Kurz nach 9.30 Uhr waren Marc und Sabine endlich wieder in ihrer Wohnung in Wiesbaden, die sie sich vor einem Jahr gekauft hatten.
»Was für eine Nacht«, stöhnte Marc und warf seine Taschen auf die Couch im Wohnzimmer. Alles miefte nach Rauch, seine Socken waren immer noch nass vom Regen, und er war todmüde. Am liebsten hätte er sich gleich so – nass, geräuchert und verschwitzt – auf die Couch zwischen die Taschen gelegt, die Decke über den Kopf gezogen und zehn Stunden lang ohne Unterbrechung durchgeschlafen. Aber er wusste, ihr Aufenthalt in der Wohnung würde nur von kurzer Dauer sein, eine kleine Verschnaufpause, denn seit bereits vier Stunden lief die Suche nach der dunkelhaarigen Frau auf dem mittlerweile restaurierten Foto durch alle Daedalos-Datenbanken. Sneijder würde jeden Moment anrufen, und dann ging es weiter. Allerdings nur noch heute, denn morgen früh würden Sabine und er für eine Woche zu Sabines Schwester, ihrem Vater und ihren Nichten Connie, Kerstin und Fiona nach München fahren. Nach eineinhalb Jahren ohne Urlaub hatten sie sich diese Tage redlich verdient.
Sabine schlüpfte im Vorraum aus ihren Schuhen, knallte sie gegen die Kommode, öffnete den Pferdeschwanz, zu dem sie ihre langen braunen Haare zusammengebunden hatte, und zog sich auf dem Weg ins Badezimmer Jacke und T-Shirt aus. »Schatz, stopf die ganze Wäsche bitte gleich in die Maschine – ich muss unter die Dusche.«
»Ja, sicher.« Er sah ihr nach. Wie konnte sie jetzt nur an die Wäsche denken? »Wahnsinn, die RAF ist wieder da«, rief er ihr nach.
»Ich habe das noch gar nicht richtig realisiert«, tönte es aus dem Badezimmer. Kurz drauf hörte er den Ventilator und das Prasseln der Dusche.
Es war ja auch kaum zu glauben. Marc war fünfunddreißig, nur ein Jahr älter als Sabine, und konnte sich – damals noch ein Kind – nur verschwommen an die letzten Jahre des RAF-Terrors erinnern, an die Attentate mit den Autobomben, die Entführungen und Banküberfälle und auch die furchtbaren Hinrichtungen, die von den Mitgliedern vollstreckt worden waren. Und jetzt sollte das alles wieder von vorne beginnen? Der Gedanke kam ihm so surreal vor.
Während er sich aufraffte und in der zum Wohnzimmer hin offenen Küchenzeile eine Tasse starken Kaffee aus der Maschine laufen ließ, läutete es an der Tür. Das wird doch nicht schon Sneijder sein?
Dafür war es eigentlich noch zu früh. Er ertappte sich bei dem Gedanken, die Tür zu öffnen und in den Lauf einer Waffe zu blicken, während eine maskierte Frau den Kopf neigte, ihn anstarrte, Scheiß-BKA-Bulle flüsterte und den Abzug drückte.
Hör auf! Du machst dich verrückt! Er blickte durch den Türspion und sah Tina Martinelli im Treppenhaus. Erleichtert öffnete er die Wohnungstür.
»Wow, toller Look«, sagte Tina grinsend und deutete auf seine verfilzte Frisur und das geräucherte schwarze T-Shirt, das den FBI-Agenten Dale Cooper aus der TV-Serie Twin Peaks zeigte. Dann tat sie so, als schnupperte sie durch die Luft. »Hier riecht es wie in einer Räucherkammer – und nach verdammt gutem Kaffee. Ist der für mich?«
»Aber klar, komm weiter.« Er ging zur Maschine, reichte Tina die volle Tasse und ließ eine zweite für sich selbst aus dem Automaten.
»Ich bin hundemüde – hab die halbe Nacht durchgearbeitet.« Tina ließ sich auf die Couch nieder. Wie immer war sie leger gekleidet – Jeans und Windbreaker – und streifte sich automatisch die langen schwarzen Haare hinters Ohr. Die andere Seite des Kopfes war kahl rasiert. Er hatte sie bisher immer nur mit diesem speziellen Sidecut gesehen. Auch wenn sie jetzt Detektivin mit eigener Kanzlei war – am Ufer des Mains in Mainz-Kostheim, dem südlichsten Stadtteil Wiesbadens –, an ihrem unseriösen Aussehen hatte sich im letzten Jahr nichts geändert. Sie trug immer noch Piercings in Nase und Lippe, und seitlich am Hals war sogar ein neues Tattoo dazugekommen. Ein Pentagramm mit einer Katze, sofern er das richtig deutete.
»Warst du erfolgreich?«, fragte er.
»Wäre ich sonst so entspannt und würde hier herumhängen und mit dir plaudern?«, entgegnete sie.
