Sogleich war von der Flughafenpolizei Verstärkung zum Gate gekommen, und zu viert führten sie Paul Conrad ab. Um möglichst wenig Aufsehen zu erregen, brachten sie ihn direkt über einen Personalausgang in den Mitarbeiterbereich des Gates und dann zum Verhörraum der Zollbehörde.
Dort saß Conrad nun mit auf den Rücken gefesselten Händen auf einem Stuhl, ohne Gürtel, Schuhbänder, Sakko, Telefon und Uhr, was man ihm alles abgenommen hatte, und starrte in das Licht der Lampe vor ihm auf dem Tisch. Bei der Tür stand ein bewaffneter Wachposten.
Während Conrad in diesem nur sechs Quadratmeter großen fensterlosen Raum mit ausgeschalteter Klimaanlage ohne Getränk im eigenen Saft schmorte, fand Sneijder in Conrads Sakko eine Bordkarte für den Sieben-Uhr-Flug der Lufthansa nach Mallorca – ebenfalls Business Class. Nach zwei Telefonaten wusste Sneijder, dass dieses Ticket schon vor zwei Wochen in einem Wiesbadener Reisebüro bar bezahlt worden war. Allerdings hatte Conrad weder einen Transfer- noch einen Hotelvoucher dabei. Sie konnten also nur vermuten, dass er genauso wie Anna im Aurelia Bay Club Resort abgestiegen wäre.
Außerdem reiste er nicht, wie seine Tochter es geplant hatte, unter seinem eigenen Namen, sondern mit gefälschtem Pass unter der Identität eines gewissen Dr. Ron D. Pacula, der in Tel Aviv geboren und laut Geburtsdatum zwei Jahre jünger als Paul Conrad war. Der exzellent gemachte Reisepass hätte jeder oberflächlichen Überprüfung standgehalten und zeigte Conrad mit genau dieser grau melierten Perücke, die er auf der Toilette getragen hatte. Auch das die Handschrift eines Profis.
Die IT-Techniker der Zollbehörde versuchten seit mittlerweile zehn Minuten, das Handy zu entsperren, das Conrad bei der Verhaftung bei sich getragen hatte. Indessen suchte das Flughafenpersonal Conrads Reisekoffer heraus, den er vor dem Securitycheck aufgegeben hatte und der bereits auf halbem Weg zur Lufthansa-Maschine war.
Sneijder stand im Besprechungszimmer der Zollbehörde am Fenster, trank eine Tasse Kaffee und blickte auf die hell beleuchtete Startpiste, als er einen Anruf von der IT-Forensik des BKA Wiesbaden bekam. »Ja?«, knurrte er.
»Rufe ich zu früh an?«, fragte ein junger Mann.
»Kein Anruf ist jemals zu früh, und sparen Sie sich den Smalltalk.« Die Sonne schob sich gerade über den Horizont und ließ den Nachthimmel mit einem grellen Orangeton verschwinden.
»Okay, verstehe, gut … eine der SIM-Karten jener Smartphones, die in der Nacht von Samstag auf Sonntag in Paul Conrads Haus verbrannt sind, hat überlebt. Wir konnten die Nummer herausfinden …«
»Und?«, unterbrach Sneijder den Kollegen. »Wen hat er wann zuletzt damit angerufen?«
»Laut Telefonanbieter gab es zwei kurze Gespräche nach Mitternacht. Genauer gesagt einmal um 0.47 Uhr und dann nochmal um 0.49 Uhr.«
Sneijder nickte in Gedanken versunken. Das war kurz vor Conrads Flucht gewesen, als er den Brand in seinem Haus gelegt hatte. »Und wen hat er angerufen?«
»Zuerst einen gewissen Dr. Albrecht, ein Rechtsanwalt in Frankfurt, der Paul Conrad offenbar juristisch vertritt, wie wir mittlerweile …«
»Und die zweite Nummer?«
»Eine Anna Bischoff in Augsburg.«
»Okay, die zweite Spur können Sie gleich wieder vergessen, hat sich mittlerweile erledigt, aber informieren Sie Friedrich Drohmeier über das erste Telefonat.«
»Drohmeier?«, wiederholte der Techniker. »Unseren Präsidenten?«
»Er wird sich um alles Weitere kümmern.« Sneijder legte auf, da zwei uniformierte Kollegen von der Zollbehörde ins Zimmer kamen und einen schwarzen Hartschalenkoffer hereinrollten. Eindeutig das Teil, das Sneijder durch Marcs Videokamera in Conrads Haus gesehen hatte. »Ist das Ding sauber?«
Die beiden Beamten nickten. »Keine Spuren eines explosiven Materials auf den Teststreifen, die Durchleuchtung des Gepäcks hat nichts ergeben, und die Hunde haben auch nichts gefunden.«
Offenbar hatte Conrad damit also kein Attentat vorgehabt.
»Auf den Besprechungstisch damit«, sagte Sneijder und betrachtete den Koffer. Bei den beiden Schlössern handelte es sich um jeweils vierstellige Zahlenschlösser. Die Zahlenräder waren verstellt, und Sneijder hatte keine Lust, lange Knobelspielchen auszuprobieren. Kurzerhand nahm er einen Brieföffner aus einer Box mit Stiften und Linealen und brach beide Schlösser damit auf. Dann klappte er den Koffer so schwungvoll auf, dass der Deckel auf den Tisch knallte.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass die beiden Beamten für einen Moment den Atem angehalten hatten, aber weder ein greller Blitz noch eine Explosion folgten. Ihre verkrampften Körper entspannten sich wieder.
