Um sieben Uhr früh hatte Sneijder in seinem Büro im Bundeskriminalamt in Wiesbaden endlich in ein frisches Hemd und einen neuen Anzug schlüpfen können und wartete nun im Büro des BKA-Präsidenten auf seinen Chef, der jeden Augenblick kommen musste.
Und tatsächlich. Durch die angelehnte Tür hörte er, wie Friedrich Drohmeier im Eilschritt das Vorzimmer seiner Assistentin durchquerte.
»Sneijder ist da«, informierte sie ihren Chef knapp.
»Begleiten Sie ihn herein«, antwortete Drohmeier mit sonorer Stimme.
»Er … ist bereits in Ihrem Büro.«
Die Tür flog auf, und Drohmeier trat ein. Groß gebaut, breitschultrig, im grauen Anzug und mit schütterem grauem Haar. Trotz seiner sechsundsechzig Jahre war er noch gut in Form, allerdings war sein Gesicht von schweren Tränensäcken gezeichnet.
Drohmeier hielt sein Handy ans Ohr gepresst und nickte Sneijder nur kurz zu. LKA Rheinland-Pfalz formte er lautlos mit den Lippen und rollte genervt mit den Augen. Dann schloss er die Tür, schaltete das Handy auf Lautsprecher und legte es auf den Schreibtisch.
Während der Kollege vom Landeskriminalamt einen Einsatzbericht von letzter Nacht erstattete, schüttelte Drohmeier Sneijder wortlos die linke Hand, und es war ein verdammt harter Händedruck. Dass Sneijder immer noch ein wenig nach Rauch von der Brandruine stank, schien Drohmeier nicht zu stören. Der hatte im Moment ganz andere Sorgen.
Seit einem Jahr war Drohmeier der neue BKA-Präsident und damit der direkte Nachfolger von Sneijders ehemaligem Vorgesetzten Dirk van Nistelrooy und dessen Vorgänger Dietrich Hess. Drohmeier trug seit einem schweren Autounfall eine Prothese an der rechten Hand. Von einem Streifschuss hatte er zudem eine hässliche lange und tiefe Narbe seitlich am Kopf, die ihn ziemlich unheimlich erscheinen ließ. Er war der härteste und unerbittlichste Boss, den Sneijder jemals erlebt hatte. Den Spitznamen Eisenfaust trug er daher nicht nur wegen seiner Prothese, sondern auch wegen seiner unnachgiebigen Art.
Kaum an der Spitze, hatte Drohmeier ordentlich in der Hierarchie des BKA aufgeräumt. An der Wand hinter seinem Schreibtisch hingen die gerahmten Fotos seiner neuen Stellvertreter, des Vize-Präsidenten Jon Eisa – ein einundvierzigjähriger Karrierist und quasi der Rockstar des BKA –, und der dritten BKA-Präsidentin Eva Marquardt, vierunddreißig Jahre jung.
Mit Jon Eisa, Eva Marquardt und wiederum deren Stellvertretern hatte Drohmeier ein relativ junges und dynamisches Team um sich geschart und damit eine neue Ära für das BKA eingeläutet, geprägt von einer effizienten und straffen Führung. Obwohl Sneijder nach wie vor per Sie mit Drohmeier war und dieser sich von Anfang an keine von Sneijders typischen Unverschämtheiten hatte gefallen lassen, gewährte Drohmeier ihm dennoch sämtliche Freiheiten bei seinen manchmal doch sehr unkonventionellen Ermittlungsmethoden. Zumindest solange er Erfolge vorweisen konnte. Das hatte bis jetzt immer gut funktioniert – leider war es damit seit letzter Nacht vorbei.
Während der Kollege des LKA immer noch berichtete und dann das Wort an den Einsatzleiter weitergab, starrte Drohmeier mit einem immer düsterer werdenden Gesichtsausdruck Sneijder an. Der hielt dem Blick seines Chefs regungslos mit hinter dem Rücken verschränkten Armen stand, während er ebenfalls dem Bericht lauschte.
» … sämtliche Straßensperren im Zehnkilometerradius um Bad Kreuznach haben nichts gebracht« , drang die Stimme des Einsatzleiters aus dem Lautsprecher. » Das Ergebnis der Fahndung inklusive Verkehrskameras, Drohnen- und Satellitenaufklärung ist ebenfalls negativ.«
Sneijder hatte geahnt, dass genau das passieren würde, wenn er mit den unfähigen Kollegen der Rheinland-Pfälzer Polizei zusammenarbeiten musste. Paul Conrad war kein Anfänger und auf jenen Moment, wo der Staat auf ihn aufmerksam werden würde, bestens vorbereitet gewesen. Aber auch Sneijder selbst hatte ihn unterschätzt, wie er sich eingestehen musste – obwohl er es eigentlich hätte besser wissen müssen. Immerhin ermittelte das BKA insgesamt schon seit über vierzig Jahren gegen Baader, Meinhof und den Rest der immer noch flüchtigen Roten Armee Fraktion.
