Kufstein am Inn lag zwar nur drei Kilometer von der Grenze zu Bayern entfernt, aber Lea Fuchs war mit Leib und Seele Tirolerin und liebte ihren Geburts- und Wohnort über alles.
An diesem Nachmittag saß sie schon seit über einer Stunde im Gastgarten des Cafés Andreas Hofer bei Apfelstrudel mit Vanillesoße und mehreren Tassen Kaffee, blickte auf den funkelnden glasklaren, manchmal grün, manchmal blau schimmernden Inn und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Auch wenn es schon fast fünf war, würde es noch eine Weile dauern, bis die Sonne hinter den Berggipfeln versank. Trotzdem musste sie sich langsam auf den Weg machen. Sie kramte ihre Geldbörse aus der Jeanstasche.
Es wird Zeit, dass wir gehen, sonst wachsen wir hier noch fest , drängte Camilla.
»Ja, du hast recht«, murmelte Lea und drehte sich zum Kellner, um ihn herzuwinken.
Heute war Leas dreiundvierzigster Geburtstag, und wie jedes Jahr an diesem Tag gönnte sie sich diese kleine Auszeit, um einmal Abstand von ihrem stressigen Job zu finden. Dass heute Sonntag war, tat nichts zur Sache, da sie normalerweise auch am Wochenende E-Mails beantwortete und mit Kunden telefonierte, weil deren Alarmanlagen einen Fehlalarm produziert oder ganz einfach den Geist aufgegeben hatten. In ihrem Job als Sicherheitsexpertin gab es kein Verschnaufen, da ständig etwas los war.
Lea zahlte, nahm den Blumenstrauß, der in Klarsichtfolie eingepackt auf dem Stuhl neben ihr lag, erhob sich und verließ den Gastgarten des Cafés.
»Sollten wir öfters machen«, sagte Lea. »Der Karamellkaffee hier ist echt köstlich.«
Mag ja sein, aber das Personal ist nicht so der Burner.
»Was stört dich daran?«, fragte Lea.
Das Aussehen , antwortete Camilla prompt.
»Echt jetzt? Die Typen müssen so aussehen … dichter Vollbart, Holzfällerhemd … ist schließlich das Andreas Hofer . Was erwartest du da?«
Ist mir doch egal, und wenn es der Freiheitskämpfer höchstpersönlich wäre, der die Gäste bedient. Übrigens hat dir der Kellner zu wenig Retourgeld rausgegeben.
»Wenn schon, ist das nicht egal?«
Wenn du auf fünf Euro verzichten kannst. Außerdem hat er dir vorhin ziemlich offensichtlich auf Busen und Po gestarrt.
»Neidisch? Ist ihm wenigstens aufgefallen.«
Er starrt dich übrigens immer noch an.
»Ja, vielleicht hätte ich die Stöckelschuhe nicht anziehen sollen.«
Ha, witzig. Er glotzt immer noch her.
»Woher willst du das denn wissen?«
Dreh dich doch zur Seite und schau zur Tortenvitrine.
Lea drehte den Kopf und sah sich im Spiegel der Vitrine: schlank, hochgewachsen, breite Schultern und langes feuerrotes Haar, das der Wind aufwirbelte. Sie bändigte ihre Frisur und schob sich die Sonnenbrille ins Haar, dann sah sie in der Spiegelung der Vitrine, dass ihr der Kellner tatsächlich hinterherstarrte.
Ich würde dem Arsch die Meinung geigen.
»Halt die Klappe, Camilla!«
Und Camilla hielt die Klappe, woraufhin Lea schweigend in Richtung Kalvarienberg ging. Auf halber Strecke bog sie zum Kufsteiner Friedhof ein.
Ist es wieder so weit?, fragte Camilla leise.
»Wie jedes Jahr«, antwortete Lea. Sie öffnete das Tor und betrat den schmalen Weg, der an der Urnenwand vorbeiführte. Es waren nur ein paar Abzweigungen, dann stand sie vor einem Grab mit einem glänzenden, großen schwarzen Marmorstein. Dahinter waren die Kufsteiner Festung und die Berge zu sehen, auf deren Gipfeln noch vereinzelte Schneeflecken lagen. Was für ein beeindruckender Anblick. Leas Brustkorb wurde eng, und sie musste das Aufkommen von Tränen unterdrücken.
»Schade, dass du das nicht sehen kannst«, murmelte sie.
Rasch legte sie den Blumenstrauß auf den Steindeckel des Grabs, kniete sich hin und zündete mit ihrem Feuerzeug die mitgebrachte Kerze in der Grablaterne an. Dann richtete sie sich auf und betrachtete die Inschrift auf der Tafel. Dabei wurde es in ihrem Kopf einen Moment lang völlig ruhig.
Sie blickte auf die erste Zeile der Inschrift. Geburts- und Todestag der Person, die hier lag, waren identisch. Der 19. Mai. Ebenso das Jahr.
Sind die Blumen für mich?
»Für wen sonst?« Lea nickte. »Alles Gute zum Geburtstag, Schwesterherz«, flüsterte sie und wischte eine Träne weg.
Camilla war insgesamt nur eine Stunde und sieben Minuten am Leben gewesen, danach hatte ihr kleines Herz zu schlagen aufgehört.