48. Kapitel

Lea saß am Schreibtisch, starrte an die Wand und stopfte abwechselnd eine Rippe Schokolade und eine Handvoll Kartoffelchips in sich hinein, obwohl sich ihr Magen schon jetzt schmerzhaft zusammenzog. Gedankenverloren kaute sie, schluckte und spülte alles mit Mineralwasser hinunter. Andere hungerten sich die Kilos vom Leib, wenn sie frustriert waren, sie hingegen schob sich Zucker und Kohlenhydrate hinein. Das hatte sie schon immer so gemacht.

Vor allem durfte sie jetzt nichts überstürzen und in einer Kurzschlusshandlung durchdrehen, sondern musste vor allem überlegt und clever vorgehen.

Für einen Moment sah sie sich selbst im Wandspiegel. Mit einem Mal hasste sie dieses Spiegelbild und hatte ihre Rolle als Vicky satt. Sie zog sich die Schirmkappe vom Kopf und schleuderte sie zornig durchs Zimmer. Dann öffnete sie den geflochtenen Zopf und schüttelte ihr langes rotes Haar aus. Nachdem sie einen ganzen Tag lang eine andere verkörpert hatte, war sie jetzt endlich wieder sie selbst. Erneut blickte sie in den Spiegel.

So gefällst du mir viel besser , sagte Camilla.

»Ich mir auch.«

Und da fiel ihr auf, dass ihr schlechtes Gewissen wegen Vickys Tod verschwunden war. Sie hatte sich einen Tag lang die Augen aus dem Kopf geheult, dabei hatte ihre eigene Cousine sie nach Strich und Faden verarscht, ihr den Mann, über den sie sogar ständig gelästert hatte, ausgespannt und sie obendrein noch finanziell abgezockt. Wobei Lea es dabei gar nicht so sehr um das Geld ging – wenn Vicky sie darum gebeten hätte, hätte sie deren Miete auch freiwillig übernommen. Aber dass sie damit das heimliche Liebesnest der beiden finanziert hatte, ärgerte sie bis ins Mark.

Lea warf die leere Chipspackung und das Schokoladenpapier in den Mülleimer, trank die Flasche Wasser aus und wischte sich über den Mund.

Satt?

»Ja.«

Immer noch in Mordsstimmung?

»Ja.«

Also werden wir ihn …?

»Nein, das war nur im Zorn dahingesagt«, murmelte sie.

Wie schade.

»Stattdessen werde ich mit Gernot, gleich wenn er von seiner kranken Mutter wieder zurückkommt, einfach Schluss machen, ihm die Koffer und Kartons mit seinem Zeug vor die Tür stellen und ihn aus dem Haus werfen.«

Mit welcher Begründung?

Sie leckte sich das Salz von den Fingern. »Brauche ich eine?«

Okay, nein, ist ja schließlich dein Haus.

Das war der simple Teil. Aber bis dahin durfte Gernot auf keinen Fall erfahren, dass sie Vickys Reise angetreten hatte und auf Mallorca war. Andernfalls würden ihre ganzen Bemühungen, Vickys Tod zu verschleiern, auffliegen.

Sie griff zum Zimmertelefon und wählte die Rezeption. Kurz darauf hatte sie eine Dame am Apparat. »Rezeption Aurelia Bay Club Resort , mein Name ist Mercedes, was kann ich für Sie tun?«

»Mercedes?«, fragte Lea überrascht. »Machen Sie eigentlich nie Pause?«

»Na ja«, seufzte sie. »Mein Dienst endet erst in einer Stunde. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Hier spricht Vicky Fuchs vom Apartment Pueblo «, sagte sie. »Ich würde morgen gern eine Inselrundfahrt machen und mir dabei unter anderem auch Palma ansehen.«

»Eine ausgezeichnete Wahl«, sagte Mercedes. »Das Wetter morgen wird perfekt. Die Insel hat einige schöne Parks und Naturschutzgebiete zu bieten, und morgen ist Markttag in Palma. Außerdem sollten Sie sich die Kathedrale ansehen.«

»Super, das klingt toll!« Lea bemühte sich, begeistert zu klingen. »Da will ich ganz früh los. Wann fährt denn der erste Bus von hier weg?«

»Unser Shuttlebus fährt leider erst am späten Vormittag gegen zehn los.«

»Schade, viel zu spät.«

»Sie könnten sich aber, wenn Sie wirklich schon morgens los wollen, ein Taxi bestellen. Das geht schon vor sechs Uhr früh. Es sei denn, Sie möchten …«

»Nein, ausgezeichnet, ich werde ein Taxi nehmen.«

»Das Frühstücksrestaurant öffnet da gerade erst. Soll ich Ihnen vielleicht ein Lunchpaket aus der Küche zusammenstellen lassen?«

»Nein danke, das ist nicht notwendig«, sagte Lea.

»Darf ich Ihnen wenigstens das Taxi vorbestellen?«

»O nein, vielen Dank, aber ich überlege noch, wann genau ich losmöchte, und kümmere mich dann selbst. Schönen Feierabend.« Lea legte den Hörer auf die Gabel. Das mit dem Restaurant war kein Problem. Sie würde morgen früh sowieso nichts runterbringen und erst später auf der 6.30-Uhr-Fähre nach Barcelona frühstücken.

