10. Kapitel

»Moment …« Marc wischte sich mit der Serviette den Mund ab und schob seinen halb vollen Teller beiseite. »… und wie hast du herausgefunden, dass das Anna Bischoff ist?«

Tina grinste überlegen und stützte sich mit dem Ellenbogen auf den Tisch. »Da staunst du, was?«

Marc klappte sein Notebook auf und loggte sich in die BKA-Datenbank ein. Am aktuellen Stand sah er, dass Daedalos bis jetzt noch keinen Treffer erzielt hatte.

»Ja, das würde mich auch brennend interessieren«, sagte Sabine mit vollem Mund, während sie einen Blick auf Marcs Bildschirm warf.

Tina pickte ein Stück ihres Spiegeleis mit der Gabel auf. »Zunächst habe ich mir von Sneijder sämtliche Bankdaten von Paul Conrad schicken lassen, und eine Sache ist mir gleich ins Auge gesprungen. Conrad hat jahrelang monatlich siebenhundert Euro auf das Konto einer Frau in Augsburg eingezahlt. Aber vor neun Jahren wurden die Zahlungen plötzlich eingestellt.«

»Und wer ist diese Frau?«

»War diese Frau«, korrigierte Tina kauend. »Sie hieß Herta Bischoff und hat sich vor neun Jahren, mit siebenunddreißig, mit einer Überdosis Tabletten selbst weggeschossen. Schwere Depressionen.«

»Herta Bischoff, Augsburg, seit neun Jahren tot … sagst du«, murmelte Marc, während seine Finger über die Tastatur flogen. »Ah, hier. In der Datenbank gibt es einen Eintrag. Sie war wegen kleinerer Delikte mehrfach vorbestraft, in ihrer Jugend eine Sympathisantin der RAF und später wegen psychischer Erkrankung auch in einigen Kliniken.«

Sabine runzelte die Stirn. »Wann begannen diese Zahlungen?«

»Als die Frau neunzehn und Conrad sechsunddreißig war«, erklärte Tina.

Sabine hob die Augenbrauen. »Hat sie damals …?«

»Richtig, ein Kind zur Welt gebracht.« Tina nickte. »Eine Tochter – Anna Bischoff, die braunhaarige junge Frau auf dem Foto. Ich habe die ehemalige Nachbarin von Herta Bischoff ausfindig gemacht und gleich in der Früh mit ihr telefoniert. Sie hat mir erzählt, dass Herta während einer Gastvorlesung an der Uni Augsburg Paul Conrad kennengelernt hat. Anna Bischoff ist Paul Conrads uneheliche Tochter.«

»Dann muss Anna heute … siebenundzwanzig sein«, murmelte Marc, während seine Finger erneut über die Tastatur flogen. »Leck mich am Arsch«, rief er. »Anna ist ebenfalls vorbestraft. Wie ihre Mutter. Einbruch und Sachbeschädigung. Sie gehörte einer linken Studentenbewegung in Augsburg an, wo sie letztes Jahr ein Philosophie- und Sozialwissenschaftsstudium abgebrochen hat.« Er schob Sabine das Notebook hin und zeigte ihr das Foto. »Das ist sie, oder? Kein Wunder, dass Daedalos nichts gefunden hat.« Das vom Wasser aufgeweichte und halb verbrannte Foto war einfach zu schlecht gewesen, um einen Treffer zu erzielen.

Sabine beugte sich über den Tisch. »Was hat die Nachbarin noch erzählt?«

»Nicht mehr viel. Conrad hatte zu Annas Mutter – mit Ausnahme der monatlichen Zahlungen – nur einen losen Kontakt. Aber seit ihrem Selbstmord kümmert er sich anscheinend um seine Tochter, die schon als Kind aufsässig und frech war und sich keinen Regeln unterwerfen wollte.«

Sabine nickte in Gedanken versunken. »Möglicherweise ist sie auch Teil von Ruth-Allegra Franckes Gruppe.«

Tina kniff misstrauisch die Augen zusammen. »RAF-Sympathisanten … Ruth-Allegra Francke … sagt bloß, dass …?«, dämmerte es ihr.

»Wir dürfen nicht darüber reden«, sagte Sabine rasch. »Aber ja, du hast genau ins Schwarze getroffen.«

Tina wurde schlagartig blass. »Ach du Kacke«, entfuhr es ihr. »Deswegen also das Tempo.«

In diesem Moment klingelte Sabines Handy. »Sneijder«, sagte sie, nachdem sie einen Blick auf das Display geworfen hatte. Sie nahm das Gespräch entgegen. »Hallo, Sie sind auf Lautsprecher«, sagte sie kurz angebunden, während sie die Freisprechtaste drückte. »Tina und Marc sind bei mir.«

» Kommen Sie mit Marc sofort ins Büro. Es geht weiter. Wir haben eine Spur zu der jungen Frau gefunden.«

Tina beugte sich nach vorn. »Und wie und wo? In drei knappen und präzisen Sätzen«, fügte sie mit einem breiten Grinsen hinzu.

» Martinelli, versuchen Sie gerade in meiner Gegenwart …?«

»… witzig zu sein?«, fiel sie ihm ins Wort. »Nein, würde ich mir nie erlauben. Also?«

» Nach Ihren Recherchen hat das BKA sämtliche kriminellen Vergehen der letzten zwölf Stunden in Augsburg überprüft. Anna Bischoff ist in der Innenstadt von der Überwachungskamera eines Geldautomaten gefilmt worden, als sie Geld abgehoben hat – und zwar mit einer Karte, die kurz zuvor einer älteren Dame geklaut worden war. Im Moment wird in Augsburg nach ihr gefahndet. Ich bin sicher, dass wir sie bald haben.«

Sabine fuhr Marc durchs verfilzte, struppige Haar. »Wir sind in zehn Minuten unterwegs – Marc muss vorher unbedingt noch duschen.« Bevor Sneijder etwas Gehässiges darauf erwidern konnte, hatte Sabine das Gespräch bereits beendet.

Tina stand auf. »Mann, bin ich froh, dass ich nicht mehr in diesem Verein arbeite und meine eigene Chefin bin.«

»Wirklich?«, fragte Sabine lauernd. »Das geht dir gar nicht ab?«

Tina gab keine Antwort darauf. »Macht schon, ihr beiden«, sagte sie stattdessen. »Ich räume in der Zwischenzeit das Geschirr weg.«