44. Kapitel

Nach dem merkwürdigen Gespräch mit Pacula an der Rezeption hatte Lea wieder den Schleichweg an der Wellnesslandschaft vorbei in Richtung ihres Apartments genommen.

Im Schatten der Palmenreihe lief sie erneut an der weißen Mauer entlang, hinter der Wasserdampfwolken aufstiegen, es brodelte, gluckste und nach Duftölen roch. Auf einer der Wiesen auf der anderen Seite des Weges fand gerade eine Mischung aus Yoga- und Aerobic-Kurs statt, bei dem sich ein Dutzend Frauen und ein paar Männer zu orientalischer Musik bewegten und lange Holzstöcke kreisen ließen.

»Was hältst du von diesem Pacula?«, wollte Lea wissen.

Ich dachte schon, du fragst mich nie. Sieht nicht nach einem Mentalcoach aus.

»Wie sieht denn ein typischer Mentalcoach aus?«

Braun gebrannt, strahlend weißes Lächeln, positive Ausstrahlung und ein ständiges Motivationsgrinsen im Gesicht. Dieser Typ ist das genaue Gegenteil davon. Sieht blass und krank aus – und ich hatte den Eindruck, dass ihn die ganze Situation tierisch genervt hat. Außerdem hat er nach Gras gerochen.

Lea nickte. Dieses Gefühl hatte sie auch gehabt. »Und warum fragt mich dieser WG in seiner SMS, ob ich Pacula schon gesehen habe?«

Keine Ahnung, aber ist dir aufgefallen, dass dir seit der Rezeption jemand folgt?

»Wer sollte …?«

Nicht umdrehen!

Lea ging geradeaus weiter. Vor ihr befand sich der Lieferanteneingang zum Wellnessbereich. Über der Ausfahrt befand sich ein Verkehrsspiegel. Darin sah Lea zuerst sich selbst verzerrt mit Schirmkappe, rotem Zopf und blau-rot gesprenkeltem Kimono. Etwa fünfzig Meter weiter hinten folgte ihr ein Mann in weißen Shorts und weißem T-Shirt.

»Zufall«, sagte Lea.

Im Glas des Wassertanks in der Lobby habe ich auch schon sein Spiegelbild gesehen.

»Vielleicht nimmt er denselben Weg.«

Diesen Weg?

Lea antwortete nicht darauf, aber Camilla hatte natürlich recht. Sie hatte sich ja gerade deswegen für diesen Schleichweg entschieden, weil hier sonst kein Mensch unterwegs war. Kurz bevor sie am Spiegel vorbei war und den Mann aus den Augen verlor, sah sie noch, wie er ein Handy zum Ohr führte.

»Der telefoniert gerade mit seiner Frau, weil er sich verlaufen hat …«, sagte Lea, verstummte jedoch, da in diesem Moment in ihrer Bauchtasche Vickys Handy klingelte. »Shit!«, entfuhr es ihr.

Von wegen seine Frau. Der ruft gerade dich an. Nicht rangehen! , warnte Camilla sie.

»Ich bin ja nicht blöd.« Vor ihr teilte sich der Weg. Links ging es zum Strand, rechts zu jenem Teil der Apartmentanlage, in der auch ihr Haus lag. Lea bog nach links in Richtung Meer ein.

Wohin gehst du?

»Irgendwohin«, murmelte sie. »Herausfinden, ob er uns wirklich folgt.«

Lea marschierte an mehreren Apartments vorbei, die in diesem Teil des Areals englische Namen trugen. Nachdem sie wie zufällig einige Haken geschlagen hatte, nahm sie einen von Orchideen gesäumten, asphaltierten Weg, der zum Strand hinunterführte.

Und jetzt?

Lea erreichte den breiten aufgeschütteten Sandstrand mit den Palmen und Strohhütten. Hier sah alles so aus wie bei jedem anderen Strandurlaub, nur dass zwischen den Liegen mehr Platz war und es weder Sandspielzeug noch Sandburgen gab. Weiter hinten brachen sich die azurfarbenen Wellen in der Bucht. Einige Urlauber ließen sich auf Luftmatratzen treiben, andere sprangen von Motorbooten, die in der Bucht ankerten, ins Wasser. Eine angenehm sanfte, kühlende Brise kam vom Meer über den Strand und streifte Leas Gesicht. Sie spürte das Salz auf den Lippen. Irgendwie hatte das alles ein karibisches Flair.

