62. Kapitel

Lea hatte sich direkt nach dem Ende des Workshops zu der großen Terrasse vor dem Hotelgebäude begeben, dort einen Kaffee an der Bar getrunken, ihre Seminarunterlagen durchgeblättert und die Leute beobachtet, die an ihr vorbeiliefen, während Camilla ihre Betrachtungen mit ätzenden Bemerkungen kommentierte.

Später am Abend wurde es etwas kühler, und lästige Mückenschwärme schwirrten über die Wiese. Lea ging direkt von der Terrasse aus zum Speiseraum, wo es heute einen Arabischen Abend gab, brachte trotz ihrer Appetitlosigkeit ihr Abendessen hinter sich und schlenderte nun mit ihren Unterlagen unter dem Arm zu ihrem Apartment zurück. Um diese Uhrzeit würde sie endlich im Meer schwimmen können, ohne Gefahr zu laufen, sich einen Sonnenbrand zu holen – vermutlich die einzige und letzte Möglichkeit in diesem Urlaub, doch noch ins Wasser zu gehen.

Was hast du jetzt vor? , fragte Camilla.

»Zuerst einmal die Videokameras zu Hause checken, und danach im Meer schwimmen gehen.«

Vielleicht noch Cocktails schlürfen, eine Heilmassage oder ein Wellnessbad im Whirlpool , schlug Camilla zynisch vor. Hast du nicht etwas Wichtigeres zu tun?

»Ja, ich weiß«, knurrte Lea. Die Sache lag ihr schon die ganze Zeit wie ein Stein im Magen.

Du musst unbedingt diesen dämlichen Brief zurückholen.

»Ja, ich weiß.«

Einen Scheißdreck weißt du! Ich glaube nicht, dass du dir der Konsequenzen bewusst bist, Fräulein. In diesem Moment hörte sich Camilla exakt wie ihr Vater an, dem als jungem Alleinerziehenden manchmal die Nerven durchgegangen waren.

»Doch, bin ich mir«, widersprach sie.

Der Brief ist an Vicky Fuchs in Kufstein adressiert! Aber in einem halben Jahr wird es die spurlos verschwundene und höchstwahrscheinlich für tot erklärte liebe Vicky nicht mehr geben. Hallo? Dann wird der Brief entweder vom Besitzer des Miethauses oder von dem neuen Mieter geöffnet werden. Oder jemand gibt ihn gleich der Polizei. Oder er wird als unzustellbar an Pacula zurückgeschickt, und spätestens der wird ihn dann vermutlich öffnen, lesen und alles herausfinden.

»Oder der Brief wird einfach weggeworfen oder an Vickys nächste Verwandte übergeben, nämlich mich«, sagte Lea nicht gerade überzeugt.

Und wenn nicht? Auf diesen Zufall willst du dich verlassen?

»Herrgott, was soll ich denn tun?«, rief sie nun. »Pacula erschlagen?«

Schrei nicht so rum!

»Was soll ich denn jetzt tun?«, wiederholte sie leise zischend.

Klau Paculas Sakko und nimm deinen Brief raus .

Eine Dame im Golfcart fuhr an ihr vorbei, und Lea wartete, bis sie wieder allein auf dem Weg war. »Gut, ich werde in Paculas Apartment einbrechen. Aber zuerst muss ich herausfinden, wo es überhaupt ist.«

Ist ja nicht so schwer. Dort drüben ist er übrigens. Auf zehn Uhr.

Lea sah hin. Tatsächlich … Pacula marschierte zügig zwischen den Apartments hindurch, telefonierend und wie immer im schicken Anzug. Er hielt auf die Einheiten mit den griechischen Namen zu.

Lea blieb unter einer Palme stehen und beobachtete ihn. Die Sonne hing inzwischen nur noch eine halbe Handbreit über den Bergspitzen und tauchte den wolkenlosen Himmel in ein orange-gelbes Licht. Ein Schwarm Vögel zog kreischend über die Hotelanlage.

Schließlich verschwand Pacula in einem der Apartments. Lea merkte sich die Position. In der Hotelmappe in ihrer eigenen Unterkunft hatte sie zwar einen Lageplan des gesamten Areals gefunden, ihn jedoch bis jetzt nur einmal flüchtig überflogen. »Weißt du , welches Apartment das ist?«

Schaut nach Apollon aus, wenn ich mich recht erinnere.

»Apollon , ja, könnte sein …«, murmelte Lea. »Liegt gleich neben dem Haus Delphi

Hauen wir ab, bevor uns jemand hier neugierig herumstehen sieht!

Lea ging in ihr eigenes Apartment, warf ihre Workshopunterlagen auf die Kommode, schlüpfte aus den Kleidern, ließ die Wanne des Whirlpools mit heißem Wasser volllaufen und startete in der Zwischenzeit den Computer.

Wolltest du nicht im Meer schwimmen gehen?

»Mach ich später.«

Und vorher nimmst du ein Bad?

