Das Boarding hatte wunderbar geklappt, und Lea hatte um genau sieben Uhr in der achten Reihe auf ihrem Sitz am Fenster gesessen, die wuchtige, kegelförmige Spitze des Münchner Towers im Blickfeld.
Doch dann war erst einmal nichts passiert. Mittlerweile war es schon neun Uhr, sie standen immer noch am Gate, und es tat sich nichts. Zuerst hatte sie der Pilot vertröstet, dass sie noch keinen genehmigten Startslot hatten, wenig später kam dann die Durchsage, dass es in der Region am Zielflughafen eine Unwetterwarnung gab, woraufhin sofort die Hälfte der Passagiere ihre Handys herausholte und zu googeln begann, was lautstarke Aufregung nach sich zog.
Lea wusste auch so, dass diese Begründung nicht stimmte, da sie bis jetzt die Worte » Boarding completed« noch nicht über die Lautsprecher gehört hatte. Demnach fehlte also noch mindestens ein Passagier, und vermutlich war das der wahre Grund für ihre Verspätung. Immerhin waren in der Business Class noch einige Sitzplätze frei.
Später hatte sich der Captain dann erneut aus dem Cockpit gemeldet, um ihnen zu sagen, dass es auf der zugewiesenen Flugstrecke eine Verkehrsüberlastung gab und sie noch auf die Freigabe des Towers warteten.
Was lassen die sich noch alles einfallen, um uns ruhigzustellen?, fragte Camilla.
Lea wusste, dass auch diese Verkehrsüberlastung sicher nicht der wahre Grund für die Verspätung sein konnte, aber irgendetwas musste der Captain ja behaupten, denn solange die Passagiere einen Grund für die Warterei zu kennen glaubten, gaben sie Ruhe. Die meisten zumindest. Da dies zudem ein Charterflug mit Urlaubsreisenden war, die keinen Anschlussflug zu verpassen drohten, hielt sich der Unmut ohnehin in Grenzen. Jeder freute sich einfach auf Palmen, Strand und Meer.
Lea kramte unterdessen Vickys Tastenhandy aus der Reisetasche, die sie unter ihrem Sitz verstaut hatte, und durchsuchte es. Aber da gab es nicht viel zu entdecken. Auch wenn man mit diesem alten Kasten sogar Fotos machen konnte, gab es keine Bilder sowie nur wenige und schon gar keine interessanten SMS im Speicher. Und nur zwei Dutzend Kontakte. Unter anderem fand sie ihre eigene Nummer, die Vicky unter »Lea-Maus« abgespeichert hatte – sofort stiegen ihr Tränen in die Augen, die sie aber gleich wieder wegwischte. Ansonsten waren noch ein paar gemeinsame Freunde und Leute unter den Kontakten, die auch Lea kannte, der Großteil der Namen aber sagte ihr nichts.
Bestimmt ist unter denen auch Vickys Liebhaber.
»Möglich … vielleicht wollten sie sich sogar auf Mallorca treffen«, flüsterte sie.
Mag sein. Darum sollten wir sofort nach unserer Ankunft von der Insel abhauen.
Das hatte Lea ohnehin vor. Allerdings war dieser ältere Kerl ja verheiratet und hatte eine Tochter, wie Vicky ihr erzählt hatte, weshalb er sicherlich nicht so lange unbemerkt von zu Hause wegbleiben konnte. Vielleicht würde er ja gar nicht auf der Insel auftauchen. Jedenfalls durfte sie nicht an Vickys Handy gehen, falls jemand anrief, sondern höchstens im Notfall eine SMS beantworten.
Lea hob den Blick und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war zehn Minuten nach neun. Mittlerweile stand die Sonne schon hoch über dem Horizont, brannte auf das Flugzeug herunter, und schön langsam wurde es heiß in der Kabine. Die Klimaanlage wurde eingeschaltet, und die Flugbegleiterinnen teilten Plastikbecher mit Wasser aus.
Weitere zehn Minuten später, nach mittlerweile deutlich über zweieinhalb Stunden Wartezeit, knackte es erneut in den Lautsprechern. Diesmal meldete sich der Co-Pilot. » Liebe Gäste, ich habe gute Nachrichten für uns. Soeben haben wir vom Tower erfahren, dass zwei weitere Passagiere an Bord kommen. Danach erhalten wir sofort die Startfreigabe. Ich bitte Sie noch um etwas Geduld.«
Er wiederholte die Ansage auf Englisch, doch die ging bereits im tosenden Applaus der Mitreisenden unter.
Kurz darauf kamen die besagten zwei Passagiere an Bord. Ein hagerer, hochgewachsener Mann Mitte fünfzig mit Glatze und langen, dünnen Koteletten, die am Ohr begannen und bis zum Kinn reichten. Der Kerl sah ziemlich übel gelaunt aus. Er trug ein weißes Hemd und einen schwarzen, etwas fleckigen und zerknitterten Anzug, den Lea aber trotzdem als maßgeschneiderten Designeranzug erkannte. Aber Designerklamotten oder nicht – mit dem Typ war offensichtlich nicht gut Kirschen essen.
Ihm folgte eine kleine, drahtige Frau Mitte dreißig in Jeans und schwarzem Rippshirt, mit intensiven braunen Augen und braunem Pferdeschwanz, die auch nicht gerade sehr amüsiert dreinsah. Anscheinend kannten sich die beiden, da sie sich kurz zunickten, bevor sie rechts und links in der Business Class Platz nahmen.
Der zynische Applaus der anderen Passagiere setzte erneut ein und wurde von ein paar Rufen begleitet, die mit einem freundlichen »Das nächste Mal musst du früher aufstehen, Kollege« begannen und einem sarkastischen »Dass es dann doch so schnell geht« endeten.
Lea sagte nichts und regte sich auch nicht auf. Im Gegenteil, sie war erleichtert, denn tief in ihrem Unterbewusstsein hatte sie schon befürchtet, dass diese Verspätung irgendetwas mit Vicky oder ihr selbst zu tun haben könnte.
» Boarding completed« , drangen nun endlich die heiß ersehnten Worte aus den Lautsprechern.
Dann ging es schnell. Die Türen wurden geschlossen und verriegelt.
» Slides armed … cross-checked« , sagte eine Flugbegleiterin über Lautsprecher.
Lea legte den Gurt an. Aus ihrer Zeit als Personenschützerin kannte sie diese Begriffe von zahlreichen Flügen – oft auch in Privatjets – und wusste, dass jetzt die Vorflugkontrolle abgeschlossen und die Notrutschen aktiviert waren.
» Liebe Gäste, wir haben einen neuen Startslot erhalten und starten in fünf Minuten« , meldete sich der Captain aus dem Cockpit.
Während eine Flugbegleiterin die Sicherheitsmaßnahmen demonstrierte, ging ein Ruck durch den Flieger. Der Pushback schob die Maschine endlich vom Gate weg.
Lea lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Gute Nacht, schlaf gut , sagte Camilla. Ich wecke dich, wenn wir auf Mallorca sind.