Um drei Uhr früh stapfte Sneijder mit Gummistiefeln, Helm und einer Stabtaschenlampe durch die Brandruine, dicht gefolgt von Sabine und Marc. Mittlerweile wussten sie, dass die Straßensperren bei Bad Kreuznach und Umgebung nichts gebracht hatten, da Conrad mit dem Mini Cooper über einen Feldweg durch den Wald entkommen und danach mit einem offenbar für Notfälle am Waldrand geparkten anderen Auto weitergefahren war. Sie hatten nur noch dessen Reifenspuren in der nassen Erde gefunden.
Wenigstens hatte die Feuerwehr den Brand rechtzeitig eindämmen und das obere Stockwerk retten können – wenn auch extrem verraucht und mit einer vom Löschwasser halb zerstörten Einrichtung. Leider ein schwacher Trost, denn im unteren Stockwerk war alles komplett ruiniert. Sneijder stapfte durch einen Morast aus Löschwasser und noch dampfender Asche, die sich zu einer zähen Schlacke verbunden hatten. Da das Gebäude keinen Keller besaß, konnte das Wasser nicht wirklich gut abfließen. Der Feuerwehrkommandant hatte Sneijder, Sabine und Marc den Zugang zum Haus aus Sicherheitsgründen verwehrt, aber Sneijder hatte das Gebrüll des Mannes souverän ignoriert und sich stattdessen drei Helme, drei Atemmasken und drei Paar Stiefel aus dem Feuerwehrauto geschnappt.
Überall waberte noch Rauch, der sich jetzt aber rasch durch die geöffneten Fenster verzog. Endlich erreichten sie das Büro, in dem Paul Conrad gesessen hatte. Sneijder nahm den Helm ab, zog sich die Atemmaske vom Gesicht und wischte sich hustend mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen. Im Licht der Lampe sah er sich um. Von der Decke tropfte Löschwasser. Viel würde die IT-Forensik hier nicht mehr auswerten können.
Marc nahm ebenfalls die Atemmaske ab und leuchtete zur Wand. »Der Safe ist offen. Nichts drin.«
Sneijder sah kurz hin. Mit etwas Glück hatte Conrad kein oder nur wenig Bargeld bei sich. Und was immer sonst er dem Safe entnommen haben sollte – sie würden es bald wissen. Im Moment lief gerade eine landesweite Fahndung nach ihm, und er würde nicht weit kommen.
Sneijder ging in die Hocke, stocherte mit einem Kugelschreiber durch die Reste des verkohlten Schreibtischs und entdeckte ein verbranntes Smartphone.
Marc leuchtete ebenfalls zu der Stelle. »Möglicherweise das auf Conrad registrierte Telefon. Hat er anscheinend nicht mitgenommen, damit wir ihn nicht orten können.« Er bückte sich und ließ das Handy in einer Nylontüte verschwinden.
Sneijder nickte. Conrad war nicht in Panik geraten, hatte einen kühlen Kopf bewahrt und anscheinend gut durchdachte Fluchtpläne gehabt. »Ich will wissen, wen Conrad vorhin angerufen hat«, knurrte er. »Und außerdem möchte ich, dass wir eine Fangschaltung einrichten. Wer auch immer dieses Smartphone anruft, muss zurückverfolgt und lokalisiert werden.«
Marc steckte die Tüte in seine Umhängetasche. »Wird dauern, geht aber klar.«
Sabine hatte unterdessen auch die Maske abgenommen und stocherte mit einem ausklappbaren, kurzstieligen Feuerwehrspaten ebenfalls durch die verkohlen Reste des Tischs. »Ein verbrannter Laptop, ein verkohlter PC und jede Menge verbrannte Aktenordner.«
»Alles einpacken.« Sneijder erhob sich, atmete tief durch und spürte, wie sich seine Spannungskopfschmerzen über den Nacken zu den Schläfen hinaufzogen. Verdikkeme! Das alles auszuwerten würde im besten Fall mehrere Tage dauern.
