Um 10.30 Uhr stand Sabine neben Sneijder in Bianca Hagemanns Büro. Sabine trug ihre eigenen Jeans und das T-Shirt von gestern und Sneijder einen von Conrads dunkelgrauen Anzügen. An den Hüften warf der Stoff zwar ein paar Falten, aber sonst passte er ihm gar nicht so schlecht, wie sie fand.
Die Direktorin wartete draußen vor der Hotelanlage darauf, Marc und Miyu in Empfang zu nehmen, die jeden Moment kommen mussten.
Sneijders Workshopunterlagen stapelten sich auf dem Schreibtisch, darauf thronte sein Laptop. Die Videoverbindung zu Friedrich Drohmeier stand bereits seit fünf Minuten.
» … dann haben die Kollegen aus Meckenheim Paul Conrads Anwalt ins Kreuzverhör genommen« , drang Drohmeiers Stimme blechern aus den Lautsprechern des Laptops. Die Kamera seines Handys ließ erkennen, dass er gerade durch einen fensterlosen Gang des BKA-Gebäudes lief.
»Was hat das gebracht?«, fragte Sneijder.
» Nichts. Dr. Albrecht ist ein ganz ausgefuchster Anwalt« , sagte Drohmeier. » Der hat nicht nur die Aussage verweigert, sondern uns auch noch mit einer Klage gedroht.«
»Aber …!«
» Nichts da mit aber, Sneijder!« , unterbrach Drohmeier ihn. » Wir haben nichts gegen ihn in der Hand, und den Leuten vom BND kann ich ihn nicht zum Fraß vorwerfen, sonst ist der Medienrummel noch größer als ohnehin schon. Also habe ich die Juristen aus Meckenheim drauf angesetzt. Die werden ihn sicher kleinkriegen.«
»Haben wir denn noch so viel Zeit?«, fragte Sabine.
» Nein.« Drohmeier erreichte ein Büro, ging hinein, und Sabine erkannte, dass es eine der vielen EDV-Abteilungen des BKA mit einer Batterie Server im Hintergrund war. » Seit dem gestrigen Anschlag am Münchner Hauptbahnhof, der vermutlich nur ein weiterer Vorgeschmack auf das war, was da noch kommt, sind die Medien alarmiert und wittern bereits eine große Story.«
Sneijder massierte seine Nasenwurzel. »Sie müssen unbedingt dafür sorgen, dass …«
» Ja, ja, das weiß ich« , unterbrach Drohmeier ihn schroff. » Noch macht sich keine Panik in der Bevölkerung breit. Die offiziellen Nachfragen von den Medien speisen wir zurzeit noch mit Standardfloskeln ab, und gleichzeitig nehmen wir sämtliche Verschwörungstheorien in den sozialen Medien sofort vom Netz. Aber lange schaffen wir es nicht mehr, den Deckel draufzuhalten. Trotz Nachrichtensperre werden die ersten Reporter bald von dem Pamphlet erfahren und es als Bekennerschreiben der RAF deuten. Dann ist hier die Hölle los.«
»Das ist am Wochenende sowieso der Fall«, sagte Sneijder. »Wie weit sind die Kollegen von den anderen Diensten mit den Ermittlungen?«
» BKA, BND und Europol arbeiten Hand in Hand, um die Drahtzieher der Anschläge ausfindig zu machen.« Drohmeier bedeutete einem Mann, der an einem Monitor saß, mit einer Geste, sich noch kurz zu gedulden. » Insgesamt sind über siebenhundert Beamte mit den Ermittlungen betraut. Und wie weit sind Sie?«
»Wir haben eine dünne Spur.« Sneijder berichtete, dass außer Ramona bisher keine weiteren Komplizen Kontakt mit ihm aufgenommen hatten, woraufhin Drohmeier angespannt das Gesicht verzog. Das war nicht die Antwort, mit der er gerechnet hatte.
»In Kürze treffen Marc und Miyu hier ein, und außerdem beginnt Conrads Workshop in wenigen Minuten.« Sabine versuchte, zumindest ansatzweise optimistisch zu klingen. »Danach wissen wir vielleicht mehr.«
» Falls nicht, Sie von dieser Ramona nichts herausbekommen und sich die ganze Sache auf Mallorca als Sackgasse herausstellt, brechen Sie den Einsatz umgehend ab und kommen wieder zurück« , knurrte Drohmeier.
