38. Kapitel

Von den angeblichen Wetterturbulenzen war bei der Landung am Flughafen von Palma de Mallorca nichts zu spüren gewesen, aber das hatte Lea ohnehin nicht wirklich erwartet.

Kaum dass sie den Flieger verlassen hatte, schob sie sich die Brille so auf die Nasenspitze, dass sie über den Brillenrand sehen konnte, und zog sich Vickys Schirmkappe tief ins Gesicht. Schließlich musste sie davon ausgehen, dass es hier möglicherweise jemanden gab, der Vicky kannte. Aber diese Art Camouflage würde auf Dauer nicht gutgehen. Sie musste sich schleunigst etwas einfallen lassen, denn wenn sie einen oder zwei Tage lang mit diesen Gläsern herumlief, würde sie nicht nur extreme Kopfschmerzen bekommen und über alles stolpern, was im Weg stand, sondern auch keine einzige Zeile lesen können.

Dort drüben , sagte Camilla.

»Hab’s schon gesehen, danke«, murmelte sie.

Auf dem Weg zum Gepäckband kam sie an einem Souvenirladen vorbei, der auch Sonnenbrillen anbot. An einem der Drehständer fand sie eine große braune Sonnenbrille, die einen ähnlich dicken Rahmen wie Vickys Brille hatte. Damit sah sie aus wie Vicky, nur mit getönten Gläsern. Sie ließ das Ding gleich auf, bezahlte es und steckte Vickys Brille in ihre Bauchtasche.

Und wenn dich jemand nach deiner Brille fragt?

»Sage ich, dass es eine optische Sonnenbrille ist.«

Und wenn jemand durchschauen möchte?

»Mein Gott, dann sage ich eben, dass ich seit Neuestem Kontaktlinsen trage. Wer sollte schon danach fragen?«

Vickys Liebhaber?

»Schau lieber, ob du unseren Koffer findest.«

Beim Gepäckband hatten sich bereits die Passagiere ihres Fliegers versammelt. Der groß gewachsene, hagere Glatzkopf im Designeranzug hob gerade einen schwarzen Hartschalenkoffer vom Band, der mehrmals mit Klebeband umwickelt war. Wer zuletzt einstieg, bekam sein Gepäck auch als Erstes. Seine junge Begleiterin hatte anscheinend nur ihre Reisetasche und einen Rucksack dabei, denn die beiden begaben sich gleich zum Ausgang.

Danach ging es flott, auch die anderen Gepäckstücke ihres Flugs liefen aufs Band, und alle Urlauber stürzten gleichzeitig hin, als gäbe es etwas zu gewinnen. Nachdem auch Lea ihren Koffer gefunden hatte, marschierte sie ebenfalls zum Ausgang. Sogleich schlug ihr eine schwüle Hitze entgegen, leicht abgemildert durch einen mediterranen Luftzug, der nach Meerwasser und dem Duft von Kiefern roch. Während sie auf einem Förderband neben einer Reihe weißer Säulen an den Taxiständen vorbeifuhr, hinter denen sich saftig grüne Palmwedel im Wind bogen, sah sie, wie der Glatzkopf mit seiner Begleiterin auf eine Frau im dunkelblauen Businessanzug zusteuerte, die ein Schild hochhielt. Ron D. Pacula stand auf der Tafel, soweit Lea das erkennen konnte. »Muss wohl ein wichtiger Typ sein«, murmelte sie.

Kümmere du dich lieber um unseren Transfer. Dort drüben stehen die Busse.

»Kannst es wohl kaum erwarten, dass wir uns in der Hotelbar den Begrüßungscocktail reinzwitschern.«

Tatsächlich warteten am Ende des Förderbandes die Shuttlebusse. Lea hielt nach einem Fahrzeug Ausschau, das zum Aurelia Bay Club Resort fuhr, und fand einen hochmodernen weißen Bus, in dem bereits einige Leute saßen.

»Señora Vicky Fuchs? «, fragte ein braun gebrannter Spanier mit langen schwarzen Locken und Haarreifen, weißem Hemd und Anzughose, vor dem sie zum Stehen kam.

