Sneijder und Sabine standen etwa fünfzig Meter vom Apartment Sunset entfernt auf der Anhöhe. Mittlerweile war die Sonne ganz hinter den Bergen verschwunden, am Horizont zeigte sich nur noch ein schmaler Silberstreifen, das Meer vor ihnen glitzerte dunkelblau. Der Garten und die Wege rund um das Apartment waren jedoch durch Laternen und Autoscheinwerfer hell erleuchtet.
Die Kripo hatte ein Absperrband um das Grundstück gezogen, das nun zum Tatort geworden war. Und das bedeutete, dass die Polizei bereits wusste, dass es sich um ein Verbrechen handelte. Trotz des Vorfalls drangen aus der Ferne die dumpf hämmernden Bässe der Stranddiskothek über die Wiese zu ihnen. Hin und wieder erhellte das zerhackte, stroboskopartige Laserlicht den Himmel über dem Meer. Beide Ereignisse passten so gar nicht zusammen. Dort feierten die Gäste Party, und hier scharten sich Dutzende Schaulustige vor der Absperrung und reckten die Hälse. Und wieder zeigte sich, dachte Sneijder, dass es egal war, ob es sich um eine einfache Frühstückspension oder um einen Fünfsterne-Luxustempel handelte – die Menschen waren alle gleich, Arme wie Reiche. Wenn es eine Tragödie gab, standen sie in der ersten Reihe, um ja nichts zu verpassen.
Sneijder hielt sich bewusst weiter hinten, da die Szene von der kleinen Anhöhe aus besser zu überblicken war. Kripoermittler und Leute von der Spurensicherung mit Overalls, Schuhüberziehern, Handschuhen und Haarnetzen trugen einen Koffer nach dem anderen in das Apartment. Alle Zimmer waren hell erleuchtet, und hinter den Vorhängen waren Schatten zu sehen, die ständig hin und her liefen.
Draußen vor der Eingangstür wurde gerade eine Frau vom Hotelpersonal, die eine Housekeeping-Uniform trug, von einem Mann befragt. Anscheinend hatte sie die Tote gefunden. Der Zeitpunkt würde passen, denn vor etwa einer Stunde waren die Betten für die Nacht hergerichtet worden. Aber warum zum Teufel war Käthe überhaupt gefunden worden?
Sneijder zog sein Handy heraus, fotografierte den Eingangsbereich und zoomte das Bild näher heran.
Sabine beugte sich zu ihm. »Wonach suchen Sie?«
Sneijder gab keine Antwort. Etwa einen Meter neben der Eingangstür lag ein kleines rotes Schild im Gras. Er konnte zwar nicht genau erkennen, was darauf stand, wusste aber, dass es das Do-not-disturb- Schild sein musste. