Es war verrückt. Gestern Abend hatte Sabine sich noch über Anna Bischoffs Flugticket gewundert – und jetzt saß sie selbst auf diesem Platz in der dritten Reihe.
Während Sneijder und sie zum Gate gelaufen waren, hatte er sie über Paul Conrads Tod informiert – in knappen, präzisen und gekeuchten Sätzen, denn Joggen war nicht gerade seine große Stärke –, und am Gate wusste Sabine bereits über seinen und Drohmeiers Plan Bescheid.
Nachdem Sneijder und sie von den anderen Passagieren mit einem gehässigen tosenden Applaus empfangen worden waren, hatte sie Anna Bischoffs Reisetasche und den kleinen Rucksack als Handgepäck zwischen den Beinen unter ihrem Sitz und dem Vordersitz verstaut. Offiziell waren Sneijder mit Paculas und sie mit Annas Reisepass an Bord gegangen. Sie sah der Toten ja tatsächlich ein bisschen ähnlich – schlank, durchtrainiert, langes braunes Haar. Zwar war Sabine eine Spur kleiner und sieben Jahre älter als Anna, aber das würde im Aurelia Bay Club Resort auf Mallorca niemandem auffallen.
Conrads schwarzer Hartschalenkoffer war ebenfalls wieder an Bord, und mittlerweile wussten sowohl Pilot als auch Co-Pilot und Irina, die Kabinenchefin, über ihren Einsatz Bescheid. Während Sneijders Glock mitsamt dem ausgeworfenen Magazin versperrt in einer Metallbox im Cockpit lag, war Sabines Dienstwaffe bei Marc in München geblieben. Sneijder war in Ron D. Paculas Rolle geschlüpft und saß ebenfalls in der dritten Reihe nur ein paar Sitze von Sabine entfernt auf der anderen Seite des Ganges.
Mittlerweile waren sie seit zehn Minuten in der Luft, und Sabine starrte immer noch mit Groll im Magen aus dem Fenster. Natürlich hätte sie sich hartnäckig weigern können, ihren Urlaub für diese Dienstreise zu unterbrechen – niemand hätte es ihr übel genommen, Drohmeier am allerwenigsten –, aber sie wusste, dass Sneijder sie nur deshalb gefragt hatte, weil er keine andere Möglichkeit sah und sie wirklich brauchte.
Während Sabine in München noch mit ihrer Entscheidung zögerte, hatte ihr Vater bereits Wind davon bekommen, dass diese Reise irgendwie mit den Attentaten in Frankfurt, Berlin und Düsseldorf zu tun hatte – Marc hatte mal wieder nicht die Klappe halten können. Da hatte ihr Vater sie in die Arme genommen und ihr ins Ohr geflüstert: Mach die Welt sicherer, aber pass gut auf dich auf, mein kleines, schlaues Eichhörnchen.
Mein Eichhörnchen – er hatte sie schon immer wegen ihrer braunen Augen und Haare so genannt. Sneijder hatte dann vor Jahren in seiner respektlosen Art einfach Eichkätzchen daraus gemacht.
Sabine war ehrlich zu sich. Wenn es diesen zweiten Anschlag in Frankfurt und den dritten in Düsseldorf nicht gegeben hätte, wäre sie vermutlich nicht in den Flieger gestiegen. Aber die Wahrscheinlichkeit war groß, dass es so weitergehen würde – und die nächste Bombe vielleicht in der Münchner Innenstadt hochging, während Connie, Kerstin oder Fiona auf dem Weg zur Schule waren, Sabines Schwester auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz im Münchner Stadtmuseum, oder ihr Vater im Foyer einer Bank Geld abheben wollte.
Irina zog den Vorhang zwischen der Business- und der Economyclass zu und servierte Sabine und den anderen Gästen in den ersten Reihen dann auch schon ein Glas Gin Tonic.
Sneijder verschmähte den Drink und bestand mit ruppigen Worten, die Sabine gleich wieder auf die Palme brachten, auf einen Tomatensaft mit Wodka und Tabasco.
»Kann ich Ihnen gern bringen«, sagte Irina immer noch freundlich, »aber leider ohne Tabasco, den haben wir nicht an Bord.«
»Warum nicht?«, fragte Sneijder, während er auf seinem Handydisplay wischte. »Haben Sie den selbst konsumiert?«
»Wurde vor ein paar Jahren wegrationalisiert.«
»Und da hat man Sie nicht gleich auch wegrationalisiert?«, fragte Sneijder.
Sabine drehte ihr Gesicht weg zur Kopfstütze, schloss die Augen und versuchte die Diskussion auszublenden, was ihr jedoch nicht gelang.
»Dann nehmen Sie das hier«, knurrte Sneijder.
»Woher haben Sie die Flasche?«
»Duty-free-Shop«, antwortete Sneijder knapp. Offenbar drückte er ihr eine Flasche in die Hand. »Mit Eis«, fügte er hinzu. »Im Glas, nicht im Becher … und zwar im großen Glas … und wenn möglich jetzt gleich, nicht erst auf Mallorca.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das geht …«, murmelte Irina ein wenig genervt.
