22. Kapitel

Die Augsburger Polizei riegelte den Unfallort im Kaufhaus ab, Krankenwagen, Notarzt und Spurensicherung fuhren vor, und die Beamten draußen hatten alle Hände voll zu tun, die Personaldaten der Schaulustigen aufzunehmen. Danach löschten sie auf deren Handys die Bilder und Videos, was bei den meisten Gaffern lautstarken Protest hervorrief.

Aber darum kümmerten sich weder Sneijder noch Sabine. Sie untersuchten in der Zwischenzeit Annas Leichnam und ihr Motorrad. Da jetzt nur noch das matte Licht der Abenddämmerung durch die Schaufenster hereinfiel, schaltete jemand das Deckenlicht im Kaufhaus ein.

Im Seitenkoffer der stylischen Yamaha YZF-R1 befand sich nur eine Reisetasche, darin ein wildes Durcheinander von Schuhen, Kleidung, Unterwäsche, Kosmetikartikeln sowie weiteren Perücken und Brillen, offensichtlich in großer Eile reingequetscht. Sabine übergab alles einem Polizisten.

Der Inhalt von Annas kleinem Lederrucksack, den Sneijder ihr von den Schultern zog, war da schon viel interessanter. Darin fanden sie ihre Brieftasche mit Ausweis, ihren Reisepass sowie ein wenig Bargeld und ihr Handy, das Sabine mit Annas Daumen entsperrte.

» Godverdomme« , zischte Sneijder, als er fünf weitere Reisepässe aus einem Seitenfach des Rucksacks zog. Lauter verschiedene Namen mit jeweils anderen Geburtsjahren, Geburtsorten und unterschiedlichen Fotos, die Anna ähnlichsahen. Einen der Pässe hielt Sneijder ins Deckenlicht. »Ziemlich gute Fälschung.«

»Demnach können wir also davon ausgehen, dass auch Paul Conrad mehrere Reisepässe hat«, schlussfolgerte Sabine. Das würde die Suche nach ihm nicht gerade erleichtern.

In einer weiteren Seitentasche mit Reißverschluss fanden sie das dicke, längliche Kuvert, von dem Ingo gesprochen hatte. Während Polizei, Spurensicherung und Notarzt ihre Arbeit im Kaufhaus verrichteten, riss Sneijder den Umschlag auf. Wie von Ingo richtig vermutet, befand sich Bargeld darin, knapp zehntausend Euro. Allerdings auch ein Flugticket. »Der Flug geht morgen um sieben Uhr früh vom Airport München weg«, murmelte er. »Lufthansa nach Mallorca, LH 1796.«

»Schon eingecheckt?«, fragte Sabine.

Sneijder nickte. »Hier ist die Bordkarte. Business Class, dritte Reihe, Sitz A.« Er wedelte mit der Bordkarte herum und dachte nach. »Und zwar unter ihrem echten Namen, Anna Bischoff. Entweder ist das eine falsche Fährte, oder sie dachte naiverweise, sie könnte trotz der Fahndung einfach so das Land verlassen.«

Sabine faltete zwei weitere Papiere auseinander, die auch noch im Kuvert gewesen waren. »Ein Transfervoucher für eine Abholung vom Flughafen Palma de Mallorca und ein weiterer Voucher für ein Einzelapartment im Aurelia Bay Club Resort .« Sie zog ihr Handy aus der Tasche und gab den Namen des Hotels ein. »Wow«, entfuhr es ihr Sekunden später. »Sieht nach einem neuen, ganz modernen Fünfsternehotel für Superreiche aus – wusste gar nicht, dass die auf Mallorca so etwas haben.«

»Warum zieht es eine RAF-Terroristin ausgerechnet dorthin?«, sinnierte Sneijder. Gedankenverloren steckte er sich einen Joint an.

Automatisch sah Sabine zur Decke, konnte aber in der Nähe keinen Rauchmelder entdecken. Außerdem wehte sowieso ausreichend kühle Abendluft durch das zerschmetterte Schaufenster ins Innere des Kaufhauses.

»Reist Paul Conrad ebenfalls dorthin?«, murmelte Sneijder nachdenklich, während eine Rauchwolke sein Gesicht umnebelte.

Einer der Beamten der Spurensicherung reckte den Hals zu ihnen. »Können Sie bitte die Zigarette …?«

» Nee!« , entfuhr es Sneijder, ohne dass er den Blick abwendete, woraufhin er wieder in tiefe Konzentration versank.

»Das ist medizinisch«, fügte Sabine diplomatisch hinzu.