Hinzu kam, dass er, wenn dieser Sonntag erst mal vorbei war, eine Woche lang auf Sabine Nemez und Marc Krüger verzichten musste. Die beiden hatten bereits vor einem halben Jahr Urlaub beantragt. Verdammt schlechtes Timing. Aber noch war der Tag nicht vorbei. Knapp zweiundzwanzig Stunden blieben ihnen noch, und in dieser Zeit würde er die beiden so schonungslos und hart rannehmen, dass sie auf dem Zahnfleisch in den Urlaub kriechen würden.
Eine raue Stimme riss Sneijder aus den Gedanken. »Was wissen wir bisher über Conrad?«
Sneijder drehte sich um und leuchtete einem Mann in seinem Alter mit grauem Bürstenhaarschnitt ins Gesicht. Der Kerl stand ohne Helm im Türrahmen, trug ebenfalls Gummistiefel über der Anzughose und gab ebenso einen feuchten Kehricht darauf, dass ihm das Löschwasser das Sakko ruinierte.
»Die Feuerwehr hat Sie ins Haus gelassen?«, fragte Sneijder verwundert.
»Die Frage meinen Sie doch nicht wirklich ernst, Sneijder?«, entgegnete der Mann.
»Nein, war eigentlich nur rhetorisch.« Sneijder leuchtete kurz zu Sabine und Marc, die sich aufrichteten und fragend zu dem Mann blickten. »Major Niels Thomsen vom BND – das sind meine Leute«, stellte Sneijder sie kurz einander vor. Anscheinend wunderten sich weder Sabine noch Marc, dass sich der Bundesnachrichtendienst für Paul Conrad interessierte. Marc schien eher über Thomsens Frage nach Conrad erstaunt.
»Weiß der Geheimdienst nicht, was wir wissen?«, fragte er spitz.
»Erzähl es ihm einfach.« Sneijder wedelte mit der Hand. Er verzichtete darauf, symbolisch drei Finger hochzuheben – Marc würde sich auch so mit knappen und präzisen Antworten kurz halten.
»Da gibt es noch nicht viel zu erzählen«, gab Marc zu. »Immerhin haben wir erst gestern von Conrad erfahren. Er hat in jungen Jahren Soziologie, danach Psychologie und Philosophie studiert, sich aber auch für Politikwissenschaften interessiert. In den 80er Jahren ist er in der linken Studentenszene aktiv und ein Sympathisant der zweiten und dritten Generation der Roten Armee Fraktion gewesen. In den 90er Jahren hat er an der Uni Mannheim Soziologie unterrichtet, bis er während einer Vorlesung eine Panikattacke bekam, danach seine Tätigkeit an der Uni sofort beendete und sich aus der Öffentlichkeit zurückzog.«
»Ungefähr zu der Zeit, als sich die RAF 1998 mit einem Bekennerschreiben selbst aufgelöst hat«, ergänzte Sneijder, was ihm einen warnenden Blick von Thomsen einbrachte.
»Seit dieser Zeit hat er nirgendwo offiziell gearbeitet und kaum digitale Spuren hinterlassen«, fuhr Marc fort.
»Aber irgendwie muss er sein Geld verdient haben«, bemerkte Thomsen. »Mit Diebstählen? Betrügereien?«
»Wissen wir nicht«, sagte Marc. »Jedenfalls ist er nie geschnappt worden, und er ist auch nicht vorbestraft.«
Thomsen machte ein paar Schritte durch den Morast in die Mitte des Zimmers und sah sich im Strahl seiner Taschenlampe um. »Jetzt hat er Kontakt zu einer Terrorgruppe und ist verschwunden.« Er klang ziemlich angepisst.