»Was? Das Glas oder das Eis?«
Sabine drehte sich um und sah, wie ihr die Frau einen kurzen Hilfe suchenden Blick zuwarf, woraufhin sich Sabine über ihren Sitznachbar zum Gang beugte. »Bitte, tun Sie es einfach«, sagte sie eindringlich, »andernfalls machen Sie es nur noch schlimmer, und das wollen Sie nicht, glauben Sie mir – der Flug dauert immerhin noch knapp zwei Stunden.«
Sabines Nachbar, ein gestylter Manager Mitte dreißig, der versuchte, in einem Magazin zu lesen, nickte ihr dankbar zu. »Also manche Leute sind echte …«
»Kotzbrocken – Sie haben ja so recht.« Sabine drehte sich wieder weg und versuchte zu schlafen.
Zwei Minuten später bekam Sneijder seinen Drink und schien etwas entspannter zu sein – sofern man bei ihm überhaupt jemals von entspannt reden konnte. Zumindest hielt er endlich die Klappe.
Obwohl der Flieger kurz darauf in Turbulenzen geriet, heftig ruckelte und die Anschnallzeichen leuchteten, sah Sabine, wie Sneijder sich von seinem Sitz erhob, sich in den Gang stellte und mit seinem Glas in der Hand zu Sabines Nachbarn herunterbeugte. »Würden Sie mit mir den Platz tauschen?«
Sabine öffnete die Augen ganz und sah, wie der Manager genervt die Stirn runzelte. »Nein.«
»Nennen Sie mir einen guten Grund, warum Sie das nicht tun sollten«, forderte Sneijder ihn auf.
»Weil ich hier sitzen bleiben möchte und in Ruhe dieses Magazin …«
»Ich sagte einen guten Grund.«
»O Mann, ja, ich tu es, aber dann müssen Sie mir versprechen, endlich den Mund zu halten und für den Rest des Fluges nett zu sein.«
Sabine räusperte sich. »Er würde nie ein Versprechen abgeben, das er nicht halten kann.«
Der Mann drehte sich zu Sabine. »Stört es Sie denn nicht, wenn der Kerl neben Ihnen sitzt und Sie belästigt?«
»Ist okay, das ist mein …«, sagte sie und erinnerte sich an ihre Rolle als Anna Bischoff, »… mein Vater.«
»Oh, wirklich? Sie tun mir echt leid.«
»Ja, ich mir auch.«
»Alles Gute.« Der Mann löste seinen Gurt, schnappte sich seine Aktentasche und sein Magazin und wechselte mit Sneijder den Platz.
Kaum saß Sneijder neben ihr, platzierte er sein Glas auf dem heruntergeklappten Tisch und holte sein Akupunkturnadelset aus dem Sakko. Mit gezielten Stichen steckte er sich ein halbes Dutzend Nadeln in kleine tätowierte Punkte auf seinen Handrücken.
»Angespannt?«, fragte Sabine.
Er schüttelte den Kopf, seine Stirn lag in steilen Falten. »Mich nervt nur manches.«
»Verstehe«, sagte Sabine. »Langsam erklärt sich für mich, warum Sie ständig Cluster-Kopfschmerzen haben.«
»Ich habe es eben nicht leicht«, knurrte er.
»Warum wollten Sie hier sitzen?«
»Wir müssen uns vorbereiten.«
Während über die Lautsprecher eine Durchsage des Captains zuerst auf Deutsch und dann auf Englisch kam, beugte sich Sneijder zu Sabine und senkte die Stimme. »Die IT-Techniker in Wiesbaden haben die Kontaktseite und das Impressum von Ron D. Paculas Website wegen eines vorübergehenden technischen Serverfehlers vom Netz genommen.«
Sabine zog eine Augenbraue hoch. »Dann kann Sie niemand auf Conrads Handy anrufen, falls jemand Paculas Seite googelt«, flüsterte sie.
Sneijder nickte. »Damit finden wir exakt diejenigen heraus, die Paculas Nummer bereits kennen.«
Ja, das ergab Sinn.
»Bis zur Landung können wir die verbleibende Zeit gut nutzen.« Sneijder holte sein Handy aus der Sakkotasche. »Schalten Sie Ihr Telefon ein und loggen Sie sich ins Bord-WLAN.«
Fünf Minuten später bekamen sie über eine verschlüsselte Verbindung von Wiesbaden ein zweihundertsechzig Seiten dickes Dokument geschickt.
» Rekonstruktion der Propaganda und Philosophie der linken Terrorbewegung in der BRD von 1968 – 1982, dargestellt am Beispiel der RAF« hieß der Text, bei dem es sich um Paul Conrads Dissertation an der Uni Mannheim aus den 80er Jahren handelte.
Und das, was Sabine da über die mögliche zukünftige Gewaltbereitschaft junger Leute las, gefiel ihr gar nicht.