9. Kapitel

Paul Conrad betrat Dorothea Reichhardts Villa und drückte mit dem Fuß die Eingangstür ins Schloss. Während er vom Vorraum ins Wohnzimmer spähte, wo die alte Frau vor der Couch auf dem Boden lag, schlüpfte er in dünne Latexhandschuhe. »Ist sie verletzt?«

»Nein, die schläft nur.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass dein Plan funktioniert.«

»Du hättest sie vermutlich umgebracht.« Anna zog sich die blonde Perücke vom Kopf und stopfte sie in ihren Rucksack, der neben der Eingangstür stand. Sie schüttelte ihr langes braunes Haar aus, das sie unter der Perücke hochgesteckt hatte, und band es zu einem Pferdeschwanz.

»Und das ist für dich okay, wenn wir eine lesbische Bildhauerin ausrauben, die in den Siebzigern …?«, begann Conrad, doch Anna unterbrach ihn.

»Mag sein, dass sie damals wild und verbissen für die Frauenrechte gekämpft hat, aber mittlerweile vertritt die Alte im Stadtrat die AfD …«

»Die AfD?«, unterbrach er sie.

»Ja, die marschiert bei jeder Demo, die den Klimawandel leugnet, in der ersten Reihe mit. Menschen ändern sich … leider.« Anna holte ein Paar Latexhandschuhe aus dem Seitenfach ihres Rucksacks und zog es sich an. »Und darum ist diese Enteignungsaktion völlig korrekt.«

»Okay, labern wir nicht lange herum.« Ihnen blieb jetzt sowieso keine andere Wahl mehr, als es durchzuziehen. Conrad ging ins Wohnzimmer und öffnete alle Schränke und Schubladen. Erst fand er nur ein wenig Bargeld und Schmuck, stieß dann aber in einer kleinen Porzellanvase auf einen typisch aussehenden Safeschlüssel.

»Hier ist ein Tresor in der Wand«, rief Anna fast zeitgleich aus dem oberen Stockwerk. »Hinter dem Bild im Schlafzimmer … ist aber massiv, kriegen wir sicher nicht auf.«

»Ich habe den Schlüssel!« Conrad befand sich bereits auf der alten, knarrenden Holztreppe nach oben.

Vielleicht hatten sie ja Glück, und sie fanden etwas wirklich Wertvolles. Conrad hatte Anna gewarnt, nichts von ihrem ohnehin überzogenen Konto abzuheben. Ebenso wenig kam er selbst im Moment an irgendwelche Gelder ran, ohne eine digitale Spur zu hinterlassen. Die Techniker des BKA hätten jede elektronische Aktion bemerkt und zurückverfolgen können, wodurch er sie direkt zu den RAF-Geldern geführt hätte.

Also hatte Anna noch vor dem Morgengrauen rasch das Wichtigste in einen Rucksack gepackt und war mit einer kleinen Reisetasche von zu Hause abgehauen. Anscheinend gerade noch rechtzeitig, bevor ihre Wohnung von der Polizei observiert wurde. Zumindest hatten sie während ihres Treffens nicht bemerkt, dass ihnen jemand gefolgt wäre. Bargeld hatte Anna jedoch keins daheim gehabt, also hatten sie rasch improvisieren müssen. Ohne genügend Kohle würden sie sich nicht absetzen können.

Doch das Glück war endlich einmal mit ihnen. Nach fünf Minuten hatten sie Dorothea Reichhardts Safe geöffnet und Schmuck und Bargeld im Wert von geschätzten dreißigtausend Euro erbeutet. In einem von Dorotheas Schränken fanden sie eine Umhängetasche, die sie mit Schmuck und Geldscheinen vollpackten. Annas Tipp, den sie von befreundeten Sympathisanten aus der Szene erhalten hatte, war goldrichtig gewesen. Und dann war Reichhardt auch noch in ihrem Garten gewesen.

Zuletzt nahm Conrad der Frau, die immer noch bewusstlos auf dem Boden lag, Ohrringe, Ketten und Armbanduhr ab.

Anna kam ins Wohnzimmer. »Schläft sie noch?«

»Wie ein Stein.«

»Ich habe in ihrer Brieftasche zwei EC-Karten gefunden. Ich schätze, der PIN-Code ist auf diesem Wisch als Telefonnummer getarnt. Ganz alter Trick.« Sie wedelte mit einem kleinen Zettel herum, den sie in einem Seitenfach der Geldbörse gefunden hatte.

»Solltest du rasch ausprobieren, bevor sie wach wird und den Diebstahl meldet.«

»Wir sollten sowieso schon längst weg sein.«

Anna hatte recht. Conrad legte ihr den Arm um die Schulter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Danke, dass du mir geholfen hast!«

»Was bleibt mir denn anderes übrig?« Sie verzog das Gesicht. »War sowieso nur eine Frage der Zeit, bis sie uns entdecken und herausfinden, was wir vorhaben. Und wenn sie dich schnappen, kriegen sie auch mich und dann alle anderen. Die Frage ist, was wir als Nächstes tun?«

»Wir bleiben bei unserem Plan«, sagte er. »Ich fliege morgen. Am besten kommst du mit.«

Sie sah ihn skeptisch an. »Der Flug ist doch schon seit Wochen gebucht. Wer weiß, ob da überhaupt noch ein Platz …«

»Lass das meine Sorge sein. Auf jeden Fall kannst du nicht in Deutschland bleiben. Deine Wohnung ist nicht mehr sicher.« Er nahm ihre Hand. »Und ich würde mir nie verzeihen, wenn dir etwas passiert.«

»Weiß ich doch.« Sie kaute nachdenklich an der Unterlippe. »Hast du schon die anderen darüber informiert, dass die Polizei hinter uns her ist?«

»Nein, mache ich, wenn wir sicher im Ausland sind. Zuerst müssen wir aber aus diesem Land verschwinden. Am besten trennen wir uns jetzt gleich und fahren separat zum Flughafen.« Falls sie einen von uns schnappen , fügte er in Gedanken hinzu. »Ich besorge dir inzwischen ein Ticket und eine Hotelreservierung.«

»Die überwachen doch sicher unsere Handys.«

»Bestimmt. Darum habe ich meins auch schon entsorgt«, sagte er.

»Na toll. Wie komme ich dann an mein Ticket?«

Er blickte auf den Stapel auf dem Couchtisch. Zuoberst lag eine Postwurfsendung von einem Speed-Dating in Augsburg, das heute Abend stattfand.

»Geh dorthin, um den Rest kümmere ich mich.«