54. Kapitel

Nachdem Lea bitteren Gallensaft ausgespuckt und sich noch einmal mit dem Handrücken über den Mund gewischt hatte, versuchte sie, sich zu beruhigen. Aber ihre Gedanken überschlugen sich.

Sie hatte schließlich einiges zu verarbeiten. Nicht nur, dass Gernot und Vicky schon seit vielen Jahren ein Paar gewesen waren und ein hinterhältiges Spiel mit ihr getrieben hatten. Noch viel mehr setzte ihr zu, dass sie Gernot gerade hatte sterben sehen und er nun auch endgültig aus ihrem Leben verschwunden war. Tot … wie Vicky. Ironischerweise ebenfalls durch einen Sturz, nur einen sehr viel tieferen. Damit hatte sie innerhalb weniger Tage zwei geliebte Menschen verloren. Und ihre sorgfältig konstruierten Pläne waren komplett durcheinandergeraten.

Haben wir jetzt nicht Wichtigeres zu tun, als in die Tiefe zu starren , riss Camillas Frage sie schließlich aus den Gedanken.

»Da bist du ja wieder«, murmelte sie. »Ja, du hast recht, aber ich muss nur noch kurz überlegen …«

Was gibt es da noch zu überlegen?

Lea antwortete nicht. Stattdessen hob sie den Kopf und sah sich um. Bis jetzt hatte sie hier niemand gesehen. Also würde sie auch niemand mit Gernots Tod in Verbindung bringen können. Seine Leiche würde vermutlich frühestens in zwölf oder vielleicht sogar erst vierundzwanzig Stunden entdeckt werden – ohnehin nur dann, wenn die Strömung sie an einen von Touristen besuchten Strand spülte. Vielleicht würde sie auch einfach aufs offene Meer hinausgetragen.

Bis dahin war Lea bereits weg von der Insel.

Nun sah sie auf die Uhr. »Scheiße …«, zischte sie. Durch das Gespräch mit Gernot, das ewig lange Hinunterstarren zu den Klippen und das endlose Grübeln hatte sie zu viel Zeit verloren. Selbst wenn sie jetzt loslief, würde sie das Hotel nicht mehr rechtzeitig erreichen, um sich in ihrem Apartment umzuziehen, die Bauchtasche zu schnappen, mit dem Taxi nach Alcúdia zu fahren und zum Fährhafen zu rennen. Sie blickte zu Gernots E-Bike hinunter.

»Ich könnte das Rad nehmen«, murmelte sie.

Bist du verrückt? , erklang sogleich Camillas Stimme.

»Was denn? Mit dem Rad könnte ich es noch rechtzeitig schaffen.«

Soviel ich gesehen habe, sind die E-Bikes nummeriert. Wenn Gernot sich das Rad gestern Abend offiziell an der Rezeption ausgeliehen hat, weiß dann jeder, dass du etwas mit seinem Verschwinden zu tun hast, weil DU es zurückgebracht hast.

»Ich muss ja nicht bis zum Hotel fahren, sondern könnte es vorher irgendwo in den Straßengraben …«

Und wenn dich jemand dabei sieht, ist erst recht klar, dass du etwas mit Gernots Verschwinden zu tun hast.

»Falsch«, korrigierte Lea sie. »Jeder wird denken, dass Vicky etwas mit seinem Verschwinden zu tun hatte, nicht ich. Und das kann mir doch egal sein.«

Großartig durchdacht, du weiblicher Sherlock Holmes , ätzte Camilla. Aber wenn du die Fähre verpasst, wieder zurück ins Hotel musst und Gernots Leiche in der Zwischenzeit entdeckt wird, wirst DU von der Polizei verhört. Und dann nützt es dir herzlich wenig, wenn du steif und fest behauptest, du seist Vicky Fuchs, denn die werden innerhalb kürzester Zeit herausfinden, wer du wirklich bist.

»Verdammt …« Lea kaute an der Unterlippe. Da war etwas dran. Wenn sie also jetzt mit dem Rad losfuhr, musste sie die Fähre hundertprozentig erreichen. War das noch zu schaffen? Das Risiko war zu hoch.

Denk in Ruhe nach. Du darfst jetzt auf keinen Fall in Panik geraten und etwas Dummes und Unüberlegtes tun.

»Wenn ich allerdings laufe und das Rad hierbleibt, suchen sie erst recht nach Gernot.«

Dann musst du es verschwinden lassen.

»Über die Klippen werfen?«

Wieso nicht? Was wird die Polizei dann glauben? Wahrscheinlich, dass Gernot es mit dem Mountainbiken übertrieben hat. Er wollte nachts einmal auf der Plattform um den Leuchtturm herumfahren, ist dabei an die Kante geraten, auf dem Kies abgerutscht und über die Felsen gestürzt. Wäre ja nicht das erste Mal, dass irgendein Idiot so etwas Schwachsinniges macht.

