Als Rentnerin hätte Dorothea Reichhardt eigentlich gemütlich ausschlafen können. Aber sie war eine notorische Frühaufsteherin und schuftete seit mittlerweile schon zwei Stunden in ihrem Garten. Jetzt war es nach neun Uhr früh, und sie hatte bereits so viel Unkraut neben den Kieswegen ausgerissen, dass die Biotonne schon wieder halb voll war. Außerdem hatte sie mit der Blechkanne aus den vollen Regentonnen alle Blumenbeete gegossen, was bei deren Größe fast eine Lebensaufgabe war. Noch dazu in ihrem Alter, sie war schließlich schon siebzig. Aber so lange sie noch fit war, wollte sie sich bewegen – denn wer sich bewegte, blieb fit. Eine oft zitierte Weisheit ihrer zehn Jahre älteren, leider vor Kurzem verstorbenen Lebensgefährtin.
Dorothea hatte sich Ende der 70er Jahre als eine der ersten Frauen in Augsburg geoutet, als sie mit ihrer Partnerin in diese Villa am Stadtrand gezogen war. Vermutlich hatten sie die konservativen Augsburger nur deshalb akzeptiert, weil sie schon in jungen Jahren eine anerkannte Künstlerin gewesen war und unter anderem auch einige Kunstwerke für die Stadt entworfen hatte, die jetzt diverse öffentliche Plätze schmückten.
Über einhundertzwanzig Skulpturen hatte sie als Bildhauerin erschaffen; elf davon standen in ihrem eigenen Garten. Daher bedeutete Frühjahrsputz für Dorothea auch, diese Skulpturen vom Schmutz des Winters zu säubern und blank zu polieren. Mit der ersten hatte sie gerade begonnen, musste sich aber bereits den Schweiß von der Stirn wischen. Das war anstrengender, als sie gedachte hatte, und es wurde Zeit für eine Pause.
Sie wollte schon den nassen Lappen in den Wassereimer werfen und wieder ins Haus gehen, um Kaffee zu kochen und Frühstück zuzubereiten, als sie jenseits der Hecken an ihrem Gartenzaun einen handfesten Streit auf der Gasse mithörte. Dann schrie eine junge Frau verzweifelt auf und Kampfgeräusche waren zu hören.
Ohne lange zu überlegen, rannte Dorothea zum Gartentor, riss es auf und stand keuchend und mit bis zum Hals pochendem Herzen auf der schmalen, von Bäumen gesäumten Gasse. Dort wollte gerade ein älterer grauhaariger Mann einer jungen blonden Frau den Lederrucksack von der Schulter reißen.
»Polizei!«, rief Dorothea sofort und ging ohne zu überlegen auf den Angreifer los. Glücklicherweise hielt sie noch den nassen Lappen in der Hand, mit dem sie dem Mann jetzt ins Gesicht drosch.
»Polizei!«, rief sie erneut, obwohl sie wusste, dass das völlig sinnlos war. Sie waren allein auf dem Gehweg, und auch Autos fuhren keine vorbei. Dennoch zeigte ihr Geschrei Wirkung. Der Mann wehrte die Schläge zwar erst ab, als dann aber auch die junge Frau auf ihn einprügelte, ergriff er tatsächlich die Flucht.
Erst jetzt, als Dorothea die blutige Lippe der Frau und deren ramponierte Frisur sah, begriff sie, wie gedankenlos dumm sie gehandelt hatte. Was, wenn der Räuber ein Messer gezogen oder sie einfach nur über den Randstein auf die Straße gestoßen hätte? Wie leicht hätte sie dabei stürzen und sich alle Knochen brechen können.
»Danke …«, seufzte die junge Frau, wischte sich mit zittriger Hand über den Mund, sah das Blut auf ihren Fingern und begann plötzlich zu schluchzen.
»Ist ja gut, mein Kleines«, versuchte Dorothea die Frau zu beruhigen. »Sind Sie verletzt … ich meine, bis auf die Lippe?«
»Nein.« Die Haare der Frau waren völlig durcheinander, und ihre Bluse hatte einen kleinen Riss an der Schulter. Aber der Rucksack hing immer noch an einem Träger auf ihrem Rücken.
»Kannten Sie den Mann?«, fragte Dorothea, woraufhin die Frau den Kopf schüttelte. »Macht nichts, ich habe mir sein Gesicht gemerkt. Besser, wir verständigen die Polizei. Ich habe ein Telefon im Haus und …«
»Nein, keine Polizei«, rief die Frau rasch.
