5. Kapitel

Während Marc den verbrannten Laptop einpackte und anschließend mit der Stabtaschenlampe zwischen den Zähnen durch die Asche stocherte, hantierte Sabine an dem geschmolzenen PC herum.

»Der lässt sich nicht mehr in einem Stück transportieren«, murmelte sie und baute kurzerhand die Festplatte aus.

Indessen erzählte Sneijder ihnen, was er und der BND bisher herausgefunden hatten. Dabei war es ihm komplett egal, dass Major Niels Thomsen ihn die ganze Zeit wütend anfunkelte.

»Im Juni 2011 wurde das letzte Mitglied der Roten Armee Fraktion aus der Haft entlassen. Lange Zeit war es ruhig, aber jetzt ist der alte Feind des BKA wieder da. Seit einem Jahr geistern Informationen über die Bildung einer vierten Generation der RAF durchs Darknet. Die Gruppe hat aus ihren Fehlern der Vergangenheit gelernt und formiert sich gerade still und heimlich und völlig anonym. Bis jetzt kennt der BND nur eine Handvoll Usernamen, aber wir wissen, dass sie sich europaweit vernetzen und in vielen Ländern bereits mehrere Dutzend Mitglieder angeworben haben.«

»Und jetzt ist die Inforunde beendet«, fügte Thomsen zähneknirschend hinzu.

Sabine hielt kurz in ihrer Arbeit inne. »Es ist also die RAF, mit der Paul Conrad in Kontakt steht«, stellte sie mit rauer Stimme fest. Die Luft hier machte ihnen allen zu schaffen. »Und er war unsere einzige Spur zu den anderen Mitgliedern des Netzwerks?« Anscheinend wurde ihr soeben klar, warum Sneijder in den letzten vierundzwanzig Stunden so viel Druck gemacht hatte.

Sneijder nickte. »Wir gehen davon aus, dass Ruth-Allegra Francke nur das Pseudonym der Anführerin ist – und ja, richtig, im Netz wird ihre Organisation R4F genannt. Bis auf die Autobombe ist die RAF in der Öffentlichkeit noch nicht …«

»Sneijder!«, warnte Thomsen ihn erneut scharf.

Sneijder ging kurz in die Knie, löschte die Glut des Joints im feuchten Morast und steckte den Glimmstängel in seine Sakkotasche. »Hören Sie, Thomsen – ich scheiße auf Ihre nationale Sicherheit. Der Fall ist nicht nur BND-, sondern auch BKA-Sache. Mein Chef hat mich hinzugezogen, und nun entscheide ich , wie viel meine Leute darüber wissen müssen.«

Der Strahl einer starken Taschenlampe leuchtete plötzlich ins Zimmer. Dahinter waren die Umrisse eines Feuerwehrmanns zu sehen. »Brauchen Sie noch lange in diesem …?«

»Raus!«, fauchte Sneijder.

»Aber wir …«

»Solange ich hier stehe, solange haben wir hier noch etwas zu tun. Schließlich sind wir nicht zum Spaß hier«, rief Sneijder. »In der Zwischenzeit machen Sie sich nützlich und sorgen dafür, dass uns das Dach nicht über dem Kopf zusammenbricht – und schalten Sie endlich das verdammte Licht aus!«

Murrend senkte der Feuerwehrmann die Lampe und verschwand im Gang.

Sneijder wartete, bis er weit genug weg war. »Bisher ist die RAF in der Öffentlichkeit noch nicht in Erscheinung getreten«, fuhr er nun fort. »Sie sind vorsichtig und noch in der Vorbereitungsphase. Aber das kann und wird sich vermutlich nach diesem ersten Anschlag rasch ändern.«

»O Mann«, stöhnte Marc. »Soweit ich weiß, hat bereits die zweite RAF-Generation Menschen gezielt getötet und Geiseln hingerichtet.«

»Und die dritte Generation ging noch brutaler vor«, ergänzte Sabine.

»Genau. Und niemand weiß, was uns jetzt erwartet«, sagte Thomsen. »Darum wäre es schön, wenn Sie jetzt mit Ihrer Arbeit …«

»Ja, schon gut«, seufzte Marc und fischte etwas aus der Asche. »Hier sind die verkohlten Überreste von drei weiteren verbrannten Handys.« Er kratzte mit dem Fingernagel über die Asche. »Eine russische Marke.«

»Vermutlich nicht registrierte Prepaidhandys«, sagte Thomsen.

»Dann sind die quasi nutzlos. Die werden uns bestimmt keinerlei zusätzliche Infos liefern.« Marc richtete sich auf und steckte den Fund in eine Tüte aus Polyethylen.