»Findet dort ein Kontakt mit Ruth-Allegra Franckes Sympathisanten statt? Ist es ein Anschlagsziel?«, spekulierte Sneijder weiter. »Oder ist es einfach nur Annas Fluchtroute aus Deutschland?«

Sabine nahm Sneijder das Ticket aus der Hand und wählte Marcs Nummer. »Wir haben Anna gefunden, sie ist tot«, erklärte sie kurz und redete gleich weiter. »Sie hatte ein Flugticket auf ihren Namen dabei.« Dann nannte sie ihm den sechsstelligen Reservierungscode auf dem Ticket und wartete. Sie hörte Marc auf seinem Notebook tippen. Nach knapp einer halben Minute meldete er sich wieder.

»Aha, Mallorca«, murmelte er. »Ich sehe hier nicht viel, nur dass es ein Charterflug der Lufthansa ist.«

»Siehst du den Namen des Reiseveranstalters?«

»Nein.«

»Verdammt«, entfuhr es Sabine, denn auf dem Voucher stand er auch nicht. »Danke.« Sie legte auf. Ein Linienflug wäre besser gewesen, dann hätten sie direkt bei der Lufthansa die Namen aller Passagiere abrufen können. Aber bei einem Charterflug gingen die Buchungen über diverse Reiseveranstalter, die der Fluglinie im Normalfall immer erst in letzter Minute ihre Passagierliste durchgaben. »Es ist ein Charterflug«, sagte Sabine zu Sneijder.

Der nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Wie clever. Vermutlich auch noch ein Last-minute-Angebot.« Er stieß eine Rauchwolke aus.

Sabine winkte die Augsburger Kollegin zu sich, die sofort zu ihnen kam. »Sie und Ihr Team müssen mit allen Reiseveranstaltern und Reisebüros in Augsburg und Umgebung reden.«

»Das können wir frühestens morgen …«

»Nein, noch heute, am Sonntag«, beharrte Sabine. »Es ist wichtig. Finden Sie die Besitzer der Reisebüros und gehen Sie mit ihnen sämtliche Buchungen durch, die über einen Reiseveranstalter gelaufen sind. Wir müssen herausfinden, ob es für morgen sieben Uhr früh ein weiteres Flugticket nach Mallorca gibt, das von derselben Person gebucht wurde, die dieses Ticket gebucht hat.«

Die Kollegin starrte auf die Bordkarte. »Und wenn wir direkt bei der Lufthansa …?«

»Das bringt nichts, weil es ein Charterflug ist«, widersprach Sabine. »Wir wissen nicht, wie viele Veranstalter welche Kontingente gebucht haben. Außerdem haben wir keine Ahnung, unter welchem Namen die gesuchte Person reist.«

»Aber wenn diese Person gar nicht über ein Reisebüro, sondern selbst online gebucht hat?«, gab die Kollegin erneut zu bedenken.

»Dieses Ticket …«, mischte sich nun Sneijder in das Gespräch, »… wurde ganz sicher nicht über Kreditkarte gebucht. Hätte zu viele digitale Spuren hinterlassen.«

»Bestimmt wurde es in einem Reisebüro bar bezahlt.« Sabine wischte durch die Fotogalerie von Annas Handy und fand ein zwei Monate altes Selfie von Anna und Paul Conrad, wie sie sich umarmten und mit gespielt bösem Blick in die Kamera blickten. Sabine zeigte Sneijder das Bild. »Jetzt haben wir ein brandaktuelles Foto von Conrad.«

Er nickte. »Schicken Sie es sofort an alle Flughäfen.«

»Okay, also gut.« Die Augsburger Kollegin wollte ebenfalls zu ihrem Telefon greifen, um die Sache mit den Reisebüros anzuleiern, als sie einen Anruf bekam. »Entschuldigung, das Kommissariat«, erklärte sie knapp nach einem Blick auf das Display und nahm das Gespräch entgegen.

Sabine hörte nicht, worum es ging, merkte jedoch, wie das Gesicht der Ermittlerin immer düsterer wurde, bis sie schließlich nur noch geradeaus durch die Scheibe auf die abgesperrte, dunkle und leer gefegte Fußgängerzone starrte.

»Danke«, sagte sie schließlich mit rauer Stimme und legte ohne weiteren Kommentar auf. »Der Kollege von der Streifenpolizei ist soeben im Krankenhaus gestorben.«

Nun war er also wirklich tot. »Tut mir leid«, sagte Sabine mit trockener Kehle. Nach der Autobombe in Berlin war dieser Polizist nun das zweite Opfer der neuen RAF-Generation.

Sie mussten Conrad finden, bevor er das Land verließ und mit all seinem Wissen für immer untertauchte.