Lea lehnte im Schatten einer Palme an der Balustrade und achtete darauf, dass die Sonne sie nicht erwischte.
Das war die letzte Pause vor dem Ende des Workshops. Sie hatte bereits mit einigen anderen Teilnehmerinnen geplaudert und ein paarmal nebenbei erwähnt, dass sie für morgen eine Inselrundfahrt plante. Nach Camillas Warnung, es mit dem Smalltalk nicht zu übertreiben, damit es nicht zu gewollt wirkte, hatte sie sich wieder zurückgezogen.
Das kam ihr sowieso entgegen, da sie im Moment keinerlei Bedürfnis verspürte, mit jemandem zu reden. Stattdessen beobachtete sie die anderen Teilnehmer aus der Distanz. Es waren lauter stinkreiche Menschen, und obwohl sie selbst eine gut laufende Firma hatte, war sie anscheinend unter allen Anwesenden die normalste. Hier hatten sich Millionärinnen aus den Bereichen Industrie, Architektur, Modedesign oder der Finanzbranche versammelt, sowie eine Schauspielerin aus München, eine Opernsängerin aus Dresden, eine junge, erfolgreiche Influencerin aus Berlin, ein Regisseur von Werbefilmen, ein junger Banker, die Tochter eines EU-Politikers und noch ein paar andere Figuren aus der High Society.
Dass die rebellische Vicky ausgerechnet in so einem Hotel unter all den schwerreichen Spießern ihren Urlaub hatte verbringen wollen, war schon ziemlich seltsam. Und Gernot passte hier genauso wenig hinein. Wieder kam ihr in den Sinn, was er heute Morgen gesagt hatte. Wir sind aus einem anderen Grund hier . Aber aus welchem? Der Workshop konnte es jedenfalls nicht gewesen sein, denn Paculas Assistentin, diese rassige Mallorquinerin, war während der Vorstellungsrunde die Teilnehmerliste durchgegangen, und Gernot war nicht angemeldet gewesen.
Die einzig wirklich sympathische Frau unter all den Teilnehmern war die ältere rothaarige Schweizerin mit der auffälligen Rubinkette und den Kreislaufproblemen gewesen, doch die hatte sich vor der Pause verabschiedet.
»Vielleicht sollte ich auch verschwinden«, murmelte sie.
Und den Schluss verpassen? Wo du bis jetzt so fleißig warst und stundenlang Vickys Rolle gespielt hast?
»Es ist ungemein anstrengend, jemand anderer zu sein«, murmelte sie mit halb geschlossenen Lippen und zog sich dabei die Schirmkappe tiefer ins Gesicht. »Außerdem sollte ich im Apartment wieder einmal die Überwachungskameras zu Hause checken.«
Mach dich nicht verrückt! Wie oft denn noch? Das hast du bereits vor dem Workshop und ein weiteres Mal in der Mittagspause gemacht. Das Wetter in Kufstein ist sonnig, kein Regen, und bis jetzt hat kein Mensch Vickys Leiche entdeckt. Alles ist gut.
»Ja, bis jetzt …«
Schau doch mal, mit wem Pacula sich gerade unterhält.
Lea blickte zu dem Mentalcoach. Neben ihm stand die junge Frau mit den langen braunen Haaren, die gestern im Flieger nach Mallorca neben Pacula gesessen, danach neben ihm an der Hotelrezeption gestanden und vorhin so getan hatte, als wäre sie im falschen Kurs.
Die beiden kennen sich doch.
»Und? Vielleicht ist sie seine Geliebte.«
Blödsinn! Wer will schon mit diesem Kotzbrocken ein Verhältnis haben?
»Dann ist es vielleicht seine geheime Assistentin, die im Hintergrund Dinge checkt.«
Möglich.
Pacula drückte seine Kippe im Aschenbecher aus und ging zurück in den Seminarraum. Die braunhaarige Frau, die zuvor Anna auf ihr Namenskärtchen geschrieben hatte, folgte ihm ebenso wie der Rest der Gruppe. Lea ging als Letzte hinein und setzte sich wieder auf ihren Platz.
