29. Kapitel

Noch bevor Lea um halb vier Uhr früh aufgebrochen war, hatte sie die SIM-Karte aus ihrem eigenen Handy herausgenommen, damit man sie nicht orten konnte und sich vor allem nachträglich nicht beweisen lassen würde, dass sie jemals das Land verlassen hatte. Dann war sie mit dem VW-Käfer losgefahren und hatte auch schon bald bei Kiefersfelden die Grenze überquert.

Zum Glück gab es keinen Stau auf dem Weg zum Münchner Flughafen, den sie eineinhalb Stunden später erreichte. Sie löste das Parkticket am Airportparkhaus ein, das Vicky schon Tage zuvor online gekauft hatte, und stellte den Wagen ab. Ihre Fingerabdrücke musste sie gar nicht mühsam entfernen, da sie sicherheitshalber während der Fahrt Handschuhe getragen hatte. Nachdem sie diese in einen Mülleimer geworfen hatte, ging sie den langen Weg zum richtigen Terminal.

Mit pochendem Herzen presste sie Vickys Reisepass auf das Display des Check-in-Automaten und druckte einen Gepäckanhänger für den Koffer aus. Da sie ständig beruflich irgendwohin flog, waren diese Vorgänge für sie normalerweise reine Routine, doch jetzt in Vickys Rolle war ihr Puls ständig auf vollem Anschlag.

Beruhige dich wieder , sagte Camilla. Was soll schon schiefgehen?

»Was soll schon schiefgehen?«, zischte Lea. »Dass man mich bei der Kontrolle rausfischt und draufkommt, dass ich gar nicht Vicky bin? Oder dass Vicky gar nicht allein, sondern in Begleitung reist und alles auffliegt? Da fallen mir Dutzende Dinge ein, die schiefgehen könnten.«

Bleib cool!

»Ich fühle mich gerade so cool wie ein Atomkraftwerk kurz vor der Kernschmelze.« Lea wuchtete den Koffer aufs Gepäckband, scannte den Code ein und sah zu, wie der Koffer auf dem Förderband davonfuhr und hinter einem schwarzen Vorhang verschwand.

Okay, jetzt nur noch durch die Security , sagte Camilla. Links den Gang hinunter.

»Ja doch, und halt endlich die Klappe, ich muss mich konzentrieren«, murmelte Lea.

Setz die Brille auf!

Lea kramte die Brille aus dem Etui, setzte sie auf, ging mit der Bordkarte durch die Glasbegrenzung, die automatisch nach beiden Seiten aufschwang, und stellte sich in die Warteschlange. Endlich kam sie dran und legte die Reisetasche und ihre Bauchtasche in die Plastikboxen.

»Haben Sie Flüssigkeiten oder einen Laptop dabei?«

»Nein«, krächzte Lea.

Dann wurde sie von einer Sicherheitsbeamtin durch den Metalldetektor gewunken. Er schlug an, sie musste noch einmal durchgehen, und er schlug erneut an. Also wurde sie zur Seite gebeten, von einer anderen Beamtin abgetastet und mit einem Handscanner überprüft.

»Haben Sie Metallgegenstände bei sich?«

»Nein.« Plötzlich rieselte es Lea siedend heiß über den Körper und Schweiß brach ihr aus allen Poren. »Ich habe Schrauben im Schultergelenk.«

Da piepte der Handscanner auch schon in Höhe der linken Schulter. Normalerweise schlugen die Scanner nicht an, doch der Münchner Airport hatte die Geräte anscheinend feiner eingestellt.

»Implantatpass?«, fragte die Dame.

Ja, Scheiße, den haben wir zu Hause vergessen.

Aber selbst wenn sie oder Camilla daran gedacht hätten, hätte sie ihn sowieso nicht vorzeigen können, weil er nicht auf Vicky, sondern auf ihren Namen ausgestellt war.

»Den habe ich blöderweise im Seitenfach meines Koffers«, log Lea lächelnd. »Normalerweise schlagen die Scanner nicht an.« Sie zog sich das schwarze Sex Pistols T-Shirt über die Schulter und zeigte der Dame die lange Narbe.

»Okay, gehen Sie weiter, aber das nächste Mal denken Sie daran.«

»Ja, mach ich. Vielen Dank.« Sie ging zum Förderband, schnallte sich die Bauchtasche um die Taille, schulterte die Reisetasche und ging zur nächstgelegenen Infotafel.

Glück gehabt!

»Und warum hast du nicht daran gedacht?«, zischte Lea.

Bin halt auch nicht vollkommen.

Lea nahm die Brille ab und suchte auf dem großen Display ihren Lufthansa-Flug. Das Gate fürs Boarding wurde bereits angezeigt. Zehn Minuten zu Fuß, also hatte sie noch Zeit. Sie suchte sich ein Café mit Stehtischen direkt an einer großen Glasfront. Von dort aus konnte man auf die Gates blicken, an denen der Reihe nach die Flugzeuge angedockt standen, während sich dahinter am Horizont ein zarter oranger Lichtstreifen bildete.

Irgendwo aus der Richtung ihres Gates bellte ein Hund. Lea sah kurz hin, erkannte aber nichts Auffälliges. Dann trank sie einen Cappuccino mit Mandelmilch, kaute an einem Croissant und hoffte, dass Gernot innerhalb der nächsten Tage derart mit seiner Mutter beschäftigt war, dass er vergaß, sie anzurufen. Schließlich würde sie ihr Handy erst wieder einschalten, wenn sie zurück in Österreich war – und das musste spätestens am Freitagvormittag um zehn Uhr sein.

Hoffentlich besucht dich niemand zu Hause , sagte Camilla.

»Warum sollte das jemand tun?«

Um sich nach deiner angeblichen Sommergrippe zu erkundigen?