»Eine Terrorgruppe, zu der wir noch nicht viel wissen, außer dass der BND vermutet, dass sie von einer Frau namens Ruth-Allegra Francke angeführt wird«, erklärte Sneijder seinen Leuten.
»Sneijder!«
»Wie groß und gefährlich muss dieses linksextreme Grüppchen sein«, stellte Sabine die Frage in den Raum, »dass der BND daran interessiert ist?«
An ihrem lauernden Tonfall erkannte Sneijder, dass Sabine den Major aus der Reserve locken wollte. Sie und Marc waren von Anfang an irritiert darüber gewesen, dass Sneijder in der Sache Conrad so unerbittlich vorging. Jetzt hofften sie wohl, von Thomsen mehr darüber zu erfahren.
Und zu Recht. Es wurde Zeit für Antworten. Sneijder sah zu Sabine. »Es ist nicht bloß irgendeine linke Gruppe.«
»Sondern?«
»Es ist …«, begann Sneijder, doch Thomsen fiel ihm scharf ins Wort.
»Stopp, Sneijder! Muss ich Sie an unser Gespräch erinnern? Immerhin geht es hier um die nationale Sicherheit und um absolute Geheimhaltung.«
»Und wie lange noch?«, fragte Sabine. »Immerhin sollen wir ja …«
»Bis wir absolut sicher sind, womit wir es hier zu tun haben«, antwortete Thomsen.
»Was Sie allerdings wissen sollten …« Sneijder ignorierte Thomsens düstere Miene. »Das E-Auto dieser Managerin, Kara Petzold, das gestern in Berlin ausgebrannt ist, wurde mit einer Autobombe in die Luft gejagt. Bei dem Anschlag kam auch fast einer der Staatssekretäre des Innenministers ums Leben. Entsprechend dem Logo auf den Flugblättern, die dort gefunden wurden, steckt Ruth-Allegra Franckes Gruppe dahinter.« Er schob die Taschenlampe in seine Hosentasche, wo sie weiterleuchtete, und zog eine Schachtel selbst gedrehter Hasch-Zigaretten aus der Sakkotasche. Mit einem Zippo-Feuerzeug steckte er sich eine der Tüten an. Ohne ein Wort zu sagen, inhalierte er. Augenblicklich roch es nach Shit. Rauch waberte um sein Gesicht, und Sneijder wartete. Er hatte absichtlich nicht mehr verraten und wusste, dass seine Leute wie hungrige Haie nach dem Köder schnappen würden.
»Und diese Ruth-Allegra Francke lässt sich auch mit den Mitteln des BND nicht auftreiben?«, bohrte Marc an Thomsen gerichtet weiter.
»Wenn wir sie finden könnten, wären wir nicht so verzweifelt hinter Paul Conrad her«, knurrte Thomsen genervt.
Plötzlich räusperte sich Sabine. »Die Initialen von Ruth-Allegra Francke …«, sagte sie nachdenklich, »… sind R, A und F.«
Sneijder schielte zu Thomsen, dessen Gesicht versteinerte.
»Ah!«, entfuhr es Marc, als ginge ihm soeben ein Licht auf. »Das erklärt einiges. In internen BKA-Dossiers – die mir zufällig in die Hände gefallen sind …«, fügte er rasch erklärend hinzu, »… bin ich vor Kurzem mehrmals auf diese Chiffre gestoßen.« Er hockte sich hin, leuchtete mit der Taschenlampe auf den Boden und schrieb mit dem Finger drei Zeichen in die Asche.
– R4F –
Sabine starrte auf das Wort, blickte zuerst zu Sneijder, dann zu Thomsen. »Das heißt, es ist die vierte Generation der RAF, um die es hier geht?«
Thomsen presste ohne ein Wort zu sagen die Zähne aufeinander und sah noch grimmiger drein als bisher.
Sneijder warf ihm einen triumphierenden Blick zu. »Meine Leute sind nicht dumm … genau deswegen arbeite ich mit ihnen zusammen.«