»Kommen wir zur Abschlussübung, an der diesmal auch Miss Hemingway teilnehmen wird.« Pacula deutete zu Anna, die Käthes Platz eingenommen hatte. »Die Aufgabe heißt Brief an dich selbst , und dazu brauchen Sie nur einen Stift und ein Blatt Papier.«
Jeder riss einen Bogen von dem Notizblock, während Pacula um seinen Tisch herumging. »Niemand wird das, was Sie jetzt schreiben, später vorlesen. Es ist absolut privat, nur für Sie gedacht, und niemand außer Ihnen wird es zu Gesicht bekommen. Ziehen Sie also ein ehrliches Resümee und schreiben Sie einen offenen und persönlichen Brief an sich selbst.«
Lea knabberte an ihrem Stift und dachte nach. »Und was sollen wir schreiben?«
Am anderen Ende des Tisches stützte sich Pacula auf die Arme und sah sie eindringlich an. »Sie können sich Ihre Sorgen und Ängste von der Seele schreiben, aber auch Ihre Wünsche und Erkenntnisse zu Papier bringen, um sich später mal daran zu erinnern, oder sich einen motivierenden und anspornenden Brief schreiben. Manche verfassen eine Abrechnung mit sich selbst, andere einen Liebesbrief – das bleibt Ihnen überlassen.«
Einige hörten Pacula schon gar nicht mehr zu, sondern hatten bereits zu schreiben begonnen. Andere starrten noch in die Luft und dachten nach.
Lea nahm ihren Stift und schrieb: Liebe Vicky, …
Schreib ja nichts , warnte Camilla sie, woraufhin sich Lea die Hand vor den Mund hielt und so tat, als grübelte sie nach. »Halt doch bitte einfach mal nur für fünf Minuten die Klappe und kritisier nicht immer alles, was ich tue«, zischte sie leise.
Tu es nicht! Du musst dir nichts von der Seele schreiben.
»Vielleicht geht es mir danach besser.«
Rede stattdessen mit mir!
»Sei still!«
Leas Nachbarin warf ihr einen seltsamen Blick zu.
»Sorry«, sagte Lea rasch, dann starrte sie auf das weiße Blatt Papier. Camilla schwieg tatsächlich, Lea genoss die augenblickliche Ruhe in ihrem Kopf und ließ langsam die angespannten Schultern sinken.
Sie setzte den Stift an und schrieb weiter. … nach deinem Tod hatte ich tatsächlich ein schlechtes Gewissen. Habe mir enorme Vorwürfe gemacht und mir selbst die Schuld an allem gegeben. Konnte kaum schlafen, hatte Bauchschmerzen und habe mir immer wieder vorgehalten, dass ICH es war, wegen der du gestürzt bist. War es richtig, was ich danach getan habe? Dass ich so egoistisch nur an mich, meine Firma, meine Karriere, meinen Ruf und meine Zukunft gedacht habe? Ich weiß, dir ist es völlig egal, wo du liegst, aber für mich macht es einen enormen Unterschied, ob dich jemand findet oder nicht. Ich hatte innig gehofft, dass du das verstehen würdest.
Sie machte eine kurze Pause und spürte, wie gut es war, das alles einmal aufzuschreiben und loszuwerden. Plötzlich kam auch der ganze Frust in ihr hoch, der sie seit heute Morgen begleitete und vieles in ihr verändert hatte. Automatisch schrieb sie weiter, ließ hastig den Stift übers Papier gleiten.
Aber dass ich heute erfahren habe, was du die letzten Jahre getan hast, dass du mein Vertrauen missbraucht, mich ausgenutzt und hintergangen hast, dass du noch dazu meinen Lebensgefährten manipuliert und für deine Pläne benutzt hast und dass ihr mir jahrelang etwas vorgespielt habt – das verändert alles für mich. Ich bin so dankbar, das zufällig herausgefunden zu haben. Mein Gott, ansonsten hätte sich mein schlechtes Gewissen vermutlich jahrelang durch meine Eingeweide gefressen, bis ich elend daran zugrunde gegangen wäre.
Jetzt stört es mich auch nicht mehr, dass ich nicht gleich zur Polizei gegangen bin. Denn dann wäre nicht nur meine Zukunft zerstört gewesen, nein, zudem hätte ich das alles, dumm und naiv wie ich bin, niemals erfahren!
Seitdem ich dahintergekommen bin, warum du nach Mallorca fliegen wolltest, bereue ich nichts mehr. Das Schicksal hat es so gewollt.
Jedes einzelne Wort tat ihr gut – und je mehr sie schrieb, desto befreiter fühlte sie sich.
Und so werde ich jedes Mal, wenn ich bei offenen Glastüren in der Sonne meines neuen Wintergartens sitze und arbeite, wieder an dich und deinen geliebten Seelenpartner denken, diesen rückgratlosen miesen Arsch. Er ist dir nun gefolgt – und auch das bereue ich keine Sekunde. Ich habe mich nicht nur von einer Illusion befreit, sondern auch von euch beiden, die ihr ein teuflisches Spiel mit mir getrieben habt.
Deine Lea
Lea legte den Stift beiseite. Ja, das war mal ein Mentalcoaching-Text, der es in sich hatte. Sie fühlte sich wie neugeboren, war beim Schreiben aber so tief versunken und konzentriert gewesen, dass sie erst jetzt bemerkte, dass alle anderen Teilnehmer ihre Briefe bereits zusammenfalteten, in ein weißes Kuvert steckten und zuklebten.
