Während Miyu und Marc bei den Kollegen vom MEK blieben, um die Fahndung nach Paul Conrad in Augsburg zu intensivieren, brachte ein Polizeiauto Sabine und Sneijder durch die Fußgängerzone bis zu dem Kaufhaus, vor dem ein Polizeiaufgebot stand.
»Seien Sie vorsichtig – sie ist immer noch bewaffnet.« Der Polizist deutete zum zersplitterten Schaufenster. »Wir müssen dort rüber«, fügte er unnötigerweise hinzu, denn Sabine sah gleich, nachdem sie ausgestiegen waren, was passiert war.
Zwei weitere Polizeiautos mit Blaulicht sperrten den Zugang zur langen Schaufensterfront des Kaufhauses ab, und mehrere Polizisten riegelten das umliegende Gelände soeben mit einem Absperrband ab. Wie die schwarze Bremsspur auf den Pflastersteinen zeigte, war Anna Bischoff mit dem Motorrad anscheinend jemandem ausgewichen, gestürzt, mit der Maschine frontal ins Schaufenster gekracht und in den Laden geschlittert. Bestimmt war sie viel zu schnell gefahren, denn das Motorrad lag im dunklen Verkaufsraum ziemlich weit hinten zwischen Schaufensterpuppen und Kleiderständern.
Zahlreiche Fußgänger drängten sich hinter dem Absperrband, reckten die Hälse und hielten die Handys hoch, um das Schauspiel zu filmen. Es sah aus wie bei einem Rockkonzert. Hoffentlich streamte das niemand live.
Mit einem griesgrämigen Gesicht fotografierte Sneijder die Schaulustigen.
Ein Polizist kam auf sie zu. »Sind Sie Maarten Sneijder vom Bundeskriminalamt? Mir wurde gesagt, dass …«
»Maarten S. Sneijder«, korrigierte Sabine ihn. »Weiten Sie die Absperrung um weitere zehn Meter aus. Wir brauchen keine Zuschauer.«
»Und beschlagnahmen Sie die Handys aller Passanten. Dann löschen Sie Fotos und Videos«, ergänzte Sneijder. »Nichts davon darf im Internet landen.«
»Aber die Leute haben ein Grundrecht auf …«
»Heute gibt es kein Grundrecht!«
»Aber ich …«
»Ihre Meinung interessiert mich einen feuchten Dreck. Ich schicke dem Kommissariat die Fotos, die ich gerade gemacht habe, damit Ihre Kollegen die Leute ausfindig machen können, die Ihnen durchrutschen – und jetzt kümmern Sie sich um die Absperrung! Sofort!« Sneijder tippte bereits auf seinem Handy.
Sabine zog ihre Waffe und betrat mit Sneijder das Kaufhaus durch die gesplitterte Frontscheibe. Zum Glück hatte der Laden am Sonntag geschlossen, sonst hätte es hier ganz sicher Verletzte gegeben und noch mehr sensationslüsterne Zuschauer, die alles filmten.
»Dort …« Sneijder deutete mit der Waffe nach vorne.
Mit dem Oberkörper an einen Verkaufstresen gelehnt, ein paar Meter von der schwarz-goldenen Yamaha entfernt, saß Anna Bischoff. Ihr Atem ging schwer. Über ihre hochgesteckte braune Mähne war ein Haarnetz gespannt, an dem noch ein paar blonde Fäden von der Perücke hingen.
Offenbar war Annas eingedrückte Schulter komplett zertrümmert, ebenso waren ein merkwürdig wegstehender Unterarm und ein schmerzvoll aussehendes verdrehtes Knie gebrochen. Der feuchte dunkelrote Blutfleck auf dem ausgebeulten Jeansstoff über der Wade ließ auf einen weiteren offenen Knochenbruch schließen. Obwohl Anna bei ihrer Flucht keinen Helm getragen hatte, war der Kopf selbst unversehrt geblieben.
Allerdings blutete sie an mehreren anderen Stellen stark. Am Hals und seitlich am Genick ragten große, spitze Glasscherben hervor, die sie sich vermutlich reingerammt hatte, während sie über den Boden geschlittert war. Ebenso waren ihre Handflächen zerschnitten.
Sabine war klar, dass Anna bei diesen Verletzungen und der Blutmenge, die sie jede weitere Sekunde verlor, nur eine rasche Notoperation mit Bluttransfusionen retten konnte.
»Keinen Schritt näher …«, keuchte Anna und spuckte Blut. Anscheinend hatte sich eine gebrochene Rippe in ihre Lunge gebohrt. Kraftlos wollte sie die Waffe heben, die sie dem Kripobeamten zuvor abgenommen hatte, brachte jedoch nicht mehr die nötige Energie auf.
Sabine sah sich suchend um, aber es war kein Polizist in der Nähe. Niemand, der Erste Hilfe geleistet hatte. Dann erkannte sie den Grund. Neben Anna lagen mehrere leeren Patronenhülsen auf dem Boden, gleichzeitig roch Sabine das Schießpulver. Anna musste mehrmals geschossen haben, kein Wunder, dass sich ihr niemand genähert hatte. Aber jetzt fehlte ihr die Kraft, um das Magazin weiter zu leeren.
Während Sabine sicherheitshalber ihre Pistole auf Anna richtete, kniete sich Sneijder neben ihr hin und nahm ihr sanft die Waffe aus den Fingern.
»Hau ab, du Scheißbulle …«, presste Anna hervor.
»Anna, wo ist Ihr Vater?«, fragte Sneijder mit ruhiger Stimme.
»Das verrate ich dir nicht, Bullen-Arschloch.« Anna hob mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf und spuckte Sneijder Blut ins Gesicht.
Er wischte sich gelassen mit dem Ärmel des Sakkos über die Wange. »Anna, wir werden ihn sowieso schnappen.«
»Keine Chance …« Sie hustete Blut. »… du kennst ihn nicht … vorher bringt er sich um.«
Sneijder beugte sich näher zu ihr. »Wer ist Ruth-Allegra Francke?«
Sie grinste ihn mit blutverschmierten Zähnen an. »Wenn du das bis jetzt nicht weißt, wirst du Offensive Null-Fünf nicht mehr stoppen können.«
»Offensive Null-Fünf?«, wiederholte Sneijder.
Lächelnd tastete sie mit der unverletzten Hand zu ihrem Hals, und noch bevor Sneijder sie daran hindern konnte, zog sie sich mit einem Ruck den langen Splitter aus der Schlagader. Mit einem Schwall pulste das Blut aus der Wunde.
Sneijder presste sofort den Handballen auf ihren Hals, aber Sekunden später glitt Anna der Glassplitter aus den Fingern. Während sie mit einem zarten Lächeln zur Decke blickte, trübte sich ihr Blick und ihre Atmung versagte.
Die Augsburger Kripokollegin trat mit zwei Polizisten von hinten an sie heran und räusperte sich. »Der Krankenwagen ist in drei Minuten …«
»Brauchen wir nicht mehr.« Sneijder wischte seine blutige Hand an Annas Kleidung ab und erhob sich. »Wir verhängen eine absolute Nachrichtensperre über diesen Unfall. Über Annas Tod darf kein Wort an die Medien durchsickern!« Er warf Sabine einen besorgten Blick zu.
Und Sabine verstand sofort. Sie hatten keine Ahnung, was Offensive Null-Fünf bedeutete.