Von hier aus konnte man auch die atemberaubenden Steilklippen der Halbinsel Formentor sehen, die hinter der Bucht noch ein paar Kilometer weitergingen und auf denen sich die Küstenstraße in Serpentinen bis zum Cap de Formentor hinaufwand – dem nordöstlichsten Teil der Insel, wo ein Aussichtspunkt mit Leuchtturm lag.

Toller Blick. Und jetzt? , fragte Camilla erneut.

Lea steuerte nach links auf die Strandbar zu, an der jeder Platz von Urlaubern besetzt war. Daneben lag die Open-Air-Stranddiskothek. Die hatte zu dieser Zeit zwar noch nicht geöffnet, aber neben der Tanzfläche standen jede Menge Spiegel.

Verstehe!

Lea ging so an der Bar vorbei, dass sie sich selbst und alles, was hinter ihr lag, in einem der Spiegel sehen konnte. Und da war der Kerl wieder, der ihr in einem angemessenen Respektsabstand folgte. Hätte sie sich ein einziges Mal nach ihm umgedreht, hätte er bemerkt, dass sie von der Verfolgung wusste, und das Katz- und Mausspiel wäre beendet gewesen.

Und wohin jetzt?

»Ich werde versuchen, ihn abzuhängen.« Lea verließ den Hotelstrand und ging am Ufer entlang zum Jachthafen, der direkt an die Hotelanlage grenzte. Die immer noch kräftige Abendsonne setzte ihrer Haut mittlerweile ziemlich zu. Zum Glück hatte sie sich vorhin reichlich mit Creme eingeschmiert, andernfalls hätte dieser kleine Ausflug genügt, dass sie einen gewaltigen Sonnenbrand bekam. Sie spürte sogar die Hitze, die vom Sand reflektiert wurde.

Selbstbewusst, als wäre sie in Eile, marschierte sie an einem Securitymann des Hotels vorbei, der ihr zunickte. Nur noch hundert Meter trennten sie vom ersten Steg. Während des Shuttletransfers hatte sie in einem der Prospekte gelesen, dass es auf Mallorca insgesamt achtunddreißig Jachthäfen gab – das war einer davon. Mit den nur drei langen Stegen, die aufs Wasser führten, eher einer der kleineren, aber dafür waren die Schiffe, die hier lagen, umso beeindruckender. Neben einigen luxuriösen Ausflugsbooten fanden sich hier auch kleine Segelschiffe und größere private Motorjachten.

Je näher sie kam, desto mehr Details konnte sie erkennen. Und da sie sich als Personenschützerin oft unter den wirklich Reichen bewegt hatte, kannte sie sich aus. Keines der Boote, das hier vertäut war, kostete weniger als vier oder fünf Millionen Euro. Es waren schwimmende Apartments mit Satellitenschüsseln, kleinen Pools und Rettungsbooten.

Lea nahm den mittleren Steg, und kaum befand sie sich im Sichtschutz der ersten Jachten, fing sie an zu laufen. Da kurz zuvor ein Motorboot an der Küste entlanggefahren war, schwappten die Wellen jetzt gegen die Holzpfosten. Das Wasser in den Autoreifen, gegen die die Schiffe stießen, gluckste. Lea blieb bei einer etwa zwanzig Meter langen, zweistöckigen Jacht mit türkischer Fahne stehen, die mit dem Heck am Steg festgezurrt war. Auf den ersten Blick war niemand an Bord, und das Fallreep war hochgezogen.

Lea sprang vom Steg auf die hintere Holzplattform der Jacht, an der ein Schlauchboot angebunden war und stieg von dort rasch die Treppe zum ersten Deck hinauf. Sie lief an der Reling entlang, ging zwischen Tisch und Stühlen in die Hocke und verbarg sich hinter einer getönten Seitenscheibe. Erst jetzt sah sie sich mit rasendem Herzen um. Die Glastür zum Innenbereich des Boots war zu, dahinter konnte sie keine Bewegung erkennen. Offenbar war wirklich niemand an Bord. Nun hob sie vorsichtig den Kopf und spähte durch die getönte Seitenscheibe zum Strand, wo der Steg begann.

Vielleicht machte sie sich ja gerade zum Affen, aber wenn sie Pech hatte, war ihr der Mann bis hierher gefolgt. Eine Weile passierte nichts, dann tauchte der Kerl tatsächlich am Beginn des Stegs auf, sah sich um und ging zögerlich ein paar Schritte weiter.

»Wer zum Teufel bist du?«, flüsterte sie. Um das herauszufinden, hätte er noch ein Stück näher kommen müssen, doch er blieb zwischen den ersten Booten stehen und blickte sich um. Dann sah sie, wie er wieder zum Handy griff.

