagen durch Ägypten fahren.

Eines Tages im Jahr 1981 bestellte der Gefängnisdirektor Simon ins Hauptbüro. Ein wenig besorgt ging er über den Flur und machte sich Gedanken, ob er sich in noch größere Schwierigkeiten gebracht habe. Er hoffte, dass nicht etwas geschehen war, was seine Strafe noch weiter verlängern würde.

Der Gefängnisdirektor forderte Simon auf, sich zu setzen, und hantierte mit einer dicken Akte herum, während er an seiner Zigarette zog. Schließlich sagte er: „Die Regierung der Volksrepublik China hat beschlossen, Erbarmen mit dir zu haben und Nachsicht walten zu lassen bezüglich der Verbrechen, die du gegen unser Land verübt hast. Ich bin beauftragt worden, dich zu entlassen. Es steht dir frei zu gehen.“

Der Mann Gottes schlurfte benommen und wie betäubt zurück in seine Zelle. Er hatte niemals erwartet, dass dieser Tag kommen würde.

Als er 1950 verhaftet worden war, war er in der Blüte seines Lebens gewesen, ein energiegeladener Mann Anfang dreißig. Seine hübsche junge Frau erwartete ihr erstes Kind. Gott hatte sie berufen, das Evangelium zurück nach Jerusalem zu tragen, und trotz der Gefahren und vielen Herausforderungen war sein Leben lohnenswert und hochinteressant gewesen. Jetzt, 31 Jahre später, war er über sechzig und hatte weiße Haare und einen weißen Bart.

Simon trat aus dem Gefängnistor hinaus in ein vollkommen anderes China als das, das er gekannt hatte. Mit Ausnahme der ersten paar Monate hatte er die gesamte Herrschaft Mao Tse-tungs verpasst, einschließlich Maos Tod im Jahr 1976. Er hatte die irrsinnige Kulturrevolution von 1966 bis 1976 nicht mitbekommen, als Millionen Menschen von den fanatischen Roten Garden getötet worden waren. Jetzt war er ein alter Mann, der nicht mehr viel Kraft hatte. Sein Körper war zerstört von jahrzehntelangen Quälereien, Schlägen und harter Arbeit. Tiefe Falten zeichneten sein Gesicht und zeugten von der Anstrengung von mehr als drei Jahrzehnten in der Höhle des Löwen.

Niemand in China wartete auf ihn. Jeder, den er vor 31 Jahren gekannt hatte, war entweder gestorben oder hatte ihn längst vergessen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was er jetzt anfangen sollte. Ohne Geld oder Freunde konnte er es sich noch nicht einmal leisten, einen Bus in die Stadt zu nehmen.

Das Arbeitslager war so lange ein Teil seines Lebens gewesen, dass er beschloss, sich unweit des Gefängniseingangs eine behelfsmäßige Hütte zu bauen. Als er in dieser feuchtkalten Hütte lag, wanderten seine Gedanken manchmal zurück zu seinem Leben als junger Mann und zu dem Ruf, den Gott ihm einst gegeben hatte. Er hatte sich getreulich bemüht, Gott zu gehorchen, aber es hatte nicht geklappt. Er hoffte, er würde bald sterben, denn er wusste, dass der Himmel ein viel besserer Ort war und dass dort der Schmerz und all das Wirrwarr, das er erlebt hatte, für immer vorbei sein würden.

Monatelang harrte er dort schweigend aus, abgesehen von seinen täglichen Gebeten der Danksagung an den König der Könige und den Herrn der Herren, der sein Versprechen eingehalten hatte und ihn in all den qualvollen Jahren niemals im Stich gelassen hatte. Simon wusste, dass er ohne Jesus Christus tausend Tode gestorben wäre. Der lebendige Christus hatte ihn am Leben und geistig gesund erhalten, und er hatte ihm geholfen, niemals seinen Glauben an Gott zu verleugnen. Simon wusste, dass, egal wie einsam ein Mensch in dieser Welt auch ist, Jesus immer da sein wird als ein „wahrer Freund, der treuer ist als ein Bruder“ (Sprüche 18,24).

Nach einiger Zeit erfuhren Christen in Kashgar von Simon Zhao und hörten sein Zeugnis. Aus Achtung brachten sie dem betagten Heiligen Lebensmittel und eine Bibel und halfen ihm, wo immer sie konnten.

Die Kunde von Simon verbreitete sich in Xinjiang von Gemeinde zu Gemeinde, und bald wurde sie in andere Teile Chinas weitergetragen; man erzählte sich, dass ein Wunder-Mann durch die Kraft Gottes um des Evangeliums willen 31 Jahre Gefängnis überstanden hätte.

