Nachdem Lea das Gespräch mit der Polizeiinspektion abgebrochen hatte, erzählte Camilla ihr in allen Details von ihrem Plan. Und der war so genial absurd, dass er vielleicht gerade deshalb funktionieren könnte.
Also machte sich Lea gleich ans Werk. Sie lüftete das Haus, verstaute die Bong und räumte die Liegestühle vom Balkon weg. Dann holte sie zwei große gelbe Plastikmüllsäcke aus dem Abstellraum, die sie der Länge nach aufschnitt und mit Isolierband zusammenklebte. Sie legte Vickys Leiche darauf und zog sie ein paar Meter weit von der Treppe weg, als sie vom Läuten des Festnetztelefons unterbrochen wurde.
Verdammt, geh nicht ran!
»Ich bin ja nicht blöd.« Lea ging zum Telefon und sah auf dem Display, dass die Kufsteiner Polizeiinspektion zurückrief. Die waren also stutzig geworden. Kein Wunder, so blöd, wie sie sich am Telefon angestellt hatte.
Lea ignorierte das Läuten und putzte stattdessen vom Boden und den Stufen das Blut von Vickys Schnittwunden weg. Danach kehrte sie die Glassplitter des Sektglases zusammen, wusch auch von den Splittern das Blut ab und warf danach alles in den Müll. Anschließend reinigte sie die gesamte Treppe mit dem Staubsauger, sowie jene Stelle, auf der Vicky liegen geblieben war.
Nachdem sie den Sauger wieder verstaut hatte, wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Jetzt kam der schwierige Teil. Wie in Trance schleppte sie die gelbe Plastikfolie mit Vickys Leiche darauf durchs Haus, den kurzen Gang und die Verbindungstür in die nebenan liegende Garage. Neben der Garagentür standen jede Menge Farbeimer, und Lea hätte in der Dunkelheit beinahe einen davon umgeworfen. Schnell schaltete sie das Licht ein.
Aus dem Vorzimmer hörte sie es erneut läuten. Die Polizei war ganz schön hartnäckig. Wenn man sie brauchte, kam sie nie – und wenn man sie nicht brauchte, war sie sofort zur Stelle.
Lea vergewisserte sich, dass man von der Straße aus Vickys Leiche neben den Farbeimern nicht sehen konnte. Dann schaltete sie das Licht aus, öffnete von innen das Garagentor und marschierte im Licht der Laternen zu ihrem Wagen, um ihn mit der Motorhaube voran in die Garage zu fahren.
Mittlerweile war das Läuten des Telefons verstummt. Sie schloss das Garagentor und schaltete das Licht wieder ein. »Okay«, murmelte sie und atmete tief durch. Der schwierigste Teil war geschafft.
Der schwierigste Teil kommt noch , korrigierte Camilla sie.
»Ja, ich weiß, die Leiche für immer verschwinden zu lassen.« Sie öffnete den Kofferraum und wuchtete Vicky mitsamt der Folie in ihren Wagen. Bis jetzt hatte sie rational, kühl und überlegt gehandelt, doch als sie Vicky so leblos und zusammengekauert daliegen sah – mit den zerschnittenen Fingern, dem gebrochenen Genick und dem starren Blick –, brach ihr das Herz. Plötzlich kamen ihr die Tränen. »Das hast du nicht verdient, altes Mädchen«, heulte sie.
Niemand hat das verdient , sagte Camilla in nüchternem Ton, aber es ist notwendig, wenn du nicht alles, was du dir in deinem Leben aufgebaut hast, ins Klo spülen willst.
»Du hast ja recht, aber gib mir noch eine Minute.« Sie schloss Vickys Augenlider und wischte sich die Tränen weg.
Hast du das gehört?
»Was?« Lea hob den Kopf und lauschte.
Draußen! Das Gartentor!
Lea stürzte zum Garagenfenster, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte auf die Straße. Vor dem Haus stand ein Polizeiwagen, in dem eine Beamtin saß. Kein Blaulicht. In diesem Moment läutete es auch schon an der Tür.
»Shit!« Lea hielt den Atem an. Sie musste sich die nächsten Minuten nur völlig ruhig verhalten und abwarten. »Der Wagen fährt vielleicht wieder weiter.«
Das glaubst du doch selbst nicht. Du MUSST die Tür öffnen, sonst kommen sie herein , drängte Camilla. Und dann finden sie deinen Wagen in der Garage. Mit einer Leiche im Kofferraum.