»O Scheiße!«, entfuhr es Lea. Hastig kramte sie Vickys Telefon aus der Bauchtasche. Das Display zeigte ihr einen versäumten Anruf. Der war zehn Minuten alt. Von WG . Mit zitternden Fingern schaltete sie das Handy auf lautlos. Gerade rechtzeitig, denn im nächsten Moment sah sie den nächsten eingehenden Anruf von WG . Sie atmete tief aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Während sie auf das Display starrte und darauf wartete, dass der Anruf endete, kam ihr eine Idee. Vickys Telefon hatte schließlich auch eine Kamera. Zwar nur eine ganz bescheidene, aber immerhin. Sie nahm die Sonnenbrille ab, klemmte sie auf die Schirmkappe, dann hob sie den Kopf und kniff die Augen zusammen. Der Typ stand etwa hundert Meter weit entfernt und hatte die untergehende Sonne im Rücken, sodass Lea nur seine Silhouette erkennen konnte. Trotzdem machte sie mit Vickys Handy mehrere Fotos von ihm.

Dann wartete sie ab. Der Kerl hatte immer noch das Telefon am Ohr. Schließlich nahm er es herunter, drehte sich um und ging wieder Richtung Hotel.

Erst jetzt merkte Lea, dass sie den Atem angehalten hatte. Langsam stieß sie die Luft aus und atmete gierig ein. Ihre Schultern sackten hinunter, und sie lehnte sich erleichtert an die Bordwand.

Mach es nicht so spannend! Öffne die Fotos und zoom sie ran.

»Ja doch.« Mit immer noch zitternden Fingern wählte Lea ein vielversprechendes Bild aus, das nicht verwackelt war und auf dem man noch am besten etwas erkennen konnte. Vickys Telefon hatte tatsächlich eine Zoomfunktion. Lea vergrößerte das Bild, soweit das auf dem winzigen Display ging. Die Pixel waren zwar sehr grob, aber es ließen sich eine Gestalt und ein vertrautes Gesicht erkennen, bei dessen Anblick Lea der Atem stockte. »Das … das gibt es nicht …«

O verdammt , entfuhr es Camilla – und dann wurde es plötzlich still in Leas Kopf.

Sie kannte den Verfolger. Es war Gernot, ihr eigener Freund. Das konnte doch gar nicht sein. Was machte der hier? Er war doch zu seiner Mutter in den Schwarzwald gefahren.

Und dann wurde Lea klar, dass das Kürzel WG für Wulff Gernot stand.

»Dieser Wichser hat seinen Urlaubstrip mit Vicky ausgerechnet an meinem Geburtstag geplant«, flüsterte sie.

Eigentlich hätten ihr jetzt die Tränen über die Wangen laufen müssen, doch sie war weit davon entfernt zu heulen. Stattdessen kroch Wut in ihr hoch – auf Gernot, aber letztendlich noch mehr auf sich selbst.

Das hat er perfekt geplant , sagte Camilla nun leise.

»Was?«, fragte sie.

Der Arsch konnte sicher sein, dass du ihn nicht zu seiner Mutter begleiten würdest, weil der Termin für das Wintergartenfundament schon seit zwei Monaten feststeht.

»Dieses raffinierte Schwein …« Leas Zittern war verschwunden, und während sich ein Puzzleteil ans nächste fügte, ballte sie wütend die Hände. »Er ist also seit all den Jahren Vickys heimlicher Freund und nicht dieser vermeintliche Promi mit der angeblichen Tochter.«

Um ehrlich zu sein … , flüsterte Camilla, … habe ich so etwas Ähnliches schon seit einiger Zeit geahnt.

»Echt jetzt?«, zischte Lea. »Und du hast die Klappe gehalten? Wie überaus rücksichtsvoll von dir!«

Ja, das war es! Ich wollte dich nämlich schützen … außerdem hättest du mir das sowieso nicht geglaubt.

Stimmt. Das hätte sie nicht. Sie musste ihn erst auf frischer Tat ertappen, damit sie sich diese Selbsttäuschung eingestehen konnte. Jetzt allerdings hatte sie keine Zweifel mehr, dass er sie betrogen hatte. Einerseits war es wie eine Befreiung, endlich die Wahrheit zu kennen, andererseits war es extrem schmerzhaft.

»Am liebsten würde ich dem Kerl den Hals umdrehen …«

Wir sollten nichts überstürzen.