Lea Fuchs erreichte ihre Villa am südlichen Stadtrand von Kufstein. Das moderne weiße Hightech-Gebäude mit den vielen Glaselementen und einer großen Fotovoltaik-Anlage auf dem Flachdach thronte am Ende der Gasse auf einer kleinen Anhöhe mit Blick auf den Inn.
In diesem modernen Kasten wohnst du also , stellte Camilla überrascht fest. Oder wollen wir hier einbrechen, um die Alarmanlage zu testen?
Lea antwortete nichts darauf. Sie wusste, dass Camilla sie nur wieder einmal auf den Arm nahm.
He, ich mach doch nur Spaß.
»Ja, ich weiß.«
O Gott, was ist denn das?
Lea ignorierte den Kommentar und ging schweigend an dem riesigen Aushub direkt neben dem Haus vorbei. Zum Glück hatte es in dieser Woche nicht geregnet, sonst wäre der Garten mitsamt der Holzverschalung und den drei großen Erdhügeln im Matsch versunken. Eine Woche musste das schöne Wetter noch halten, dann wurde hier das Fundament für ihren großen Wintergartenanbau gegossen, in den Leas neues Büro hineinkam. Sie blieb vor der beeindruckenden Villa stehen und lächelte dankbar. Nie hätte sie gedacht, dass sich ihr Leben nach einer derart verkorksten Jugend so gut entwickeln würde.
Nach einer mittelmäßigen Gymnasium-Matura hatte Lea die Polizeischule absolviert, weil sie in die Fußstapfen ihres Vaters treten wollte. Im Anschluss hatte sie auch ein Jahr lang als Polizistin gearbeitet, dabei jedoch einen schrecklichen Fehler begangen und war wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden. Ein Sache, die sie am liebsten aus ihrer Erinnerung gelöscht hätte.
Immerhin war sie ohne Gefängnis mit einer bedingten Freiheitsstrafe von nur sechs Monaten davongekommen, weil der Richter statt Totschlag nur eine Überschreitung der Notwehr angenommen hatte. Sie hatte zwar ihren Job verloren, diesem aber keine Träne nachgeweint, weil der Beruf sowieso nie der richtige für sie gewesen war. Zum Glück war ihr damals kein Waffenverbot auferlegt worden. Daher hatte sie sich selbst die Ausbildung zur Personenschützerin finanziert, war jahrelang in ihrem neuen Job herumgereist und hatte erfolgreich für Banken, Versicherungen, Politiker und sogar internationale Schauspieler und Musiker gearbeitet, wenn diese nach Österreich kamen.
Ihr Traumjob. Bis sie im Dienst schwer an der Schulter verletzt wurde und sich eingestehen musste, dass sie sich mit ihren damals achtunddreißig Jahren zu alt für die Herausforderungen fühlte. Also hatte sie sich vor fünf Jahren noch einmal verändert, mit einer eigenen Firma selbstständig gemacht und einen Security-Beratungsdienst aufgebaut. Dank ihres guten Rufs als ehemalige Personenschützerin und ihren Kontakten zur High Society besaß sie binnen weniger Monate einen großen Kundenstamm, der durch Mundpropaganda immer noch weiterwuchs. Beruflich war sie heute erfolgreicher denn je, hatte dadurch aber fast kein Privatleben mehr und kaum noch Zeit für die regelmäßigen Selbstverteidigungskurse und ihren Kampfsport, den sie seit der Teenagerzeit trainierte. Dabei hätte sie beides dringend gebraucht, um trotz der vielen sitzenden Bürotätigkeit fit zu bleiben.
Redest du nicht mehr mit mir?
»Was? Ja, doch.« Lea schob ein Holzbrett beiseite, das ein Bauarbeiter wohl an die Wand gelehnt und der Wind umgeworfen hatte, betrat das Haus, streifte die Stöckelschuhe im Vorraum ab, legte Hausschlüssel und Handtasche aufs Board und betrat das Wohnzimmer. »Schatz?«, rief sie, bekam jedoch keine Antwort.