»Dann ist das Rad zwar weg, das Ganze würde seinen Tod plausibel erklären, es gäbe keine Verbindung zu mir – aber ich müsste zurücklaufen und versäume die Fähre.«

Dann nimmst du eben erst die nächste Fähre morgen in der Früh. Ist immer noch genug Zeit, um rechtzeitig nach Kufstein zu gelangen.

»Oder ich nehme eine andere Fähre von Palma aus«, überlegte sie.

Wo sie deinen Reisepass kontrollieren? Nein, du musst morgen früh die kleine Fähre von Port d’Alcúdia nehmen und bar bezahlen. Nur so bleibst du völlig anonym.

Das klang am sinnvollsten und war vermutlich von allen Möglichkeiten, die sie hatte, die sicherste und beste Variante. Also ging sie langsam die Steintreppe zum Fahrrad hinunter und merkte bei jedem Schritt mehr, wie ihre Knie zitterten. Ihre Glieder waren von der nächtlichen Kälte mittlerweile steif geworden, und der kalte Schweiß ließ sie frieren. Sicherheitshalber zog sie ihr T-Shirt aus und legte es über den Lenker, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.

Ist das jetzt nicht ein bisschen übertrieben?

»Wenn schon? Kann es schaden?«, entgegnete Lea.

Mit fast nacktem Oberkörper, nur mit dem Sport-BH bekleidet, fror sie zwar noch mehr, aber es waren ja nur wenige Meter die Treppen hinauf zu der Stelle, an der Gernot abgerutscht war. Sie lehnte das Rad an die Tafel, die davor warnte weiterzugehen, und schlüpfte wieder in ihr Shirt. Das feuchte Teil klebte sofort an ihrem Körper, und eine Gänsehaut überzog ihre Arme. Dann trat sie das Fahrrad mit einem kräftigen Stoß über die Felsen hinunter. Es krachte ein paarmal, einmal ertönte sogar die Klingel, dann klatschte das Ding ins Meer.

Und jetzt los, bevor der erste Touristenbus kommt.

Lea antwortete nicht, sondern sprang die Treppe hinunter, nahm den Weg zur asphaltierten Straße und joggte zurück. Nicht so schnell, wie sie gekommen war, sondern gemächlich. Sie war ziemlich erschöpft und hatte es schließlich nicht mehr eilig, da sie nun doch einen weiteren Tag im Hotel bleiben und erst morgen ihre angebliche Inselrundfahrt machen würde.

Immerhin musst du dich jetzt nicht mehr im Zimmer verstecken, kannst im Meer schwimmen gehen und den Urlaubstag genießen.

Den Urlaubstag genießen, wiederholte Lea in Gedanken. Wie das klang, in Anbetracht von Gernots Tod und dem, was sie kurz vorher erfahren hatte. »Und hole mir dabei einen Sonnenbrand samt Sonnenstich«, murmelte sie zynisch.

Dann trägst du eben die Kappe und cremst dich sorgfältig ein.

»Hör auf damit!«, presste sie heraus. »Auch wenn das für dich schwer vorstellbar ist, ich habe Gernot geliebt.«

Du trauerst ihm doch nicht etwa nach?

»Natürlich tue ich das.«

Hallo! Er hat dich jahrelang betrogen, angelogen und ausgenutzt.

»Und das ist ein Grund, ihn zu töten?«

Gestern wolltest du ihn noch umbringen.

Lea schwieg. Tränen liefen ihr übers Gesicht und vermischten sich mit der salzigen Prise, die der Wind vom Meer hochtrieb. Sie wischte sie nicht weg, sondern lief einfach weiter. »Vielleicht wäre es besser gewesen … wenn ich nichts von alldem jemals … herausgefunden hätte …«, schluchzte sie.

Und weiterhin in einer Illusion gelebt hättest? Enttäuscht sein heißt doch nur, dass du jetzt eine Täuschung weniger in deinem Leben …

»Erspar mir dieses psychologische Geschwätz!«

Camilla schwieg den Rest des Weges. Kurz nach sechs Uhr tauchte der erste zarte orangefarbene Streifen am Horizont auf. Die Vögel erwachten zum Leben und zwitscherten fröhlich. Von Minute zu Minute wurde es heller. Das Meer begann zu glitzern, und nun sah sie doch noch die Aussicht bei Tageslicht. Es war ein wunderbarer Anblick. Über den beeindruckenden Klippen und dem endlos scheinenden Ozean hingen weiße Wolken reglos am weiten Himmel und wurden nur von dem Kondensstreifen eines Flugzeugs durchbrochen, der sich langsam wieder auflöste.

Der Wind hatte sich mittlerweile gelegt, und nun roch Lea den Duft der Kiefern, der Oliven- und Mandel- und Johannisbrotbäume. Alle Eindrücke waren plötzlich ungemein intensiv. Nach dem Tunnel kam sie an einer Herde Wildziegen vorbei, die neben der Straße grasten, und sogar die konnte sie riechen. Und dann war auch der streunende Hund wieder da. Jetzt sah sie, dass er ein rotbraunes Fell hatte und mit der schmalen Schnauze ein bisschen wie ein Fuchs wirkte.