Auch vor Lea lag ein Kuvert. Pacula musste es ihr während ihrer Schreibphase auf den Tisch gelegt haben. Mechanisch faltete sie den Brief zusammen, schob ihn in den Umschlag und klebte ihn zu. Erleichtert lächelte sie für einen Moment. Das hatte richtig gutgetan. Vielleicht hätte sie das schon viel früher machen und den Brief anschließend am Strand verbrennen sollen. Als kleines Ritual zum Abschied von ihren Gewissensbissen.
Pacula ging um den Tisch herum. »Und jetzt schreiben Sie noch Ihren Namen auf das Kuvert.«
Sie schrieb Vicky Fuchs auf den Umschlag.
»Gut gemacht.« Pacula hielt hinter ihr, beugte sich nach vorn und sammelte ihren Brief und den ihrer Nachbarin ein.
»Nein!«, rief sie und wollte sich den Brief krallen, aber Pacula ging bereits weiter und sammelte die anderen Briefe ein. »Den will ich zurückhaben!«, rief sie.
»Sie müssen sich davon trennen«, sagte Pacula seelenruhig.
»Aber Sie sagten doch, dass …«
»… dass niemand außer Ihnen den Brief zu Gesicht bekommen wird. Ja, das ist richtig.« Pacula machte die Runde fertig, bis er alle Briefe in der Hand hielt.
Verdammter Mist, siehst du jetzt, was du angerichtet hast? Hol dir den Brief zurück , dröhnte es in Leas Kopf.
»Aber was machen Sie damit?«, fragte Lea laut, während ihr heiß wurde und ihr der Angstschweiß auf die Stirn trat.
»Ich? Gar nichts. Ich hebe die Briefe auf.« Pacula lächelte. »Sie brauchen Abstand zu dem, was Sie gerade geschrieben haben. Und zu einem Zeitpunkt, wenn Sie diesen Brief schon längst vergessen haben – in einem halben Jahr, Ende November, wenn die Weihnachtszeit beginnt –, werden Sie ihn plötzlich in Ihrem Briefkasten finden.«
»Oh, wie cool«, rief eine junge Frau.
»Tolle Idee«, sagte eine andere.
War das zu fassen? Leas Herz begann zu rasen. »Aber Sie haben doch gar nicht unsere …«
»Adressen?« Pacula setzte sich ans Ende des Tisches. »Doch, die habe ich von der Anmeldeliste der Rezeption.« Aus seiner weißen Mappe zog er nun einen Bogen, auf dem sich bereits beschriftete Etiketten befanden. Diese klebte er auf die Briefe. »Das ist das Besondere an meinem Workshop. Betrachten Sie es als kleinen Überraschungsbonus.«
Was für eine schöne Überraschung. Ganz toll gemacht, Lea! Hauptsache, ICH musste die Schnauze halten!
Lea ging nicht darauf ein, sondern beobachtete Pacula, wie er die Kuverts adressierte. Sie war die einzige Teilnehmerin, die sich aufregte, alle anderen waren einverstanden. Einige fanden die Idee sogar großartig und betonten, wie sehr sie sich schon darauf freuten, dass ihr Brief wie eine Zeitkapsel erst nach einem halben Jahr wieder auftauchen würde. Nun wuchs in Leas Kehle ein dicker Kloß heran.
Sie sah durch die Glasfront, wie sich zwei Damen vom Hotelservice der Terrasse näherten. Verdammt, auch das noch. Die anderen Teilnehmer verabschiedeten sich inzwischen und gingen mit ihren Unterlagen zum Ausgang.
Hol dir den Brief zurück, verdammt nochmal. Und zwar jetzt. Hörst du? Jetzt!
»Ja, sicher«, knurrte Lea. Die Hotelangestellten betraten den Seminarraum und begannen wortlos, Getränke und Geschirr abzuräumen.
Lea stand auf und ging zu Pacula, der die Kuverts gerade zu einem Stapel schob und zwei Gummiringe darüberzog. Sie baute sich vor ihm auf. »Ich will meinen Brief zurückhaben!«
Pacula lächelte sie mit einem Gesichtsausdruck an, der sie an die Kälte einer Leichenkammer erinnerte. »Das mag sein, aber Sie haben es sicher schon bemerkt, ich kann nicht jeden auf dieser Welt glücklich machen – ich bin schließlich kein Nutellaglas.« Er erhob sich und stopfte das dicke Bündel Briefe in die große Innentasche seines Sakkos.
Lea wollte gerade noch etwas sagen, da schob sich der junge Banker im Armani-Anzug an ihr vorbei. »Mitgefangen, mitgehangen«, murmelte er mit einem schadenfrohen Lächeln.