»Warum denn? Sie sollten …« Doch weiter kam Dorothea nicht, da die Frau verzweifelt zu schluchzen begann. Kurz entschlossen nahm Dorothea sie in die Arme und strich ihr über den Rücken. »Alles gut, mein Kind.« Sie spürte, wie die Knie der jungen Frau zitterten. »Lassen Sie mich Ihnen wenigstens die Lippe versorgen und das Blut aus der Bluse waschen.«
Jetzt nickte die Frau. »Haben Sie auch ein Glas Wasser?«
»Ich kann uns Kaffee kochen.«
»Tee?«, fragte die Frau mit zittriger Stimme.
Dorothea lachte. »Ja, gern auch Tee.« Ihre Lebensgefährtin hatte nur Tee getrunken, und Dorothea hatte noch tonnenweise davon in ihrer Küche. Es wurde ohnehin Zeit, etwas davon zu verbrauchen. »Wie heißen Sie denn?«
»Ingrid …«
»So, es ist alles gut, Ingrid. Wir Frauen müssen schließlich zusammenhalten.« Sie legte der jungen Frau den Arm um die Schulter und führte sie durchs Gartentor und den Kiesweg zum Haus. Sicherheitshalber sperrte sie drinnen die Eingangstür ab. Es war zwar sehr unwahrscheinlich, dass der Mann noch einmal zurückkommen würde, aber der Vorfall hatte sie nachhaltiger erschüttert, als sie sich selbst eingestehen wollte.
Während Ingrid im Wohnzimmer auf der Couch saß und sich mit Desinfektionsmittel die Lippe säuberte, kochte sie Tee.
»Sie sind Künstlerin?«, rief Ingrid in die Küche. Anscheinend hatte sie die Skulpturen im Garten bemerkt.
»Ja, Bildhauerin … Dorothea Reichhardt.« Es wunderte sie nicht, dass ein so junges Ding noch nie von ihr gehört hatte. »Wenn Sie mir nachher Ihre Bluse geben, wasche ich das Blut mit kaltem Wasser raus und nähe den Riss.«
»Danke, Sie sind so nett.«
Dorothea ging mit einem großen Tablett ins Wohnzimmer, stellte es auf dem Couchtisch ab und schob Briefe, Prospekte und Postwurfsendungen zu einem Stapel zusammen, damit sie Platz hatten. Der Duft aus der Teekanne erinnerte sie an alte Zeiten, ebenso die Anwesenheit der jungen attraktiven Frau.
Ingrid fuhr innen im Mund mit der Zunge unter die Lippe. »Sieht die Schramme schlimm aus?«
»Nein, sogar ziemlich süß.« Dorothea lächelte.
»Ja, ja, das sagen Sie nur so. Haben Sie vielleicht einen Spiegel?«
»Kommt sofort.« Dorothea stand auf und nahm einen kleinen antiken vergoldeten Spiegel von der Wand, doch als sie ihn Ingrid hinhielt, hatte diese schon mit ihrem Handy ein Foto von sich selbst gemacht und deprimiert das Gesicht verzogen.
Dorothea legte den Spiegel weg und setzte sich wieder. Eine Weile tranken sie Tee und plauderten. Ingrid erzählte, dass sie wegen ihres gewalttätigen Stiefvaters von zu Hause abgehauen und mit dem Zug nach Augsburg gefahren war, um ehemalige Studienkollegen zu treffen, und Dorothea erzählte von ihrer Zeit als Künstlerin und wie sie zu dieser großen Villa voll mit Antiquitäten gekommen war.
»Und dann …« Dorothea unterbrach sich, räusperte sich und wischte sich verlegen über die Stirn. Plötzlich hatte sie Hitzewallungen. Waren das die Nachwirkungen von ihrem Angriff auf den Mann? Sie blinzelte den Schweiß aus den Augen. Ihr Herz raste.
»Alles in Ordnung?«, fragte Ingrid.
»Ja … mir ist nur … so schwindlig …«, stöhnte Dorothea. Alles drehte sich mit einem Mal um sie, und sie musste sich an die Lehne der Couch klammern.
»Am Tee kann es nicht liegen, mir geht es gut.« Ingrid stand auf.
»Aber Sie haben doch … noch gar nicht viel … getrunken«, wurde Dorothea gerade klar.
Nun sah sie, wie Ingrid ein Tuch aus der Hosentasche zog und damit penibel den Rand des Couchtisches, das Tablett und den Griff der Teetasse abwischte. Dann ging sie zur Wohnzimmertür und wischte die Klinke ab. »Was … machen Sie da?«
Aber Ingrid gab keine Antwort. Stattdessen ging sie in den Vorraum, und Dorothea sah, wie sie auch dort die Klinke der Eingangstür abwischte, dann das Tuch über den Schlüssel legte und die Tür aufsperrte.
»Nein …« Dorothea versuchte, sich zu erheben, war aber zu schwach und rutschte von der Couch auf den Teppichboden.
Bevor sie ohnmächtig wurde, sah sie noch, wie der grauhaarige Mann ihr Haus betrat.