Oh, oh, er wird uns doch nicht verlassen haben?
»Das hättest du wohl gern«, flüsterte Lea. Camilla hatte Gernot von Anfang an nicht leiden können und sparte nicht an ätzenden Kommentaren über ihn. Die ignorierte Lea aber schon seit Langem und unterband jede Diskussion über ihren Freund. Schließlich waren sie schon seit vier Jahren zusammen und führten, wie Lea fand, eine erfüllende Beziehung.
Schließlich hörte sie über sich das Klappern eines Schranks.
Er ist oben, räumt vermutlich gerade hektisch seine Pornoheftsammlung weg.
»Schatz?«, rief Lea und stieg die Treppe hinauf.
Oder er hat eine Geliebte, die sich im Schrank ver…
»Sei still!« Lea erreichte das obere Stockwerk und stieß die Tür zum Schlafzimmer auf.
Gernot Wulff stand über das Bett gebeugt da, einen Stapel Sweatshirts im Arm. Vor ihm lag sein großer Koffer, aufgeklappt und schon fast vollständig gepackt.
Er zieht aus, oh, wie schade!
»Du verreist?«, fragte Lea.
Gernot stopfte die Pullis in den Koffer und richtete sich auf. »Ich habe einen Anruf aus Deutschland erhalten.« Er spielte mit dem braunen Lederband an seinem Handgelenk und wischte sich danach die schulterlangen brünetten Haare hinters Ohr. Na ja, nicht mehr ganz brünett. Wobei ihn die grauen Schläfen, die er letztes Jahr nach seinem fünfunddreißigsten Geburtstag bekommen hatte, in Leas Augen eher noch interessanter machten. Außerdem war so auch der Altersunterschied zwischen ihnen beiden – er war ja um einiges jünger als sie – nicht mehr so deutlich zu erkennen. Mit dem kantigen Gesicht, der schmalen Stahlrahmenbrille und dem grauen stoppeligen Dreitagebart sah er wie ein cooler Unidozent aus, der – wie seine Statur verriet – ziemlich viel Sport trieb.
»Deutschland?«, wiederholte sie. »Beruflich?«
»Schön wär’s«, schnaubte er.
Gernot war zwar ein genialer Programmierer und IT-Techniker, aber mit seiner eigenen Firma extrem erfolglos. Statt zu programmieren, verkaufte er mittlerweile nur noch PCs und Drucker über seinen Shop, es sei denn, Lea verschaffte ihm über ihren Beratungsdienst neue Kunden.
»Nein, es war das Heim in Bad Wildbad«, erklärte er.
O Gott, geht es seiner Mami wieder so schlecht?, meldete sich Camilla zu Wort.
»Meine Mutter hatte heute Morgen ihren dritten Schlaganfall«, fügte er hinzu.
»Das tut mir leid, Schatz.« Lea ging ums Bett herum und nahm ihn in die Arme. Sie spürte, wie sich seine Muskeln unter dem Shirt kurz anspannten.
»Ist okay.« Er schob sie von sich. »Ich muss mich beeilen, damit ich heute noch rechtzeitig hinkomme.«
Das Pflegeheim lag im Nordschwarzwald, und zwar in einem der mondänsten Kurorte im Südwesten Deutschlands. Gernot reiste an fast jedem zweiten Wochenende zwischen Kufstein und Bad Wildbad hin und her, was, da der Ort weit hinter Stuttgart fast schon an der französischen Grenze lag, dank der vielen Baustellen knapp fünf Stunden Autofahrt pro Richtung bedeutete. Lästig, aber da Gernot und seine Mutter aus dieser Gegend stammten, wollte die alte Dame nicht mehr umziehen, was Lea nur zu gut verstand.
Sie blickte auf den großen, randvoll gepackten Koffer. »Wie lange bleibst du denn weg?«
»Ja, wie lange werde ich wohl bleiben?«, fuhr er sie plötzlich gereizt an und deutete auf den vollen Koffer.
