27. Kapitel

Nachdem Lea das Grab zugeschaufelt hatte, leuchtete sie die Stelle mit der Taschenlampe ab, um zu überprüfen, ob sie nicht irrtümlich etwas vergessen oder verloren hatte. Dann verteilte sie den Rest ihres Aushubs gleichmäßig auf dem Boden.

Sie kletterte aus der Grube, schaltete den Bewegungsmelder wieder ein und verstellte eine der Sicherheitskameras im Garten so, dass sie den Aushub im Blickfeld hatte. Wenn sie sich nun von unterwegs in das Sicherheitssystem der Firma SEC-CURE einloggte, konnte sie überprüfen, ob das Grab immer noch unentdeckt und unangetastet war.

Anschließend parkte sie ihren Wagen vor dem Haus, wo er normalerweise immer stand, verstaute Gummistiefel und Werkzeug im Schuppen, warf den Overall im Keller des Hauses in den Wäschekorb und ging ins Badezimmer.

Mit einer scharfen Schere schnitt sie ihre langen Haare an den Seiten etwas kürzer, so wie Vicky sie trug, franste sie an den Enden aus und stieg danach in die Dusche. Mit dem heißen Wasser, das über ihren Körper lief und Schweiß und Erde wegschwemmte, versuchte sie auch gleichzeitig ihre Schuldgefühle und ihr schlechtes Gewissen wegzuspülen und mitsamt ihren Tränen in den Abfluss laufen zu lassen … Das Wasser lief sehr lange, bis sie sich imstande fühlte, die Dusche zu verlassen.

»Und jetzt konzentrierst du dich auf deine Reise«, schärfte sie sich schließlich ein, während sie den Wasserhahn abdrehte und nach dem Handtuch griff.

So gefällst du mir schon besser , kommentierte Camilla.

Lea rubbelte sich die Haare trocken und flocht sich wie ihre Cousine einen Zopf. Nachdem sich der Dunst im Bad verzogen hatte und sie sich wieder im Spiegel sehen konnte, war sie zufrieden. Schirmkappe und Brille fehlten noch, dann war alles perfekt, denn trotz des Altersunterschieds sahen sie und Vicky sich sehr ähnlich.

Wunderschön siehst du aus!

Lea blickte auf die Uhr. Es war nach ein Uhr früh. Sie schlüpfte in frische Kleidung, goss alle Pflanzen, damit sie ein paar Tage lang ohne Wasser auskommen konnten, schloss alle Fenster und schaltete alle Lichter und Geräte aus.

In einer Bauchtasche nahm sie zweitausend Euro Bargeld, ihren Ausweis, Hausschlüssel und ihr Handy mit. Kreditkarte und EC-Karte ließ sie absichtlich zu Hause, um nicht in Versuchung zu kommen, irgendwo damit zu bezahlen oder Geld abzuheben und damit eine digitale Spur im Ausland zu hinterlassen.

Danach lief sie zur Busstation und erreichte gerade noch den letzten Nachtbus, der quer durch die Stadt fuhr. Während sie zurück zu Vickys Haus gondelte, sagte sie von ihrem Handy aus per WhatsApp alle beruflichen und privaten Termine für die nächste Woche ab. Außerdem sprach sie ihrem Assistenten – der in ihrer Firma die Termine koordinierte, Angebote schrieb und die Buchhaltung machte – eine Nachricht aufs Handy, dass auch er alle ihre Termine wegen einer Sommergrippe, die sie plötzlich erwischt hatte, absagen musste.

Kaum war sie fertig, hielt der Bus auch schon in der Nähe von Vickys Haus. Lea war der einzige Fahrgast. Sie stieg aus und ging die restlichen Meter zu Fuß.

Um zwei Uhr früh stand sie schließlich wieder vor dem Haus ihrer Cousine. Sie war so aufgedreht, dass sie gar keine Müdigkeit verspürte – zum Glück, denn etwas Arbeit lag noch vor ihr.

Sie überprüfte, was Vicky bisher in ihren Koffer gepackt hatte, durchwühlte Vickys Kleiderschrank und Schubladen und ergänzte die Dinge, die sie ihrer Meinung nach auf Mallorca brauchen würde. Zuletzt packte sie auch noch eine kleine Reisetasche, die sie als Handgepäck in den Flieger mitnehmen würde, und in der sie Vickys Flugticket, Voucher, Reisepass, Bargeld und Handy verstaute.

Zu guter Letzt stopfte sie auch noch ihre eigene Kleidung, die sie gerade trug, mitsamt ihren Schuhen in Vickys Koffer und zog sich stattdessen Vickys Kleidung an.

»Hab ich an alles gedacht?«, fragte sie sich, nachdem sie zum wiederholten Male in dieser Nacht durchschnaufte und sich den Schweiß von der Stirn wischte.

Vickys Brille und Brillenetui.

»Oh, ja, danke.« Sie schlug sich auf die Stirn. Auch das packte sie in die Reisetasche.

Vickys Schmuck!

»Stimmt.« Sie durchwühlte eine Schatulle auf der Kommode im Wohnzimmer und entschied sich für eine Holzkette, mehrere Freundschaftsbänder aus Leder und ein paar Ringe mit Drachen- und Schlangenmotiven.

Mittlerweile war sie trotz aller Aufgekratztheit doch schon ziemlich müde. Dabei blieb ihr nur noch wenig Zeit, um auszuruhen – bereits um halb vier Uhr früh würde sie mit Vickys VW-Käfer nach München fahren. Ihr Flieger ging um sieben Uhr und so lange musste sie noch durchhalten. Danach konnte sie im Flugzeug pennen.

Nachdem sie als Vicky Fuchs offiziell nach Mallorca geflogen war, wollte sie von dort so schnell wie möglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln anonym wieder zurück nach Kufstein reisen.

»… und jeder wird glauben, dass Vicky auf Mallorca spurlos verschwunden ist«, murmelte sie, während sie den Koffer schloss.

Aber nur wenn du am Münchner Flughafen nicht vergisst, deine Fingerabdrücke von Vickys Lenkrad zu wischen.

»Danke.«