»Lassen Sie mich allein«, befahl Sneijder.
Nachdem die beiden das Besprechungszimmer verlassen hatten, schüttelte Sneijder erst einmal einen Joint aus seiner Zigarettenschachtel, feuchtete ihn mit der Zunge an, roch daran und schob sich die Tüte schließlich hinters Ohr.
Dann wandte er sich dem Koffer zu. Zusätzlich zu jeder Menge Kosmetikartikel, sommerlicher Kleidung, mehreren schicken grauen Anzügen – anscheinend hatten Conrad und er die gleiche Kleidergröße –, fand er auch einen Beutel mit Medikamenten, unter denen sich unter anderem Blutverdünner befanden und ein starkes Präparat, das die Herzfrequenz regelte. Laut beigelegtem Implantatpass hatte Conrad seit zwanzig Jahren einen Herzschrittmacher.
In einem Seitenfach des Koffers entdeckte Sneijder schließlich jede Menge wertvollen Schmuck, der bestimmt von dem Überfall in Augsburg stammte, sowie drei weitere Reisepässe, die auf verschiedene Identitäten lauteten und alternative Fotovarianten von Conrad zeigten. Damit hätte er gewiss unbemerkt von Mallorca aus weiterfliegen können, und sie hätten seine Spur für immer verloren.
Am interessantesten fand Sneijder jedoch einen Packen Seminarunterlagen und Hochglanzflyer auf Deutsch, Englisch und Französisch, die einen Lebensweisheiten-Workshop von Ron D. Pacula bewarben. Wat in godsnaam? Sneijder war überrascht, wie detailliert Conrad sein Alias ausgearbeitet hatte, denn der Mentalcoach Ron D. Pacula verfügte laut Flyer sogar über eine eigene Website. Anscheinend war Pacula ein deutsch-israelischer Mentalcoach für »Positives Denken für Gewinner«.
Wie passte das zu einem RAF-Terroristen?
Sneijder schnappte sich den vorbereiteten Joint, rollte ihn erneut zwischen den Fingern hin und her und roch am Marihuana, während er nachdenklich die Flyer betrachtete. Warum hatte sich Conrad mit dieser Fake-Identität so große Mühe gegeben? Und plötzlich sah er es.
Anders als bei den anderen drei Fake-Identitäten bildeten die Buchstaben von Ron D. Pacula ein Anagramm von Paul Conrad . Demnach musste Pacula eine ganz besonders wichtige Rolle in Conrads Leben spielen. Aber welche, vervloekt ?
Die Tür zum Zimmer wurde geöffnet, und einer der beiden uniformierten Beamten von vorhin trat ein. Er stellte ein kleines, ovales Tablett auf den Tisch, auf dem ein blaues Smartphone lag. »Die Techniker haben Conrads Handy geknackt. Prepaid, dreihundert Euro Wertguthaben.«
»Wurde der Inhalt schon ausgelesen?«
Der Beamte nickte. »Aber es sind keine interessanten, verdächtigen oder belastenden Informationen darauf zu finden.«
»Anrufliste?«
»Nein.«
»Kontaktdaten?«
»Keine.«
»Fotos?«
»Nur von Conrads Tochter.«
Verdomme! Sneijder griff in die Hosentasche und zündete sich den Joint mit einem silbernen Zippo-Feuerzeug mit Totenkopf darauf an, das früher einmal Krzysztof gehört hatte.
»Äh … Sie sollten …«
»Lassen Sie mich allein«, unterbrach er den Mann und inhalierte kräftig.
Der Mann starrte verblüfft zur Decke. »Oh, Sie haben den Feuermelder abmon…«
»Raus!«, bellte Sneijder.
Nachdem er wieder allein im Zimmer war, klemmte er sich den Joint in den Mundwinkel und öffnete auf seinem eigenen Smartphone Paculas Mentalcoach-Website. Die gab es wirklich, und zwar in einer deutschen, französischen und englischen Version. Der Lebenslauf wies Ron D. Pacula unter anderem als ausgebildeten Psychologen aus, der Paul Conrad ja auch wirklich war. Allerdings befand sich auf der gesamten Internetpräsenz kein einziges Foto von ihm.
Clever , dachte Sneijder. Ein Gesichtserkennungsprogramm wäre ansonsten, wenn es das gesamte Internet durchsucht hätte, möglicherweise auf einen positiven Match zwischen Ron D. Pacula und Paul Conrad gestoßen – so aber gab es keine sichtbare Verbindung zwischen den beiden Personen.
Sneijder öffnete die Kontaktseite der Homepage, fand aber keine Adresse, sondern nur eine Telefonnummer, die er sogleich anrief. Es läutete zweimal und im nächsten Moment begann das blaue Handy auf dem Tablett zu vibrieren.
Sneijder legte auf. Nun wusste er alles, was er im Moment wissen musste, und war bereit. Er steckte sowohl sein Telefon als auch Conrads Prepaidhandy ein, drückte den Joint auf dem Tablett aus und verließ das Zimmer.
Jetzt würde er sich mal gründlich mit Conrad unterhalten.