19. Kapitel

In dem Moment, da sie in Vickys leblose Augen blickte, wusste Lea, dass durch den Tod ihrer Cousine auch ihr eigenes Leben ruiniert war.

Nur eine Sekunde der Unachtsamkeit, ein Augenblick der Gedankenlosigkeit – und nichts war mehr so wie früher. Sie hatte nicht nur den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren, auch alles andere würde sich nun schlagartig für sie ändern.

Zumal sie im moralischen Sinn sogar schuld an Vickys Tod war. Zu viel Gras, zu viel Alkohol und ein provokanter Schubser mit den Fingern. Auf den ersten Blick ein Unfall, aber ein gewiefter Staatsanwalt könnte wegen ihrer Vorstrafe nicht nur fahrlässige Tötung, sondern sogar Mord mit bedingtem Vorsatz daraus machen, da sie in Kauf genommen hatte, dass Vicky durch ihr Herumalbern etwas zustoßen könnte. Durch ihre Vergangenheit wusste Lea leider nur allzu gut, welche juristischen Feinheiten ihr zum Verhängnis werden konnten.

Sie holte tief Luft. »Falls es zur Anklage kommt, werde ich mit etwas Glück vielleicht freigesprochen …«

Ja, träum weiter. Die Polizei wird dich verhören und einen Drogentest mit dir machen, das ist dir doch klar, meldete sich Camillas Stimme wieder in ihrem Kopf. Und selbst wenn sie uns von allen Vorwürfen freisprechen würden , wären dein Ruf und deine Firma ruiniert. Die Zeitungen werden dich mit ihren Schlagzeilen fertigmachen. BEKIFFTE SICHERHEITSBERATERIN VERSCHULDET TOD EIGENER COUSINE!

»Nicht gerade hilfreich, was du von dir gibst«, murmelte Lea.

Doch! Hau einfach ab!

Lea reagierte nicht.

Hau ab!

Aber sie blieb weiter wie angewurzelt am Fuß der Treppe hocken und fühlte nach einem Puls, den es nicht gab. Schließlich zog sie die Hand zurück und wischte ihre Finger an den Jeans ab, als wollte sie die Berührung mit der Toten ungeschehen machen.

Was ist denn los mit dir? Versuch es wenigstens!

Zaghaft schüttelte Lea den Kopf. Es hatte keinen Sinn, jetzt rasch von hier abzuhauen. Schließlich hatten sie ganz schön laut gefeiert, und bestimmt hatten Nachbarn und zahlreiche Passanten nicht nur ihren Wagen vor Vickys Haus, sondern auch sie beide lachend und kichernd auf dem Balkon sitzen gesehen.

Sie musste zu dem stehen, was passiert war, musste die Polizei verständigen, von Vickys Tod berichten und genau erzählen, wie alles passiert war. Zu lügen hätte keinen Sinn, das hatte sie noch nie gut gekonnt, und sie würde sich in einem Verhör ohnehin nur in Widersprüche verstricken. Spätestens dann würde die Polizei sowieso auf alles draufkommen.

Sie erhob sich und griff mit zittrigen Fingern in ihre Hosentasche. Leer. Ihr Handy lag in ihrer Handtasche im Auto. Da sie nicht wusste, wo Vickys altes Tastenhandy lag, ging sie in den Vorraum, wo ein Festnetzapparat stand. Sie zog das schnurlose Funktelefon aus der Halterung und wählte automatisch die Nummer der Kufsteiner Polizeiinspektion, die sie auswendig kannte, weil sie dort früher regelmäßig ihren Vater angerufen hatte.

Wir haben noch Zeit, um gemeinsam alles zu durchdenken. Bist du sicher, dass du die richtige Entscheidung getroffen hast?

»Ja, bin ich«, sagte Lea apathisch. Während sie das Telefon ans Ohr presste und läuten ließ, wanderte ihr Blick wie in Trance über das Zeug, das auf der Kommode lag. Münzen in einer Glasschale, Kugelschreiber, Notizblock, Büroklammern, die Speisekarte einer Pizzeria und ein Flugticket.

Ein Flugticket?

Es läutete immer noch. Neben dem Ticket lag ein Reisepass in einer rotbraunen Lederhülle. Mit einer Hand blätterte Lea ihn auf. Es war Vickys Pass.

Schau an , sagte Camilla, sie wollte verreisen?

»Polizeiinspektion Kufstein«, meldete sich die Stimme einer jungen Polizistin.

Lea hob den Blick und sah vom Vorraum durch die halb offene Tür in Vickys Ankleidezimmer. In der Dunkelheit lag ein Koffer auf dem Boden.

»Hallo?«, fragte die Polizistin.

Lea betätigte den Lichtschalter im Vorraum, sodass das Licht auch durch den Türspalt ins Ankleidezimmer fiel. Der Koffer war fast fertig gepackt. Sie nahm das Ticket von der Kommode und ging in das Zimmer. Vicky hatte Bikini, Sandalen, Sonnenöl und Sommerkleidung im Koffer verstaut.

»Hallo? Wer spricht da?«

Lea schwieg immer noch. Sie faltete das ausgedruckte Flugticket auseinander. Vicky hatte bereits online für einen Lufthansa-Flug nach Palma de Mallorca eingecheckt. Die Maschine startete morgen um sieben Uhr früh in München. »Was zum Teufel …?«, flüsterte Lea.

»Hallo? Mit wem spreche ich? Nennen Sie mir bitte Ihren Namen! Von wo aus rufen Sie an?«, wollte die Polizistin wissen.

Am Flugticket hing ein Voucher für einen zehntägigen Aufenthalt in der Aurelia Bay Club Resort Hotelanlage auf Mallorca. Ein Apartment für eine Person! Warum hatte Vicky ihr nichts davon erzählt? Genierte sie sich dafür, dass eine Rebellin wie sie so einen Urlaub buchte? Noch während sie über die komische Geheimnistuerei ihrer Cousine nachgrübelte, spürte sie, wie Camilla von einer prickelnden Euphorie ergriffen wurde, als reifte gerade ein waghalsiger Plan in ihrem Kopf.

Leg den Telefonhörer auf! Rasch! Wir lösen das Problem auf unsere Weise , rief Camilla aufgeregt.

»Und was ist unsere Weise?«, flüsterte Lea.

Leg auf, dann erklär ich es dir.

»Hallo? Können Sie das bitte wiederholen«, verlangte die Polizistin.

»Sorry … ich habe mich … verwählt«, murmelte Lea und legte auf.