»Punkt für dich – und was hast du herausgefunden?«
»Erzähl ich dir später …«, sie drehte den Kopf in Richtung Badezimmer, »… wenn Sabine aus der Dusche kommt.«
»Wer sagt, dass Sabine im Bad ist und nicht eine meiner vielen Geliebten?«
»Der einfache Grund, dass du noch am Leben bist.« Sie grinste. »Denn hättest du tatsächlich eine Affäre, hätte ich das schon längst herausgefunden, Sabine hätte dich kaltgemacht, und Sneijder hätte deine Leiche verschwinden lassen.«
»Zweiter Punkt für dich. Du siehst übrigens hungrig aus«, stellte er fest.
»Ich könnte eine riesige Portion Spiegeleier vertragen.«
Ich auch. Wer weiß, ob sie später noch Gelegenheit haben würden, etwas zu essen. Also ging Marc zur Küchenzeile, holte eine große Pfanne aus der Schublade und eine Packung Eier aus dem Kühlschrank. »Speck oder Schinken?«
»Ja, bitte.« Tina streckte die Arme von sich und gähnte leise. »Wer ist dieser Conrad eigentlich? Und warum seid ihr so verbissen hinter ihm her? Was hat er ausgefressen?«
»Wissen wir noch nicht genau.« Marc schlug sechs Eier in die Pfanne und gab Speckwürfel, Schinkenscheiben und jede Menge geriebenen Käse dazu. Dann schaltete er die Dunstabzugshaube ein.
»Wisst ihr noch nicht?«, wiederholte sie.
Während das Essen in der Pfanne brutzelte, setzte er sich auf die Lehne der Couch. »Die Kollegen vom Staatsschutz am BKA-Standort Meckenheim, die seit mehreren Monaten undercover im Darknet unterwegs sind, haben in einem neuen Messenger-Dienst Chats von linken Terrorzellen abgefangen. Die haben sich dort in diversen Foren vernetzt, fusionieren gerade, und dabei taucht immer wieder ein Name auf: Ruth-Allegra Francke. Sie und ihre Mitglieder bauen seit einem Jahr das Netzwerk einer neuen Terrorgruppe auf.« Er verschwieg, dass es die vierte Generation der RAF war, sich die Kontakte auch ins Ausland erstreckten und der BND in die Ermittlungen involviert war. Wahrscheinlich hatte er Tina ohnehin schon mehr verraten, als er durfte.
»Ich nehme an, die Chats sind verschlüsselt, und ihr kennt keine einzige Adresse und keinen Realnamen.«
Marc nickte. »Aber durch das Abhören von Telefonaten und Abfangen von E-Mails einiger Leute, die das BKA seit Jahren routinemäßig überwacht, sind die Kollegen in Meckenheim auf einige Mitglieder dieser Gruppe gestoßen. Die bewegen sich natürlich nur anonym durchs Netz, allerdings konnten die Kollegen durch eine Sicherheitslücke im System eine einzelne IP-Adresse entschlüsseln und haben so eine Spur zu Paul Conrad entdeckt. Die erste reale Person. Ein echter Volltreffer, denn er steht, wie es scheint, in direktem Kontakt mit Ruth-Allegra Francke – und so kamen wir bei der Observation ins Spiel.«
»Und welche Rolle spielt Conrad in diesem Netzwerk?«
»Wissen wir noch nicht. Die Informationen sind noch ganz frisch. Er könnte einer von Ruth-Allegra Franckes Vertrauten oder, wenn wir Glück haben, sogar der geistige Kopf der Bewegung sein.«
»Vielleicht ist er aber auch nur ein einfacher Sympathisant«, widersprach Tina.
Marc schüttelte den Kopf. »Allein die Tatsache, dass er kurz vor dem Zugriff sein ganzes Haus abgefackelt hat und seitdem auf der Flucht ist, spricht dagegen. Leider kann Conrad fließend Englisch, Italienisch und Französisch und könnte überall untertauchen.«
Die Tür zum Bad ging auf. »Hier riecht es aber lecker … Oh, du bist da, hi.« Sabine kam im Bademantel mit einem über dem Kopf verknoteten Handtuch ins Wohnzimmer und begrüßte Tina mit Handschlag. »Ich nehme an, du warst erfolgreich«, stellte sie als Nächstes fest, »sonst wärst du nicht hier.«
»Du bist so clever«, sagte Tina lachend und schielte zu Marc.
Während der nun auch Sabine einen Kaffee machte, stellte Sabine Pfanne, Brot und Teller auf den Tisch und füllte drei Gläser mit Orangensaft.
Sie nahmen Platz. »Ich habe tatsächlich herausgefunden, wer die Frau auf dem Foto ist«, sagte Tina mit vollem Mund. »Sie wohnt in Augsburg. Das BKA musste ihr Konto gar nicht sperren, weil es sowieso überzogen ist. Und eine Kreditkarte hat sie auch nicht.«
»Das sind ja mal gute Neuigkeiten«, sagte Sabine. »Im Moment ist sie die einzige Spur zu Conrad.«
»Das BKA observiert ihre Wohnung, aber soviel ich weiß, ist sie bis jetzt noch nicht zu Hause aufgetaucht«, erklärte Tina.
»Wie heißt sie?«
»Anna Bischoff.«
Marc warf Sabine einen fragenden Blick zu. »Noch nie gehört«, sagten sie wie aus einem Mund.
Tina schmunzelte. »Ihr erratet nie, wer das ist …«