Sabine stand ebenfalls auf und reichte Marc ein paar volle Beweismittelbeutel, die der in seine Umhängetasche stopfte.

»Haben wir alles?«, fragte Sneijder.

Marc nickte. »Fürs Erste ja.«

»Gut, gehen wir«, entschied Sneijder, »den Rest macht die Spurensicherung.«

Sie verließen den Raum und marschierten ins Vorzimmer. Thomsen folgte ihnen.

»Einen Moment …«, hörte Sneijder Sabine hinter sich rufen, kurz bevor er das Haus verließ. Er drehte sich um und sah, wie Sabine ihre Lampe auf eine massive antike verschnörkelte Kommode richtete, die neben der Eingangstür stand und großteils von den Flammen verschont geblieben war. Allerdings hatte das Löschwasser das Holz aufquellen lassen.

Einige Bilderrahmen waren von der Wand auf die Kommode gefallen. Sabine zog ein nasses, teils angekokeltes Bild zwischen den Glasscherben heraus.

Interessiert kam Sneijder näher. Soviel sich noch erkennen ließ, zeigte das Foto eine junge, attraktive Frau mit dunklem Pferdeschwanz. Es war schwer zu schätzen, ob das Bild schon älter oder aktuell war.

Marc kam ebenfalls näher. »Wir wissen, dass Conrad nie verheiratet war. Seine Freundin?« Er sah zu Major Thomsen, der ebenfalls einen Blick auf das Bild warf, aber nur die Schultern hochzog. »Ich könnte versuchen, das Foto mit einer Software möglichst gut wiederherzustellen«, schlug Marc vor, »um es anschließend durch die Daedalos-Datenbanken zu jagen.«

Sneijder nickte. »Mach das. Danach schicken wir dem BND eine Kopie davon und geben eine Fahndung nach der Frau raus.«

Thomsen verzog unglücklich das Gesicht. »Das Foto ist zu beschädigt. Außerdem könnte das weiß wer sein, der gar nichts mit unserem Fall zu tun hat.«

»Das ist mir vervloekt noch mal egal. Wenn sie hier an der Wand hängt, hat sie irgendeine Bedeutung für Conrad«, knurrte Sneijder. »Und hilft ihm vielleicht bei der Flucht. Sobald wir also wissen, wer das ist, geben wir sie zur Fahndung raus. Und frieren wie bei Conrad ihr Konto ein und sperren ihre Kreditkarte.«

»Scheuchen wir sie dadurch nicht erst recht auf?«, fragte Thomsen.

»Die sind bereits alle aufgescheucht«, widersprach Sneijder. »Und jetzt müssen wir sie daran hindern, das Land zu verlassen.« Er zog sein Handy heraus und fotografierte das Bild der jungen braunhaarigen Frau, bevor Marc das Foto in eine Klarsichthülle steckte. Vielleicht hatten sie da sogar Ruth-Allegra Francke vor sich – auch wenn er das eigentlich nicht glaubte.

Als sie kurz darauf im Freien standen, sogen sie gierig die frische Nachtluft ein. Dann ging Sneijder im Nieselregen an den Feuerwehrwagen vorbei und wählte die Telefonnummer, die er unter Tina K. Martinelli abgespeichert hatte.

Tina war eine ehemalige Kollegin von Sabine Nemez. Vor sechs Jahren hatte er sie und Sabine an der Akademie des BKA in seinem Modul für Forensische Psychologie und Profilerstellung ausgebildet. Später war Tina in seinem Ermittlerteam gewesen, doch nach einem fast tödlichen Einsatz in Norwegen hatte sie beim BKA gekündigt und sich als Detektivin selbstständig gemacht.

Es läutete bereits zum vierten Mal, als sich endlich eine verschlafene weibliche Stimme meldete. »Sneijder, verdammt, es ist fast vier Uhr früh …«, stöhnte Tina auf.

»Es ist fünf Minuten nach vier!«, korrigierte er sie. »Danke der Nachfrage, mir geht es gut, aber jetzt ist Schluss mit dem Smalltalk. Raus aus den Federn, duschen, eine starke Tasse Kaffee – und dann rein in die Klamotten.« Er blickte zu Marc, der gerade sein Equipment zu einem der BKA-Autos schleppte. Nur für den Fall, dass Marc nichts fand, brauchte er so schnell wie möglich einen Plan B.

»Ich nehme an, Sie haben dringend meine Hilfe nötig«, gähnte Tina.

»Schlaues Kind. Ich schicke Ihnen ein Foto.«