Um 22.05 Uhr sperrte Lea Vickys Haus und Garage zu und verließ das Grundstück mit ihrem eigenen Wagen. Sie fuhr langsam, hielt sich an die Geschwindigkeitsbeschränkung, blieb bei Gelb an der Ampel stehen und verhielt sich auch sonst ziemlich unauffällig.
Es waren ja nur knapp zehn Minuten ans andere Ortsende bis zu ihrer Villa. Eigentlich hätte sie sich keine Sorgen machen müssen – fünfundzwanzig Jahre lang war sie im Ort in keine einzige Verkehrskontrolle geraten. Aber sie wollte nichts riskieren, ausgerechnet heute könnte sie die überhaupt nicht brauchen.
Zum Glück ging alles gut. Sie erreichte ihr Haus, fuhr mit dem Wagen im Rückwärtsgang auf ihr Grundstück und hielt vor dem Aushub, der für das Fundament des Wintergartens gedacht war. Nachdem sie ausgestiegen war, versicherte sie sich, dass Gernot nicht überraschend zurückgekehrt war, weil er etwas vergessen hatte.
Dann zog sie sich im Haus Gummistiefel und ihren blauen Overall für die Gartenarbeit an, schaltete den Bewegungsmelder für die Gartenbeleuchtung aus und sprang mit Spaten, Hacke und Schaufel in die Grube. Im Mondlicht, an das sich ihre Augen rasch gewöhnten, hob sie in der Mitte ein Loch aus. Zwei Meter lang und einen halben Meter breit.
In Filmen sah das immer so einfach aus, doch dieser Boden hier war steinig und hart. Mehrmals musste sie mit der Kreuzhacke nachhelfen, sodass Funken von den Steinen wegflogen. Trotz der kühlen Nachtluft lief ihr der Schweiß über den Rücken, und obwohl sie Handschuhe trug, bekam sie bereits nach kurzer Zeit Blasen an den Händen. Gruben ausheben war noch mal eine ganz andere Herausforderung als Joggen oder Kampfsport- und Selbstverteidigungstraining. Außerdem begann ihre lädierte Schulter zu schmerzen.
»Was für eine bescheuerte Idee«, keuchte sie immer wieder, während sie das Loch tiefer buddelte.
Obwohl ihr längliches Grundstück das letzte auf der Anhöhe war, fuhr hin und wieder ein Wagen auf der Straße vorbei, und jedes Mal hielt Lea inne, stützte sich auf den Spaten und wartete, ob er stehen bleiben würde. Aber zum Glück drehten die Autos entweder auf der Anhöhe um oder fuhren weiter den Hügel hinauf, um auf der anderen Seite zum Ort hinunterzugelangen.
Nachdem sie eineinhalb Stunden lang wie besessen geschuftet hatte und ihr langsam die Kraft ausging, sackte sie erschöpft am Rand zusammen. Eigentlich hätte sie ein noch viel tieferes Loch ausheben wollen, aber dazu fehlte ihr die Energie. Sie hatte die Arbeit maßlos unterschätzt. Der halbe Meter, den sie bis jetzt geschafft hatte, musste reichen.
Sie ging zu ihrem Auto und öffnete den Kofferraum. Als sie sich in der Kühle der Nacht über Vickys Körper beugte, spürte sie, dass er immer noch ein wenig warm war. Sie ließ Vicky ihren Holzschmuck, die Freundschaftsbänder, die Armbanduhr und die Ringe. Es wäre ihr schäbig vorgekommen, die Tote auch noch zu beklauen, nur weil sie in deren Rolle schlüpfen wollte.
Durchsuch sicherheitshalber die Taschen , meldete sich Camilla nach einer langen Schweigepause wieder zu Wort.
Wortlos tastete Lea Vickys knappe Jeans ab und fand deren altes Tastenhandy in der Gesäßtasche. Es war nicht gesperrt, und sie nahm es an sich.
Zum Glück hast du das gefunden. Stell dir vor, es beginnt zu läuten, wenn die Bauarbeiter am Freitag anrücken.
Völlig mechanisch, wie auf Autopilot, wickelte Lea Vickys Körper in die Plastikfolie ein und hob sie aus dem Kofferraum. Das alte Mädchen war ganz schön schwer, aber es waren ja nur ein paar Schritte bis zum Aushub.
Bei dem Gedanken, wie Vickys Körper unter dem Betonfundament langsam verrotten würde, kamen Lea wieder die Tränen. Es war alles so demütigend und traurig, was mit ihrer Cousine geschah. Würde sie diesen Wintergarten jemals genießen können? Verdient hätte sie es jedenfalls nicht.
Behutsam legte Lea den Körper in die Grube. Erdkrumen rieselten über Vickys nackte Füße. Der Nagellack glänzte im Mondlicht.
Lea ging noch einmal zurück, holte ein Guns-N’-Roses-T-Shirt und eine Schallplatte von Thin Lizzy aus dem Kofferraum. Sie hatte beides aus Vickys Haus mitgenommen und platzierte es nun auf der Leiche.
»Damit du auch dort, wo du jetzt bist, deine Musik hören kannst«, flüsterte sie. »Und ein T-Shirt zum Umziehen, falls du einen netten Kerl kennenlernst, der auf dich steht.«
Lea war zwar nicht besonders religiös – ebenso wenig wie Vicky es gewesen war –, aber dennoch wollte sie noch ein paar letzte Worte sagen.
»Dein Leben war nur kurz, Vicky, aber dafür umso intensiver. Zum Glück warst du ein Mensch, der jede Minute davon genossen und ausgekostet hat … Es tut mir so leid, was passiert ist … Ich hoffe, du verstehst, warum ich das tue und verzeihst mir … und findest deinen Frieden.«
Amen , sagte Camilla. Und jetzt schaufel das Grab zu!