In diesem Moment klopfte es. »Wir müssen Schluss machen.« Sneijder unterbrach die Verbindung und klappte den Laptop gerade noch rechtzeitig zu, ehe die Tür geöffnet wurde.
Bianca Hagemann betrat in Begleitung von Marc und Miyu das Büro. Während Miyu, wie immer schwarz gekleidet, neben der Tür stehen blieb und nur ein kurzes »Hallo« von sich gab, ging Marc sofort zu Sabine, umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf den Mund.
Sneijder verzichtete auf jegliche Begrüßungsworte. »Wo sind unsere Koffer?«
»Die werden soeben in Ihre Apartments gebracht«, erklärte Hagemann. »Und diese beiden jungen Leute bringe ich im Angestelltentrakt des Bürogebäudes unter.« Sie ging zu ihrem Schreibtisch, öffnete eine Schublade und holte zwei Magnetkarten heraus. »Im Unterschied zu den Apartments haben die Büros und Unterkünfte der Angestellten elektronische Schlösser.« Sie gab jedem von ihnen eine Karte. »Zimmernummer dreihundertelf und dreihundertzwölf im dritten Stock.«
»Wie groß ist das Zimmer?«, fragte Miyu.
»Ungefähr fünfundzwanzig Quadratmeter mit WC, Bad, kleiner Küchenzeile, Wohn- und Schlafbereich«, antwortete Hagemann. »Ich habe Ihnen Räumlichkeiten reserviert, die eigentlich fürs Management vorgesehen sind. Die sind etwas größer – Sie werden sich wohlfüh…«
»Was heißt ungefähr ?«, fragte Miyu.
Hagemann sah sie verwirrt an.
»Wie groß ist es genau ?«, wollte Miyu wissen.
»Exakt vierundzwanzig Komma drei Quadratmeter«, sagte Sneijder rasch, bevor die Sache zu kompliziert wurde, »und Sie dürfen die Möbel in Ihrem Zimmer so umstellen, wie es Ihnen gefällt.«
»Ja, richtig, das dürfen Sie.« Hagemann lächelte Sneijder an und wandte sich dann wieder an die beiden. »Ihr Chef hat mir bereits ihre Kleidergrößen genannt. Eine passende Hoteluniform finden Sie in Ihren Zimmern, damit sehen Sie perfekt aus, und niemand wird den Unterschied merken.«
»Perfekt aussehen müssen nur die, die nichts können«, sagte Miyu.
»Ja, okay …« Hagemann lächelte kurz irritiert. »In Ihren Zimmern finden Sie ebenso einen Ausweis, mit dem Sie in jeden Bereich des Hotels gelangen können.«
»Müssen wir auch für das Hotel arbeiten?«, fragte Miyu.
»Offiziell schon, aber inoffiziell …«, sagte Hagemann, während sie zu Sneijder und Sabine blickte.
»… arbeiten wir nur an unseren Ermittlungen«, erklärte Sabine.
Miyu senkte den Kopf und starrte auf ihre Schuhspitzen. »Und wenn mich ein Hotelgast anspricht?«
» Godverdomde mest!« Anscheinend platzte Sneijder gleich der Kragen. »Dann sagen Sie, Sie haben keine Zeit für diesen Bullshit, und schicken die Person zur Rezeption.«
Hagemann kaute an der Unterlippe. »Also, ja, vielleicht formulieren Sie es nicht gerade so, aber die Rezeption ist immer eine gute Alternative.«
Miyu nickte. » Fuck you very much« , murmelte sie.
Hagemann schien irritiert, reagierte aber nicht auf die Aussage und strich sich nachdenklich mit dem Finger über die hochgezogene Augenbraue. »Sagen Sie, diese Anschläge in Deutschland, über die gerade …?«
»Dazu kann ich nichts sagen«, unterbrach Sneijder sie. Er blickte auf seine Armbanduhr, eine Swatch in den Farben der niederländischen Flagge, dann sah er zu Marc. »Was hast du über Ramonas Reisepässe herausgefunden?«
»Nichts – auch nichts über eine Consuela Javier. Beides sind Fake-Identitäten. Es gibt nur fünf Personen dieses Namens, die optisch aber rein gar nichts mit dieser Frau zu tun haben … Sie ist ein Phantom.«
Sneijder zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen und drückte mit den Daumen auf einen Punkt auf seinem Handrücken. »Wer hat das Apartment Ojo Gótico für Ramona Vilar gebucht?«, fragte er die Direktorin. »War das Pacula?«
Bianca Hagemann ging zu ihrem Schreibtisch, beugte sich im Stehen zu ihrer Tastatur hinunter und tippte darauf herum. »Nein, die Buchung kam über ein Reisebüro in Madrid herein.« Sie nannte einen langen, komplizierten Namen, Anschrift und Telefonnummer der Firma.