»He, ich bin total verspannt.« Sie stand in der Unterwäsche vor dem Schreibtisch, loggte sich in ihr Securitysystem ein und checkte die Überwachungskameras zu Hause. Dort war es bereits dunkler als hier, Kufstein war schließlich von hohen Bergen umgeben. Doch ihre Kameras hatten einen Restlichtverstärker, und so sah sie sämtliche Details gestochen scharf. Der Aushub für das Wintergartenfundament war immer noch unberührt. Erleichtert löschte sie den Browserverlauf und schaltete den Computer wieder aus.

Hier war jemand.

Lea sah sich um. »Ja, die Putzfrau. Hat die Handtücher gewechselt, die Minibar aufgefüllt und …«

… deinen Koffer zur Seite gestellt?

Lea sah zu Vickys Koffer, der nicht mehr exakt an jener Stelle stand, wo er noch heute früh gestanden hatte. Sie ging näher, schaltete das Deckenlicht ein und sah auf dem Teppichboden noch die vorherigen Abdrücke des Koffers. Er musste erst vor Kurzem zur Seite geschoben worden sein. »Vermutlich hat die Putzfrau den Teppich gesaugt.«

Siehst du die Fussel? Der Teppich wurde nicht gesaugt.

Stimmt. »Aber warum sollte jemand den Koffer …?« Sie verstummte, da sie die Antwort auf ihre Frage bereits kannte. An der Stelle, wo der Koffer gestanden hatte, befand sich der Wandsafe. Jemand musste ihn zur Seite geschoben haben, um besser an den Safe zu gelangen.

Lea tippte die Kombination ein, öffnete den Tresor und überprüfte den Inhalt. »Ist alles noch da.«

Liegt aber jetzt an einer anderen Stelle.

»Was meinst du?«

Du hast doch Vickys Reisepass auf die Brieftasche gelegt.

»Richtig …« Und jetzt lag der Reisepass neben der Brieftasche. »Shit – jemand war hier.«

Sag ich doch.

Leas Herzschlag beschleunigte. Zum Glück trug sie ihren eigenen Reisepass und ihr eigenes Handy stets in der Bauchtasche bei sich – sicherheitshalber, falls sie plötzlich unverhofft von hier abhauen musste. Und außerdem wären zwei verschiedenen Pässe im Safe eines Einzelapartments verdächtig gewesen.

Nun marschierte Lea durchs gesamte Apartment und überprüfte alles. Manche Dinge lagen verschoben und ein klein wenig anders da als vorher, doch nichts fehlte.

Anscheinend schnüffelt jemand hinter dir her.

»Aber wer sollte das sein?«

Camilla kannte die Antwort darauf genauso wenig wie sie selbst – aber beide wussten, dass sie sowieso bald von hier verschwinden würden. Also beschloss Lea, sich nicht komplett verrückt machen zu lassen, mixte sich einen Drink, stieg in den Whirlpool, entspannte sich im warmen Wasser, ließ die Zehen kreisen und versuchte zur Abwechslung mal an nichts zu denken.

Danach ging sie eine halbe Stunde im Meer schwimmen, kam zurück, duschte und setzte sich im Bademantel mit einer Tasse Kaffee auf ihre Terrasse. Nun wurde es rasch dunkel, die Nachtfeuchtigkeit kroch über die Wiese, und die Bodenlaternen, die die Wege der Anlage beleuchteten, gingen an.

Es wird Zeit, dass du dich um Paculas Apartment kümmerst.

Sie sagte nichts, nickte nur nachdenklich. Im Schutz der Dunkelheit würde sie zum Haus Apollon schleichen und, wenn es keiner sah, die Glühlampen der Wegbeleuchtung mit einem Taschentuch aus der Fassung drehen. Falls Pacula zu Hause war, hoffte sie, dass er sein Apartment nochmal verlassen würde – notfalls müsste sie ihn mit einem gefakten Anruf zur Rezeption holen –, und dann einbrechen. Zwar war sie schon etwas aus der Übung, aber als Sicherheitsberaterin würde sie das Schloss an der Eingangstür bald offen haben. Dazu musste sie nur einen der dünnen Wandnägel, an denen die Gemälde in ihrem Wohnzimmer befestigt waren, zurechtbiegen. Zusätzlich brauchte sie dann noch eine aufgebogene Büroklammer oder alternativ ein Stück von dem Draht, mit dem die Gärtner der Anlage die Rosenstöcke zusammengebunden hatten.

»Dann mal los.« Sie schlürfte den letzten Schluck aus der Kaffeetasse, erhob sich und wollte gerade durch die Glasschiebetür in ihr Apartment gehen, um in dunkle Kleidung zu schlüpfen, als plötzlich zwischen den Apartments, die weiter unten beim Strand lagen, ein paar Gäste aufgeregt nach oben zum Haupthaus liefen.

»Eine Leiche, eine Leiche«, rief jemand auf Französisch.

Lea hielt inne. Was zum Teufel? Hatte sie sich gerade verhört? Ihr Herz begann zu rasen.

»Sie haben eine Leiche gefunden«, rief jetzt eine andere Urlauberin auf Englisch.

Im Licht der Laternen sah Lea, wie einige Gäste herumliefen und aufgeregt telefonierten. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer.

Schöne Scheiße!

»Du sagst es …« Lea merkte, wie ihre Stimme rau wurde.

Jetzt war es also so weit. Jemand hatte Gernots Leiche entdeckt.