***

In den späten 1960er-Jahren begann Gott, seinen Heiligen Geist über die Provinz Henan auszugießen, und viele Millionen Menschen erfuhren dort Gottes Rettung. Henan wurde bekannt als das Zentrum der Erweckung in China und bekam den Spitznamen „Galiläa Chinas“ – nach dem Gebiet, aus dem die Jünger Jesu stammten.

Viele Hauskirchenleiter hatten von den ersten Mitarbeitern der „Back to Jerusalem“-Bewegung in den 1940er-Jahren gehört. Unser Wissen über diese frühen Mitarbeiter ist lückenhaft, aber als wir hörten, dass einer der wichtigsten Leiter aus dem Gefängnis entlassen worden war, waren wir ganz begierig darauf, ihn zu treffen und von ihm zu lernen.

Einige unserer Mitarbeiter dienten in Kashgar. Sie trafen sich mit Simon Zhao und schrieben uns Briefe, in denen sie uns über seine Geschichte informierten. Unsere Gemeindemitglieder in Kashgar liebten ihn wie ihren eigenen Vater und erfreuten sich an der engen Gemeinschaft mit ihm. Er hatte die Gemeinschaft mit anderen Gläubigen jahrzehntelang vermisst, aber jetzt schenkte ihm der Herr geistliche Söhne und Töchter, die ihn hoch achteten. Frauen aus der Gemeinde kochten für ihn, sie wuschen seine Kleider und halfen ihm, wo immer sie konnten. Sie behandelten ihn wie einen Engel Gottes.

Schließlich reiste eine Gruppe von Hauskirchenleitern per Zug und Bus quer durch China, weil wir das Gefühl hatten, dass wir Simon Zhao selbst treffen müssten. Nach einer mehr als einwöchigen Reise erreichten wir Kashgar und lernten einen gebrochenen, demütigen Diener Gottes kennen.

Damals gaben wir eine Zeitschrift heraus, durch die wir Gläubige in den Hauskirchen ermutigten. Simon Zhao weigerte sich, Artikel zu schreiben oder sein Zeugnis zu geben. Wir versuchten ihm zu erklären, dass die gegenwärtige Generation von chinesischen Gläubigen erfahren müsse, wie Gott ihn durch so viele Jahre des Leidens hindurch getragen hatte. Er lehnte unsere Angebote immer wieder ab und sagte: „Ich will keine Aufmerksamkeit auf mich richten.“

Von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre hinein wurde nie öffentlich darüber gesprochen, das Evangelium zurück nach Jerusalem zu tragen. Es waren so finstere Zeiten für die Gläubigen in China, dass wir alle Kraft und Gebete darauf verwandten, diese Jahre zu überleben und unseren Glauben zu bewahren. Aber Anfang der neunziger Jahre zeigte uns der Herr, es sei wichtig, dass Simon Zhao in die Provinz Henan komme und bei unseren Hauskirchenchristen sein Zeugnis gebe, um sie dafür zu begeistern, die Vision weiter zu tragen, die Gott ihm vor fast fünfzig Jahren gegeben hatte.

Wir schickten Deborah Xu (die Schwester von Peter Xu, der einer der Autoren dieses Buches ist) auf den weiten Weg nach Kashgar, um ihn unter Gebet zu überzeugen, seine Meinung zu ändern. Jeden Tag, den sie fort war, beteten wir, dass der Herr ihr Erfolg bescheren möge. Zunächst war Simon unentschlossen. Er sagte: „Der Herr hat mich berufen, in Richtung Westen zurück nach Jerusalem zu gehen und hier in Xinjiang bin ich zumindest auf dem Weg. Warum soll ich wieder in den Osten zurückreisen und mich weiter von Jerusalem entfernen? Warum lasst ihr mich nicht einfach hier in Kashgar in Ruhe sterben?“

Deborah ist eine sehr hartnäckige Schwester, die ein Nein als Antwort nicht akzeptierte. Sie folgte Onkel Simon auf Schritt und Tritt und fragte ihn immer wieder sehr liebevoll, ob er nicht mit zurück nach Henan kommen wolle. Sie versicherte ihm, dass wir nicht die Absicht hätten, ihn von der Front abzuziehen. Wir wollten ihn nur dorthin zurückbringen, wo sich Tausende neuer Truppen sammelten, die Schulung und Ausrüstung brauchten, wenn die Mission „Back to Jerusalem“ innerhalb der chinesischen Kirche wiederbelebt werden sollte. Deborah erklärte ihm, dass seine Vision sich um ein Vielfaches multiplizieren könne und dass Tausende neuer Rekruten an die Frontlinie zurückgeschickt würden, wenn er nur kommen und seine Geschichte erzählen würde.