»Vermutlich bar bezahlt«, dachte Sneijder laut nach.
»Von denen werden wir mit ziemlicher Sicherheit keine Auskünfte erhalten«, sagte Marc, »aber versuchen sollten wir es trotzdem. Wie war der Name nochmal?« Er zog sein Notebook aus der Umhängetasche und wollte es starten.
»Ich hab mir alles gemerkt«, unterbrach Miyu ihn.
Hagemann warf Sneijder einen fragenden Blick zu.
»Asperger-Syndrom«, sagte er nur.
Hagemann nickte verständnisvoll, dann wurde ihr Blick ernst. »Meine Mutter hatte Asperger. Wenn Sie möchten, lasse ich alle Gemälde, Blumenvasen, Decken und Kissen aus Ihrem Zimmer entfernen.«
Miyu nickte dankbar.
»Okay, aber wir wollen es jetzt nicht übertreiben, sondern uns aufs Wesentliche konzentrieren«, murmelte Sneijder. »Haben Ron Pacula oder ein Mann namens Paul Conrad für irgendjemanden in diesem Hotel – abgesehen von sich selbst und Anna Bischoff – ein Apartment gebucht? C-O-N-R-A-D«, buchstabierte er den Namen.
»Einen Moment …« Hagemann tippte auf der Tastatur herum. »Nein … nein … nein … Momentchen noch … nein – alle aktuellen Reservierungen gingen entweder über Reisebüros, Reiseveranstalter oder andere Privatpersonen.«
Sabine sah an Sneijders Blick, dass er genau das vermutet hatte. »Lassen Sie uns jetzt ein paar Minuten allein«, sagte er zu Hagemann.
»Aber Ihr Workshop beginnt in …«
»Ja, ich weiß!«
Sie schaltete den Monitor aus und ging zur Tür. Jede andere Person hätte es vermutlich längst bereut, mit Sneijder zusammenarbeiten und ihm und seinem Team all diese Sonderwünsche erfüllen zu müssen, doch die Direktorin lächelte ihn nur kurz an, bevor sie das Büro verließ, als wollte sie ihm Mut machen. »Viel Erfolg bei Ihrem Workshop, und Ihnen allen wünsche ich gutes Gelingen bei den Ermittlungen.«
Nachdem sie draußen war, zog Sneijder einen Joint hervor, rollte ihn zwischen den Fingern und roch daran.
»Die lässt uns hier so einfach allein in ihrem Büro zurück?«, fragte Marc verwundert.
»Gestern hat sie mich gefragt, ob Sneijder verheiratet ist«, sagte Sabine, was aus ihrer Sicht alles erklärte.
»Verstehe …« Marc räusperte sich. »Mich hat sie auf dem Weg zur Lobby gefragt, ob er einen festen Freund hat.«
»Wieso hat sie das?«, fragte Miyu.
»Könnten wir uns jetzt ausnahmsweise mal auf den Fall konzentrieren?«, fuhr Sneijder dazwischen und sah auf die Uhr. »Wir haben noch zehn Minuten Zeit, dann muss ich zu diesem vervloekten Kurs.« Er holte tief Luft. »Wir müssen uns abstimmen, was wir mit Ramona machen und wie wir bei ihr vorgehen.«
»Welche Alternativen haben wir?«, fragte Miyu.
»Alle«, antwortete Sneijder.
»Deshalb alle, weil dir die Konsequenzen egal sind?«, fragte Marc vorsichtig nach.
»Ja, erstens das«, antwortete Sneijder, »aber darüber hinaus steht Drohmeier zu hundert Prozent hinter uns und deckt jede unserer Vorgehensweisen.«
»Okay, also dann würde ich Ramona durch die mallorquinische Polizei wegen Terrorverdachts festnehmen und ohne Anwalt verhören lassen«, schlug Marc vor.