Als sich der Rand der Sonne über den Horizont schob, erreichte Lea das Hotel. Nur noch ein Tag hier – nicht länger, schwor sie sich. Denn falls Gernots Leiche gefunden wurde, man ihn identifizieren und dem Aurelia Bay Club Resort zuordnen konnte, würde die Kripo garantiert herausfinden, dass es einen zweiten Hotelgast gab, der ebenfalls aus Kufstein kam, nämlich Vicky Fuchs. Und bei einer Polizeibefragung würde sie Vickys Rolle nicht lange überzeugend spielen können. Vor allem dann nicht, wenn die Polizisten ihre Fingerabdrücke nahmen und mit den digitalen Abdrücken in Vickys Reisepass verglichen. Dann war die Kacke am Dampfen.

Ihr Magen krampfte sich plötzlich zusammen. Vielleicht war es doch kein so schlauer Plan gewesen, die Abreise um einen Tag zu verschieben. Aber jetzt war es zu spät. Die Entscheidung war gefallen, und sie musste eben mit den Konsequenzen fertigwerden.

In Begleitung des Hundes lief sie an der Security vorbei, auf das Hotelareal und durch die Anlage, die allmählich zum Leben erwachte. Die große Terrasse des Frühstücksrestaurants wurde gerade für die Frühaufsteher geöffnet, und es roch bereits nach warmen Tortillas und geröstetem Brot mit Olivenöl, Tomaten und Serranoschinken sowie frisch gebrühtem Kaffee. Der Hund folgte ihr.

Auf den Büfett-Tischen, die jetzt von zwei Mitarbeitern aufgebaut wurden, sah Lea unter anderem auch jede Menge mallorquinische Spezialitäten zum Frühstück, wie mit Pudding gefüllte Teigtaschen, Brötchen aus Kartoffelteig oder das typische mallorquinische Ensaïmada , eine süße, mit Puderzucker bestreute Hefeschnecke.

»Na, Lust auf etwas Leckeres?«, fragte sie die verfilzte Promenadenmischung.

Lea machte einen Stopp unter dem Palmendach der Fruchtsaftbar, stützte sich kurz auf den Knien ab und atmete tief durch. Dann zapfte sie sich ein Glas frisch gepressten Orangensaft und trank gierig, um den galligen Geschmack im Mund loszuwerden. Dem Hund warf sie ein Stück gebratenen Speck zu.

»Guten Morgen, Frau Fuchs«, sagte eine Dame hinter ihr.

Lea fuhr herum. Zum Glück war es nur Mercedes von der Rezeption, die soeben ein paar Reserviert-Schilder auf einige Tische stellte. »Belästigt Sie der Hund?«

»Nein, im Gegenteil – wir haben uns angefreundet. Er ist mir von draußen …«

»Ich weiß, Diego ist öfters hier. Er ist ein Streuner. Ich kümmere mich später um ihn.« Mercedes hielt inne und wandte sich ihr zu. »Wollten Sie nicht heute gleich in der Früh nach Palma fahren?«

»Eigentlich ja, aber ich …« Lea hielt inne und verwarf die spontane Ausrede, die ihr als Erstes in den Sinn gekommen war, dass sie verschlafen hatte. Unwahrscheinlich, wo sie offensichtlich gerade vom Joggen kam. Da sah sie das Plakat von Paculas Workshop direkt neben der Getränkebar, und ihr fiel etwas Besseres ein. »Ich verschiebe den Ausflug auf morgen«, sagte sie stattdessen. »Heute ist doch dieser Mentalcoaching-Kurs über Reichtum und Glück.« Der Hund rieb seinen Kopf an ihrem Bein.

»Richtig, daran wollten Sie ja teilnehmen. Er beginnt um elf.« Mercedes blickte auf die Uhr. »Da haben Sie noch genug Zeit.«

»Und wie lange dauert der Workshop?«

»Bis zum späten Nachmittag. Ist ziemlich intensiv, habe ich gehört.« Mercedes lächelte und warf dem Hund einen kurzen Blick zu. »Soll ich Sie anmelden?«

»Also …« Lea zögerte. Bis zum späten Nachmittag? So ein Mist! Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, sich einen ganzen Tag lang in einen Seminarraum zu hocken. Andererseits wäre das eine gute Gelegenheit zu erfahren, was Vicky und Gernot von Pacula gewollt hatten.

Jetzt zier dich nicht so! Nimm daran teil , drängte nun auch Camilla. Was kann dir Besseres passieren, als dass dich viele Menschen sehen, denen du erzählst, dass du für morgen einen Ausflug nach Palma planst?

Stimmt. Außerdem konnten hier sämtliche Teilnehmer »Vicky« noch einmal zu Gesicht bekommen, bevor sie spurlos verschwinden würde.

»Ja, bitte«, sagte sie schließlich. »Melden Sie mich an.« Dann warf sie Diego ein weiteres Stück Speck zu, das er in der Luft fing.