Drohmeier bedankte sich bei den Kollegen aus dem benachbarten Bundesland, beendete das Gespräch und steckte das Handy in die Hosentasche. Sichtlich angespannt öffnete er sein Sakko und lockerte den Krawattenknoten. »Morgen, Sneijder«, sagte er mit der heiseren Stimme eines Kettenrauchers. »Wie sagen Sie immer? Verdomme und vervloekt? « Übel gelaunt sah er ihn an. »Ich habe die Zeit mit der RAF Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre noch hautnah miterlebt, als ich als blutjunger Bursche Herold unterstellt war.«
Sneijder kannte die alten Erzählungen, die durch das BKA geisterten. Herold, der damalige Präsident, hatte die Abteilungen erweitert, eine bundesweite Computerdatenbank initiiert, die Rasterfahndung eingeführt, der RAF den Kampf angesagt und nach dem Münchner Olympia-Attentat von 1972 die Antiterroreinsatzgruppe GSG-9 ins Leben gerufen, die in weiterer Folge die entführte Landshut befreit hatte. Deshalb war Herold auch der erklärte Erzfeind von Baader, Meinhof, Ensslin, Hogefeld, Raspe, Meins, Mohnhaupt und den anderen Mitgliedern der Bewegung gewesen. Zwei Terroristen von damals waren heute sogar immer noch abgetaucht und wurden nach wie vor gesucht, auch wenn sie höchstwahrscheinlich nicht mehr aktiv waren und keine Gefahr mehr darstellten.
Zu jener Zeit hatte Sneijder in Rotterdam noch die Schulbank gedrückt. Trotzdem hatte er schon gewusst, dass er nach Abitur und Militärdienst zur Polizei gehen, die Ausbildung zum forensischen Kripopsychologen machen und als Fallanalytiker Profile erstellen wollte. Wie viele andere seiner Generation war er als Jugendlicher von den Aktivitäten der Terroristen, die einen Polizeistaat zu Fall bringen wollten, auf eine gewisse Weise fasziniert gewesen.
Er selbst hatte jedenfalls Horst Herold nie persönlich kennengelernt, anders als Drohmeier, dem anscheinend gerade alte Erinnerungen hochkamen. Die waren womöglich der Grund dafür, warum er die Angelegenheit so persönlich nahm.
»Scheint so, als wäre die Sache noch nicht vorbei«, bemerkte Sneijder.
»Noch nicht vorbei – oder sie beginnt von Neuem. Je nachdem, wie man es sieht.« Drohmeier runzelte die Stirn. »Jedenfalls sind sie wieder da, und unsere einzige Spur zu ihnen ist gerade entkommen.« Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Ich muss jetzt zu einem dieser nicht enden wollenden und unnötigen Meetings, weil morgen der Sicherheitskonferenz-Marathon in Den Haag startet. Sneijder, bleiben Sie an der Sache dran, auch wenn Sie das halbe BKA dafür in Beschlag nehmen müssen. Ich verlasse mich auf Sie. Wir müssen diesen Mann um jeden Preis finden, bevor die nächsten Anschläge passieren.«
Damit war alles gesagt, und Sneijder nickte nur kurz, bevor er Drohmeier aus dessen Büro begleitete. Dann trennten sich ihre Wege, und Sneijder ging in den Trakt, in dem sein eigenes Büro lag. Schon von Weitem sah er, dass Miyu – hoch gewachsen, schlank und wie immer schwarz gekleidet – vor seiner Tür auf ihn wartete.
Er und Sabine Nemez hatten die Kollegin zwei Jahre lang an der BKA-Akademie für hochbegabten Nachwuchs ausgebildet. Miyu war Halb-Asiatin, fünfundzwanzig Jahre jung und wies eine Störung im Bereich des Autismus-Spektrums auf. Das war auch der Grund, warum sich Miyu jeden Tag gleich und so schlicht wie möglich kleidete, damit ihr Gehirn, das sowieso permanent auf Hochtouren lief, sich nicht auch noch mit der Entscheidung herumschlagen musste, was sie anziehen sollte.
Gerade wegen der besonderen Eigenschaften, die Miyus spezielle Form des Autismus mit sich brachte, war sie eines der größten Talente, die das BKA in den letzten Jahren hervorgebracht hatte. Allerdings hatte Sneijder sich sehr für ihre Aufnahme an der Akademie einsetzen müssen. Ohne seine Intervention hätte sie – eben wegen ihrer Besonderheit – keine Chance gehabt.
Sneijder öffnete die Bürotür mit seiner Magnetkarte. »Miyu, machen Sie es kurz, meine Zeit ist knapp.«
»Ich möchte in Ihr Team«, sagte sie in ihrem starken Berliner Akzent.
»Ich habe kein Team.«
»Doch«, widersprach sie. »Sabine Nemez und Marc Krüger arbeiten für Sie und …«
»Das nennen Sie ein Team?«
»Ein Team ist laut Definition ein …«
»Lassen Sie die Haarspalterei.« Er betrat das Büro und warf sein Sakko über die Stuhllehne.
Miyu trat ebenfalls ein und schloss lautlos die Tür. Kurz blieb ihr Blick an dem gerahmten und signierten Foto der niederländischen Königsfamilie haften, das hinter seinem Schreibtisch hing. Es war an einer Seite im Rahmen etwas nach unten gerutscht und Miyu schien das zu irritieren.
