13. Kapitel

Die Abendsonne schien auf die Grabsteine und brachte die Inschrift der schwarzen Marmorplatte zum Funkeln. Lea Fuchs stand immer noch vor dem Grab ihrer Eltern und ihrer Schwester. Sanft strich der Wind über die Einfassung und ließ die Einwickelfolie der Blumen knistern, die auf dem Stein lagen.

Leas Vater war Polizist gewesen und vor zehn Jahren, als Lea erst dreiunddreißig gewesen war, relativ jung gestorben. Und zwar während einer Autofahrt im Dienst. Allerdings nicht bei einem dramatischen Unfall oder Schusswechsel, sondern wegen einer winzigen Kalkablagerung, die sich irgendwo in seinem Körper gelöst, die Herzkranzgefäße verengt, den Blutfluss unterbrochen und einen Herzinfarkt verursacht hatte. Er war sofort tot gewesen, noch während das Auto auf der Straße ausgerollt und schließlich auf einem Grünstreifen vor einer Parkbank zum Stillstand gekommen war. Die halbstündige Reanimation des Notarztes hatte nichts mehr gebracht.

Wobei dieser schnelle, gnädige Tod eigentlich ein Segen gewesen war, wie Lea sich seitdem einzureden versuchte. Denn die Obduktion hatte überraschend ergeben, dass Brustkorb und Bauchbereich ihres Vaters voller Krebszellen gewesen waren, die bereits Metastasen in den Kopf gestreut hatten. Und so war ihm wenigstens ein langer qualvoller Tod in Begleitung von Bestrahlungen und Chemotherapien erspart geblieben. Eine langfristige Rettung – da waren sich alle Ärzte einig gewesen – hätte es für ihn nicht mehr gegeben.

Leas Mutter war noch viel früher gestorben, und an ihrem Tod war nichts Gnädiges gewesen. Ihr Todesdatum war der 19. Mai jenes Jahres, in dem Lea und Camilla auf die Welt gekommen waren. Lea hatte sie nie kennengelernt. Ihre Mutter hingegen hatte – wenn Lea den Erzählungen ihres Vaters Glauben schenken durfte – zumindest noch die ersten Schreie ihrer beiden Zwillingstöchter gehört, die sie nach einer langen und schwierigen Geburt zur Welt gebracht hatte. Eine Geburt, die nicht nur sie selbst, sondern auch Leas Zwilling das Leben gekostet hatte.

Es gab viele Theorien über Camillas unerwarteten Tod, je nachdem welchen Arzt man fragte, aber letztendlich kannte niemand die genaue Ursache. Die wahrscheinlichste Theorie war, dass es an dem stark vergifteten Fruchtwasser gelegen hatte, dessentwegen auch die Wehen eingeleitet werden mussten. Leas Schwester, die wegen mehrerer Komplikationen erst dreißig Minuten nach ihr mit einem Kaiserschnitt aus dem Bauch geholt werden konnte, hatte das meiste davon abbekommen.

Jetzt lag Camillas kleiner Körper ebenfalls in diesem Grab – mit ihrer Mutter gemeinsam in einem Sarg beerdigt.

Lea starrte auf den Grabstein. Im Moment schwieg Camilla. Seltsamerweise war dieser Ort hier der einzige, an dem ihre Stimme verstummte, sodass endlich Ruhe in Leas Kopf einkehrte. Bis jetzt hatte Lea noch nicht ganz herausgefunden, nach welchem Prinzip sich Camilla bei ihr meldete. Was sie hingegen wusste, war, dass Camilla nicht ihre Gedanken lesen konnte und sie deswegen ihre Schwester laut ansprechen musste, um eine Antwort von ihr zu erhalten. Manchmal peinlich, wenn andere zuhörten – allerdings erst, seit sie erwachsen war. In ihrer Kindheit hatte eigentlich nie jemand darauf geachtet, aber so blieb ihr zumindest ein wenig geistige Privatsphäre.

Die zahlreichen Psychologen, bei denen Lea wegen dieses Phänomens im Lauf der letzten Jahre gewesen war, hatten einhellig behauptet, dass Camillas Stimme nur eine Illusion ihres eigenen Unterbewusstseins war, mit dem sie Selbstgespräche führte. Wegen ihrer unbewussten Schuldgefühle am Tod ihrer Mutter und ihrer Schwester, aus Realitätsflucht oder um Vergebung zu finden. Keine dieser Diagnosen hatte jemals geholfen, außerdem wusste Lea, dass sie nicht psychisch krank war – schließlich hörte sie nicht einfach irgendwelche Stimmen, sondern nur die ihrer Schwester. Und sie führte auch nicht einfach Selbstgespräche. Camilla hatte schließlich eine eigene Persönlichkeit und einen eigenständigen Charakter – in vielen Dingen war sie viel aufmerksamer und raffinierter als Lea. Zudem äußerst clever und oft auch sehr zynisch. Sie ließ gehässige Kommentare vom Stapel, auf die Lea nie gekommen wäre. All das schloss ja wohl aus, dass es sich hier um Leas eigenes Unterbewusstsein handelte.

Nein, Lea war fest davon überzeugt, dass sie eine geistige Verbindung zu ihrem Zwilling hatte. Immerhin hatten sie neun Monate lang nebeneinander gelebt, waren miteinander verbunden gewesen, bis sie die Geburt auseinandergerissen hatte. Wäre Camilla zuerst herausgeholt worden, dann stünde sie vermutlich jetzt hier, Lea wäre tot – und Camilla würde vielleicht Leas Stimme in ihrem Kopf hören.

Stattdessen konnte sie mit Camilla reden. Und Camilla antwortete. Vor allem wenn Lea unter starkem Stress stand oder in Bedrängnis geriet. Etwas, von dem Lea mittlerweile niemandem mehr erzählte, weil es eben doch keiner begriff.

»Mama … Papa … Camilla …«, flüsterte Lea, als sie schließlich zu frösteln begann, »… bleibt anständig, wir sehen uns nächstes Jahr wieder.« Dann drehte sie sich um und ging in Richtung Ausgang.

Eine schöne Ansprache, richtig rührend, hast dir total viel dazu überlegt – echt beeindruckend! , meldete sich Camilla plötzlich wieder zynisch zu Wort, nachdem sich Lea ein paar Schritte vom Grab entfernt hatte.

»Bin eben keine große Rednerin – im Gegensatz zu dir«, murmelte Lea und verstummte, da eine ältere Dame mit Hund und einer schweren Gießkanne an ihr vorbeimarschierte.

Wohin gehen wir jetzt?

Lea wartete, bis die Frau vorbei war. »Nach Hause zu Gernot.«

O Gott, der! Musstest du mich an diesen Typen erinnern?