Und plötzlich ist die arme Vicky spurlos verschwunden , gab Camilla ihren Senf dazu. Wann brechen wir morgen auf?

»Zehn Minuten vor sechs Uhr.«

So zeitig?

»Kannst ja länger schlafen.«

Werde ich auch tun.

Was ihrer Langschläferschwester ähnlich sah. Lea selbst jedoch war innerlich so aufgewühlt, dass sie vermutlich kein Auge zumachen würde. Trotzdem stellte sie sicherheitshalber den Wecker neben dem Bett.

Während von weit entfernt dumpf und leise die hämmernden Bässe der Stranddiskothek zu hören waren, griff Lea zur Fernbedienung und warf sich aufs Bett. Nachdem sie durch einige spanische und englische Sender gezappt war, fand sie ZDF, ARD und weitere deutschsprachige Sender, drehte lauter und schaltete wahllos zwischen ihnen hin und her. Schließlich blieb sie bei den Nachrichten hängen, wo eine live aus München zugeschaltete Reporterin ziemlich aufgebracht von einem vierten Terroranschlag in nur einer Woche redete.

Scheiß Islamisten , meldete sich Camilla zu Wort.

»Das sind keine Islamisten«, widersprach Lea.

Aber …

»Halt doch mal die Klappe!« Lea drehte lauter. Die Rede war von einem Anschlag am Münchner Hauptbahnhof, bei dem fünf maskierte Personen auf der Plattform vor den Augen zahlreicher Passanten einen Mann und seine beiden Leibwächter erschossen hatten. Das Opfer des Anschlags war ein deutscher Politiker mit rechtsradikalen Ansichten gewesen, der Kontakt zur deutschen NPD und zur österreichischen Identitären Bewegung gehabt hatte.

Verdammtes politisches Gewichse , schimpfte Camilla. Dass die sich immer gegenseitig die Schädel einschlagen müssen.

»Finde ich gar nicht schlecht, wenn die sich selbst eliminieren«, widersprach Lea.

Ausschnitte von einer Überwachungskamera wurden gezeigt, in denen man die mit schwarzen Skimasken vermummten Täter sah. Die Ermordung war wie eine präzis geplante militärische Aktion abgelaufen – rasch und effizient. Die Reporterin sprach von einer öffentlichen Hinrichtung, wobei die Tat selbst zwar nicht gezeigt wurde, man aber sehr wohl die Schüsse und das Kreischen der Menschen hörte.

Plötzlich klopfte es lautstark an die Tür, sodass Lea vom Bett hochfuhr. »Verdammt«, zischte sie, während ihr Herz raste.

»Mach auf!«, rief jemand von draußen. Sie erkannte Gernots Stimme.

Langsam beruhigte sie sich und sank wieder zurück aufs Kopfkissen. Diese Nacht musste sie noch durchstehen – zur Not mit Vogel-Strauß-Taktik den Kopf in den Sand stecken. Sie drehte den Ton wieder leiser. Gernot musste ja nicht unbedingt mitkriegen, dass sie Nachrichten schaute.

Es klopfte noch einmal. Lea schaltete auf einen anderen Sender, auf dem eine Folge von Bares für Rares lief. Das war genau die Ablenkung, die sie jetzt brauchte. Einer der Antiquitätenhändler hatte gerade einen Scherz gemacht, und alle lachten. Sie war ein großer Fan dieser Show, wobei ihr Lieblingshändler eindeutig Waldi war. Wenn sie sah, wie der für eine wertvolle Rarität achtzig Euro bot, war die Welt für sie wieder in Ordnung.

Lea gelang es, sich auf die Sendung zu konzentrieren – zumindest so lange, bis sie die von der Außenbeleuchtung angestrahlten Umrisse einer Person sah, die am Fenster vorbeischlich. Hinter dem Vorhang war nun deutlich Gernots Silhouette zu erkennen. Sekunden später klopfte er an die Terrassentür. Lea zuckte kurz zusammen, beruhigte sich aber gleich wieder.

Lass ihn nur, er wird bald aufgeben , sprach Camilla ihr Mut zu.

»Nicht, wenn er hormongesteuert ist.« Lea stand auf, holte sich Vickys Handy. Da sie es auf der Jacht auf lautlos geschaltet hatte, merkte sie erst jetzt, dass ihr Gernot eine weitere Nachricht geschickt hatte.

» Was ist los mit dir? Warum gehst du mir aus dem Weg?«

Sie tippte eine Antwort. » Habe entsetzliche Migräne – wäääh – muss schlafen.«

Prompt kam Gernots Reaktion. » Das soll ich dir glauben? Was hast du am Jachthafen gemacht?«

» Wir sehen uns morgen beim Frühstück um neun im Speiseraum. Gute Nacht« , tippte sie und wartete seine Antwort gar nicht mehr ab, sondern schaltete das Handy einfach aus.

Morgen um neun Uhr würde sie schon längst mit der Fähre auf halbem Weg zum spanischen Festland sein.