Er schnippte mit den Fingern, um ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Hören Sie, Ihre Ausbildung ist beendet und Sie sind unter den zehn Jahrgangsbesten.«
»Laut Punktesystem auf Platz fünf, also genau genommen unter den …«
Er brachte sie mit einer Geste zum Verstummen. Er gab keinen Cent auf dieses bescheuerte Punktesystem, denn seine Intuition sagte ihm, dass Miyu die beste Ermittlerin der gesamten letzten Jahrgänge werden könnte. Na ja, eigentlich nur der letzten vier Jahrgänge, wenn man es genau nahm, denn vor vier Jahren hatte Sabine Nemez die Ausbildung abgeschlossen und war – überraschenderweise – sogar freiwillig seine Kollegin geworden. Es war eine wilde Zeit gewesen, als sie damals gemeinsam mit dem Schweizer Profiler Rudolf Horowitz den Serienmörder Piet van Loon durch halb Europa gejagt hatten.
»Viele meiner Kollegen wollen Sie für ihr eigenes Team haben«, sagte er schließlich. Er hatte gehört, dass sie sich vor lauter Angeboten kaum wehren konnte. »Außerdem habe ich erfahren, dass sowohl der militärische Abschirmdienst als auch der Bundesnachrichtendienst an Ihnen interessiert sind.«
Für einen Moment weiteten sich ihre mandelförmigen Augen und ihre schwarzen Pupillen blitzten auf. »Woher wissen Sie davon?«
»Marc Krüger«, antwortete er lakonisch und sparte sich jede weitere Erklärung, da sie Marcs Fähigkeiten, sich in so ziemlich jedes Datennetz zu hacken, hinreichend kannte. »Miyu, so jemanden wie Sie gibt es wirklich selten«, fuhr er fort. »Ihnen stehen so viele Türen offen. Sie könnten sich überall dort bewerben, wo Ihre Fähigkeiten gebraucht werden.«
»Genau deshalb bin ich hier«, sagte sie prompt.
»Godverdomme , treffen Sie keine voreiligen Entschlüsse, die Sie später vielleicht bereuen. Apropos: Vor einer Sache muss ich Sie warnen …«
»Vor unserer Betriebspsychologin Dr. Ross?«
Er sah sie kurz verblüfft an. »Ja, das auch, aber ich meinte etwas anderes …« Er hob den Finger, denn ihm war bekannt, dass auch Jon Eisa seine Fühler nach Miyu ausgestreckt hatte. »Werden Sie nicht Jon Eisas Assistentin, auch wenn er Ihnen verspricht, dass er Sie zu seiner rechten Hand aufbauen will. Sie sind zu gut für Eisa, und er würde Ihr Talent nur sinnlos vergeuden.«
»Das Büro des Vize-Präsidenten ist sowieso nie eine Option für mich gewesen. Ich will Ermittlerin werden und zu Ihrer Gruppe dazugehören.«
Er neigte den Kopf. »Und diese Entscheidung steht fest?«
Sie nickte. »Schon seit einem Jahr.«
Sneijder zog eine Augenbraue hoch, auch wenn er wusste, dass jegliche emotionale Reaktion für Miyu fast unmöglich zu lesen war. »Seit einem Jahr?«
»Genauer gesagt seit elf Monaten und zwölf Tagen.« Sie nickte wieder. »Als wir nach Sabine Nemez gesucht und den gemeinsamen Fall mit Pulaski in Leipzig und Dresden aufgeklärt haben.«
»Damals wurden Sie angeschossen«, erinnerte er sich.
»Zu diesem Zeitpunkt stand mein Entschluss bereits fest.«
»Ihnen wurde aber nicht in den Kopf geschossen, oder?«, fragte er sarkastisch.
Sie verstand den Witz natürlich nicht und sah ihn nur verwirrt an. »Nein, wurde mir nicht«, antwortete sie ernst. »Sie haben mir die Ausbildung ermöglicht. Mir eine Chance gegeben. Mich geschult. Mir zu meinen ersten Einsätzen verholfen.«
»Sie sind mir nichts schuldig«, sagte er, obwohl er wusste, dass so etwas wie Dankbarkeit ohnehin nicht in Miyus psychologisches Konzept passte. Aufgrund des angeborenen Asperger-Syndroms tat sie nur das, was ihr konsequent logisch erschien.
»Richtig, ich bin niemandem etwas schuldig«, präzisierte sie. »Aber ich möchte trotzdem zu Ihnen. Haben Sie denn keine Verwendung für mich?«
Sneijder blähte amüsiert die Nasenflügel. »So funktioniert das nicht, Sie müssten schon offiziell einen …« Das Läuten seines Handys unterbrach ihn. Auf dem Display sah er Tina Martinellis Nummer – und er wusste, dass sie nur dann anrief, wenn sie Erfolge zu vermelden hatte.
Also ging es jetzt endlich weiter.
»Miyu, willkommen im Team«, revidierte er seine vorherige Aussage. Offizielle Anträge waren ohnehin etwas für Kleingeister.