Sie nickte. Anscheinend war sie die letzte Passagierin.

»Ich bin Miguel. Willkommen auf den Balearen.« Er drückte ihr Prospekt und Flyer in die Hand und hakte ihren Namen auf seinem Tablet ab. Danach schob er ihren Koffer ins Gepäckfach, schloss die Ladeklappe und schwang sich, nachdem er Lea den Vortritt gelassen hatte, auf den Fahrersitz. Acht Leute saßen bereits im Luxusbus, der sogar in jeder Sitzreihe mit Monitoren ausgerüstet war. Die Türen schlossen sich, und die Klimaanlage sprang an.

Keine Kinder , stellte Camilla fest, während Lea nach hinten marschierte.

»Zum Glück«, murmelte Lea und setzte sich auf die Bank in der letzten Reihe, wo sie allein war.

»Die Fahrt dauert eine Stunde und fünf Minuten«, erklärte Miguel, während er durch das Gewirr der Autos über das Gelände kurvte.

Sag ihm, er soll sich beeilen.

Lea ignorierte den Kommentar, schaltete den Monitor vor ihr aus und faltete stattdessen den Flyer auseinander.

Der Flughafen von Palma lag im Südwesten der Insel, und ihre Fahrt ging einmal quer durchs Land achtzig Kilometer nach Nordosten in die Gemeinde Pollença, an deren östlichster Spitze die Halbinsel Formentor lag. Dort, in der Bucht Cala Figuera, lag das Aurelia Bay Club Resort . Lea öffnete den Hochglanzprospekt des Hotels, und für einen Moment blieb ihr die Luft weg.

»Okay … kein Wunder, dass hier keine Kinder sind«, murmelte sie. Welche jungen Eltern konnten sich schon so ein Resort leisten?

Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?

»Laut Voucher und Miguel schon.«

Das Aurelia Bay Club Resort war eine riesige und erst ein Jahr alte 5-Sterne-Luxus-Hotelanlage, die von einer Hotelkette aus Dubai, die sich auf Mallorca eingekauft hatte, errichtet worden war. Die gesamte Bucht war extra mit weißem Sand aufgeschüttet worden und glich einem abgeschiedenen Inselparadies für Superreiche.

»Wie konnte sich Vicky diesen Urlaub nur leisten?«, flüsterte Lea und sah kurz zu den anderen Gästen nach vorne, die jedoch weit genug weg saßen, um nichts von ihrem vermeintlichen Selbstgespräch mitzubekommen. »Meinst du, Vickys Macker zahlt ihr diesen Luxustrip?«

Keine Ahnung. Camilla klang desinteressiert. Vielmehr wundert mich, warum deine rebellische Cousine ausgerechnet hier unter all den Snobs ihren Urlaub verbringen wollte.

»Guter Punkt. Brunnenbauen in einem Dritte-Welt-Land oder eine Rundreise durch Kuba oder Nordkorea hätten besser zu ihr gepasst als dieser Luxustempel.«

Aber Lea wollte das alles im Moment nicht weiter hinterfragen. Sie packte den Flyer weg, blickte aus dem Fenster und betrachtete die grünen Berge, die an ihnen vorbeizogen, und die weiten Wiesen neben der Schnellstraße, auf denen Wildziegen weideten. Sie würde Vickys Rolle sowieso nur maximal einen Tag lang spielen. Danach würde sie einen Städtetrip mit dem Bus nach Palma vortäuschen, stattdessen aber das Hotel mit dem Taxi im Morgengrauen verlassen. Und zwar nur mit ihrer eigenen Kleidung, die sie in Vickys Koffer gepackt hatte, ihrer Bauchtasche, ihrem Ausweis und dem ganzen Bargeld.

Das Taxi würde sie zum Port d’Alcúdia bringen, der dreiundzwanzig Kilometer vom Hotel entfernt war. Von dort legte täglich um 6.30 Uhr früh eine kleine Fähre zum spanischen Festland ab. Wenn alles klappte, würde sie bereits morgen Mittag im Hafen von Barcelona ankommen.