Miyu schüttelte den Kopf. »Ich habe mich seit gestern in das Thema RAF eingelesen und bin davon überzeugt, dass Ramona – wenn sie nur ein bisschen so fanatisch ist wie ihre Vorgänger – nichts sagen und in den Hungerstreik treten würde, bis sie einen Anwalt bekommt.«
Sneijder nickte. »Und dann würden wir diesen sowieso schon hauchdünnen Draht zu Ruth-Allegra Francke ganz verlieren. Was schlagen Sie stattdessen vor?«
Miyu strich sich eine lange schwarze Haarsträhne aus der Stirn. »Wir sollten uns Ramona schnappen und in einem der Apartments selbst verhören – ohne Polizei, ohne Anwalt, ohne Zeugen.«
Sneijder verzog unglücklich das Gesicht. »Die Idee hatte ich auch schon, aber ich glaube, dass wir aus der nicht einmal mit raffinierten psychologischen Mitteln etwas herauskriegen. Die wird sofort die Rollläden dicht machen.«
»Die Rollläden …?«, fragte Miyu.
»Sich jeglicher Befragung verweigern und schweigen«, erklärte Sabine.
»Deshalb würde ich vorschlagen«, überlegte Sneijder, während er sich auf den Schreibtisch setzte und weiter den Joint zwischen den Fingern hin und her rollte, »dass wir bei dem Verhör gewaltig nachhelfen.«
Sabine schluckte. »Und das bedeutete konkret was ?«
Sneijder hob die Schultern. »Dass wir sie nachts mit einem Boot aufs offene Meer schaffen und dort zum Reden bringen.«
»Etwa mit einem Anker am Bein?«, entfuhr es Sabine. »Sind Sie verrückt? Das geht nicht!«
Sneijder blieb gelassen, strich sich über die Koteletten und dachte in Ruhe nach. »Stimmt, Sie haben recht. Hier im Ausland fehlen uns die Möglichkeiten, das unbeobachtet durchzuziehen.«
Sabine stieß die Luft aus. So hatte sie das zwar nicht gemeint, aber zumindest war Sneijder selbst draufgekommen, dass das eine ganz beschissene Idee war. »Außerdem weiß Ramona höchstwahrscheinlich ohnehin zu wenig über Ruth-Allegra Francke«, gab sie zu bedenken.
»Ja, vermutlich.« Sneijder erhob sich vom Schreibtisch, klemmte sich den Joint hinters Ohr und knöpfte das Sakko zu. »Bleibt also nur noch eine Möglichkeit übrig.«
Sabine nahm seinen Laptop und drückte ihm die Workshopunterlagen in die Hand. »Sie müssen die Rolle des Mentalcoachs weiterspielen und abwarten, was passiert.« Während zu Hause weiter Menschen sterben , fügte sie in Gedanken hinzu.
Sneijder nickte. »Nemez, Sie nehmen zwar am Workshop teil, aber sobald Ramona den Kurs verlässt, observieren Sie sie. Ich möchte wissen, was sie tut, wohin sie geht und mit wem sie sich trifft.«
»Aber das könnten doch wir übernehmen«, schlug Marc vor.
»Nee, nee, nee! Für dich und Miyu habe ich zwei andere Aufgaben«, sagte Sneijder. »Organisiert euch von Hagemann eine Liste mit allen Angestellten sowie allen aktuellen Hotelgästen und jenen, die in den nächsten Tagen noch kommen werden, und nehmt jeden Einzelnen unter die Lupe.«
Marc nickte nachdenklich. »Wird dauern … sind fast nur internationale Gäste und ein paar Hundert Apartments.«
»Exakt dreihundertfünfzig Unterkünfte für maximal siebenhundert Gäste«, sagte Miyu. »Und vermutlich ein Drittel so viel Personal im großen Hotelgebäude. Das macht neunhundert…«
»Ja, ich kann rechnen!«
Miyu schwieg. Anscheinend hatte sie sich bereits während der Herfahrt einen Plan des Hotels im Internet angesehen und alle Informationen dazu in ihrem Hirn abgespeichert. »Und die zweite Aufgabe?«, fragte sie schließlich.
Sneijder ging zur Tür. »Findet heraus«, sagte er, bevor er nach draußen verschwand, »in welche Länder und Hotels Paul Conrad in seiner Identität als Ron D. Pacula in den letzten Jahren gereist ist.«
Sabine folgte ihm nach draußen und senkte die Stimme. »Sie denken, dass er das schon öfter getan hat?«
Sneijder nickte. »Was immer die hier abziehen – es wirkt für mich nicht so, als passierte das alles zum ersten Mal.«