He, geht das vielleicht auch in einem anderen Ton , fuhr Camilla dazwischen. Aber Lea sagte nichts.
»Sorry, hab das nicht so gemeint.« Er schloss den Koffer und zog den Reißverschluss zu. »Ich fahre erst mal für eine Woche zu ihr, vielleicht sogar für zwei.«
»Zwei Wochen?«, wiederholte Lea und sah, wie er die schwere Armbanduhr vom Nachttisch nahm, sich aufs Handgelenk schob und seinen Reisepass in die Gesäßtasche der schwarzen Designerjeans steckte. »Wozu nimmst du denn den Pass mit?«
»Sicher ist sicher, falls sie mich an der deutschen Grenze kontrollieren.« Er wuchtete den Koffer vom Bett und zog den Griff raus.
Lea hatte Gernot das letzte Mal vor drei Jahren ins Seniorenheim begleitet, als es seiner Mutter ziemlich schlecht gegangen war, und schon damals war es ein schrecklicher Anblick gewesen. Wobei die Betreuung und Pflege in Bad Wildbad wirklich erstklassig waren. Das hatte natürlich auch seinen Preis, aber Lea hatte genug Geld, um alles zu bezahlen, und auch kein Problem damit. In gewisser Weise war es eine Möglichkeit, sich von ihren Verpflichtungen freizukaufen, weil sie seit damals nicht wieder die Zeit gefunden hatte, mit Gernot nach Deutschland zu fahren.
Jetzt, da es seiner Mutter deutlich schlechter ging, hätte sie ihn doch gern nach Bad Wildbad begleitet. Aber ausgerechnet im Augenblick war das völlig unmöglich. In fünf Tagen, am Freitag um zehn Uhr früh, würden die Betonmischwagen der Baufirma anrücken und das Fundament für ihren Anbau gießen. Der Zeitplan musste unbedingt eingehalten werden, denn sobald das Fundament getrocknet war, würden auch schon der Estrich draufkommen, der Wintergarten montiert und kurz darauf die Möbel geliefert werden. Lea war heilfroh, wenn sie das alles endlich ohne Verzögerungen hinter sich gebracht hatte und sich – in ihrem neuen Büro – wieder ganz ihren Kunden widmen konnte.
»Tut mir leid«, sagte sie, »weißt du, diesmal hätte ich dich gern …«
»Ja, sicher, aber du kriegst ja deinen Anbau.« Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und strich ihr kurz über den Po – etwas, das er schon lange nicht mehr getan hatte. Dann stopfte er sein restliches Zeug in eine Umhängetasche.
»Okay, ich lass dich in Ruhe fertig packen.« Sie drehte sich um, ging wieder die Treppe hinunter und machte sich in der Küche einen Martini.
Toller Geburtstag , ätzte Camilla, doch Lea ging nicht darauf ein, nippte nur am Glas. Verlass endlich diesen pseudointellektuellen Nichtsnutz und leb dein eigenes Leben – ohne ihn. Wir brauchen ihn nicht.
»Super Plan«, murmelte Lea und senkte die Stimme, da sie hörte, wie Gernot mit dem Koffer die Stufen herunterkam. »Du weißt ganz genau, dass ich verrückt werde, wenn ich allein bin.«
Erstens hast du doch mich …
»Was für ein Trost.«
… und zweitens deine Cousine, diese Öko-Tante.
Womit Camilla die am anderen Ortsende von Kufstein lebende Vicky meinte. Die allerdings genauso wenig von Camillas ständiger Lästerei verschont blieb wie Gernot.
Der rollte den Koffer zur Haustür und kam dann in die Küche. »Ach ja, alles Gute zum Geburtstag.« Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Wir holen die Feier nach, wenn ich wieder zurück bin, okay?«
»Ja, okay.«
Bleib einfach weg, du Arsch!
Lea starrte ihm nach, wie er das Haus verließ. Zum ersten Mal war sie fast geneigt, Camilla zuzustimmen.