Den Rest hatte sie schon per ausführlicher Internetrecherche ausgetüftelt. Von Barcelona würde sie sechs Stunden lang mit dem TGV über die französische Grenze bis nach Lyon fahren und dort umsteigen. Nach Genf waren es zwei weitere Stunden, von dort nach Zürich knapp drei Stunden und weiter nach Innsbruck drei Stunden und vierzig Minuten. Danach ein letztes Mal umsteigen, und dann dauerte es mit dem Zug von Innsbruck nach Kufstein nur noch etwas mehr als eine Stunde.

Ein ebenso stressiger wie sportlicher Plan. Aber wenn alles klappte und die Verbindungen einigermaßen pünktlich waren, hatte sie sogar mit Warten und Umsteigen eine Reisezeit von nur insgesamt dreiundzwanzig Stunden, also nicht einmal einen ganzen Tag.

Das Beste daran war, dass das alles – da sie ja nicht flog – ohne Reisepass und mit Barzahlung machbar war. Selbst zwischen Frankreich und der Schweiz, die schon lange dem Schengener Abkommen beigetreten war, gab es an der Grenze keine Personenkontrollen mehr, sondern neben einfachen Fahrschein- nur noch Gepäckkontrollen. Kein Problem für Lea, da sie sowieso nur ihre Bauchtasche dabeihaben würde.

Theoretisch hatte sie jetzt auf Mallorca drei Tage Zeit, da sie allerspätestens Donnerstagfrüh abreisen musste, damit sie rechtzeitig am Freitag um zehn Uhr vormittags, wenn die Betonmischwagen anrollten, um das Fundament ihres Wintergartens zu gießen, wieder zurück war.

Aber so lange wollte sie ihr Glück gar nicht strapazieren. Je früher sie von der Insel verschwand, desto besser, schließlich bestand die ganze Zeit über die Gefahr, dass zu Hause jemand Vickys Leiche in der Grube für den Wintergarten entdeckte. Außerdem konnte sie nur hoffen, dass ihr Assistent nicht auf die Idee kam, sie daheim zu besuchen, um sich nach ihrer Sommergrippe zu erkundigen.

Wie auch immer – wenn sie einmal von der Insel abgereist war, würde die mallorquinische Kripo vermuten, dass Vicky auf Mallorca spurlos verschwunden war, und damit beginnen, sie zu suchen – aber niemand würde eine Leiche finden, und sie selbst hatte für die Zeit, in der ihre Cousine verschwand, ein perfektes Alibi – und dass sie Österreich verlassen hatte, musste ihr erst einmal jemand beweisen.

Mittlerweile fuhren sie durch eine bessere Wohngegend mit prachtvollen Villen auf den Hügeln. Die letzten Kilometer ging es schließlich auf einer schmalen Küstenstraße mit atemberaubender Aussicht entlang, auf der der Bus öfter mal abrupt abbremsen musste, weil entgegenkommende Autos das Überholen der zahlreichen Radfahrer unmöglich machten.

Lea starrte aufs weite Meer hinaus, bis sie vom Läuten ihres – beziehungsweise Vickys – Handys aus den Gedanken gerissen wurde. Ein osteuropäischer Militärmarsch als Klingelton. Typisch Vicky. Erneut spürte sie bei dem Gedanken aufkeimende Tränen im Augenwinkel.

Willst du nicht zumindest nachsehen, wer da anruft?

»Ja, doch …« Lea wischte sich mit dem Handballen über die Augen und kramte das Telefon aus der Bauchtasche. Der Anrufer war als Kürzel WG abgespeichert, darunter stand eine ihr unbekannte Nummer mit österreichischer Vorwahl. Lea ließ es klingeln, reduzierte aber die Lautstärke auf ein Minimum.

Als es ihr nach dem gefühlt zehnten Läuten zu blöd wurde, drückte sie den Anrufer einfach weg. »Wird wohl nicht so wichtig sein.«

Hoffen wir’s.