»Und was soll ich sagen?«, zischte Lea. »Die werden merken, dass Vicky nicht zu Hause ist.«
Bist du wirklich so blöd? Gib dich einfach für deine Cousine aus! Ihr seht euch sowieso ziemlich ähnlich, habt die gleiche Figur, und du kannst ihre rauchige Stimme gut imitieren.
»Okay, aber dann sei jetzt still!« Hastig flocht sie ihre langen roten Haare zu einem schlampigen Zopf, schnappte sich Vickys Schirmkappe und ließ die Haare hinten herausbaumeln. Dann wollte sie nach Vickys Brille greifen, doch die war weg. Was zum Teufel?
Sie dachte nach. Stimmt! Als sie ihrer Cousine die Augen geschlossen hatte, hatte die schon gar keine Brille mehr aufgehabt. »Wo ist die scheiß Brille?«, fluchte Lea.
Es läutete wieder an der Tür.
Ist ihr beim Sturz runtergefallen.
»Danke.« Lea stürzte aus der Garage, durch den kurzen Verbindungsgang ins Haus und sah sich im Vorraum um. Wo lag die Brille? Beim Saubermachen war ihr nichts aufgefallen.
Die Kommode!
Lea drehte sich um. Ja, richtig, die Brille war zwischen den Stufen durchgerutscht und unter der Treppe auf der Kommode gelandet. Zum Glück war sie heil geblieben. Nur ein Bügel war verbogen, den Lea rasch richtete. Während sie zur Haustür lief, setzte sie sich die Brille auf und zuckte kurz zusammen. Verdammter Mist, das waren mindestens fünf Dioptrien. Sie konnte fast nichts damit sehen.
Nun pochte jemand fest gegen die Tür.
»Ich komme ja schon«, rief Lea mit verstellter rauchiger Stimme und öffnete die Tür. Sie sah die verzerrten, verschwommenen Umrisse eines jungen Polizisten, der vor ihr stand.
»Vicky Fuchs?«, fragte er.
Sie nickte. »Ja, worum geht es denn?«
»Haben Sie vorhin die Inspektion angerufen?«
»Ja, das war ich. Tut mir leid, ich dachte, ich hätte ein verdächtiges Geräusch in der Garage gehört.«
»Und?«
»Während ich telefonierte, hörte ich plötzlich ein Miauen. Ich bin in die Garage gelaufen, und es war nur die Katze des Nachbarn, die sich reingeschlichen und einen Farbeimer umgeworfen hat. Ich wollte das Biest rausscheuchen und habe dabei aufgelegt.«
Der Polizist nickte. »Darf ich mich trotzdem kurz umsehen?«
»Aber sicher.« Lea lächelte. »Wissen Sie, mein Onkel war früher auch Polizist in Kufstein. Ist aber schon lange her. Ist jung gestorben, hatte im Dienst einen Herzinfarkt.«
»Fuchs? Ja, hab von ihm gehört, ihn aber nicht mehr kennengelernt, tut mir leid.« Der Polizist nickte und betrat das Haus. Aus seinem Funkgerät war ein verzerrter Funkspruch zu hören, der Lea an ihre eigenen Jahre bei der Polizei erinnerte.
»Was wollen Sie denn sehen?« Lea deutete durch den Vorraum. Sie hoffte, er war nicht allzu neugierig, da sie mit der Brille ziemlich unkoordiniert war und nirgendwo gegenlaufen wollte.
»In der Garage brennt Licht«, stellte der Polizist fest. »Darf ich einen Blick hineinwerfen?«
»Aber sicher. Folgen Sie mir.« Während Lea vorausging, nahm sie kurz die Brille ab und massierte ihre Augen. Mannomann! Dann setzte sie das Ding wieder auf.
Das war keine gute Idee, dem Bullen eine Hausführung zu gewähren , meldete sich Camilla zu Wort. In der Garage wurde gar kein Farbeimer umgeworfen.
Lea reagierte nicht darauf, sondern ging weiter durch den kurzen Verbindungsgang.
Außerdem hast du den Kofferraumdeckel offen gelassen, als du aus der Garage gestürzt bist.