Schließlich erkannte Simon Zhao, dass diese Schwester keine Ruhe geben würde, bis er einwilligte, mit ihr zurück in die Provinz Henan zu gehen. Er begann zu verstehen, dass es der Herr sein musste, der dieser Frau eine solch hartnäckige Ausdauer verliehen hatte! Als er darüber betete, ob er nach Ostchina zurückkehren sollte, bestätigte es der Herr durch eine zutiefst persönliche Schriftstelle, die ihm nach all den Jahren des Leidens und der Einsamkeit, die er erduldet hatte, Heilung brachte:

Freue dich, du Unfruchtbare, die nie gebar! Freue dich, jauchze und jubele, auch wenn du nie in Wehen lagst. Denn die allein stehende Frau, die keine Kinder bekommen konnte, hat jetzt mehr Kinder als die, die verheiratet ist, spricht der Herr. Mach in deinem Zelt Platz, breite Decken aus. Spare nicht! Mach die Stricke lang und die Pflöcke fest, denn bald wirst du aus allen Nähten platzen. Deine Nachkommen werden Völker beerben und verwüstete Städte wieder aufbauen. Hab keine Angst: Du wirst nicht enttäuscht werden. Schäme dich nicht, denn du wirst dich nicht lächerlich machen. Die Schande deiner Jugend wirst du vergessen und nicht mehr an die Schmach deiner Witwenschaft denken, denn dein Schöpfer ist dein Ehemann. Sein Name ist Herr, der Allmächtige! Er, der Heilige Israels, ist dein Erlöser, er wird der Gott der ganzen Erde genannt (Jesaja 54,1–5).

Wir hatten kein Geld, um ihm eine Schlafwagenkarte oder auch nur eine Platzkarte für die viertägige Bahnfahrt quer durch China zu kaufen. Er suchte sich einfach einen Platz auf dem Fußboden und rollte sich zum Schlafen auf einer Zeitung zusammen.

Als er in unseren Kirchen in Henan predigte, geschah das in großer Vollmacht und entzündete ein Feuer in den Herzen all derer, die ihn hörten. Es flossen viele Tränen und Tausende Gläubige wurden dadurch angerührt und erhielten die Vision für die Missionsarbeit. Selbst Simon Zhaos äußeres Erscheinungsbild trug zu seinem Dienst bei. Mit seinem langen weißen Bart und seinen weißen Haaren sah er aus wie ein uralter Weiser.

Für viele Hauskirchenleiter wurde die Vision ganz deutlich, und Gott legte uns eine schwere Last aufs Herz, damit diese Vision in Erfüllung geht.

***

Simon Zhao ging am 7. Dezember 2001 heim zum Herrn. Er war dreiundachtzig Jahre alt. Er starb in Pingdingshan in der Provinz Henan unter Geschwistern, die ihn liebten.

Sein Leben war bemerkenswert gewesen. Wie bei Josef begann auch für Simon alles mit einem Traum vom Herrn, aber bevor dieser in Erfüllung gehen konnte, wurde er inhaftiert und seine Vision wurde in die Erde gelegt, wo sie starb, während er in aller Stille eine ungerechte Strafe von einunddreißig Jahren erduldete und von allen außer Gott vergessen war.

Aber das war nicht das Ende der Geschichte! Von ihm unbemerkt, säte der Herr dieselbe Vision in die Herzen vieler Christen in China. Als er schließlich aus dem Gefängnis entlassen wurde, gab ihm der Herr in seiner Gnade weitere zwanzig Jahre des Dienstes.

Die Christen der Hauskirchen behandelten ihn mit allergrößtem Respekt und ehrten ihn wie einen Prinzen im Hause Gottes. Bevor er starb, erkannte er: „Die Gaben, die Gott gibt, und die Berufung, die er ausspricht, bereut er nicht und sie gelten für immer“ (Römer 11,29).

Simon Zhao machte die Erfahrung, dass Gott immer zu Ende bringt, was er anfängt, und dass er seine Versprechen immer treu erfüllt.

37 Gebetsbrief von Miss Phyllis Thompson, 3. März 1949, zitiert in Tony Lambert, „Back to Jerusalem: Origins of a Missionary Vision (Part II)“, China Insight, März–April 2003.

38 Tony Lambert „Back to Jerusalem: Uncle Simon“, China Insight, Mai–Juni 2003.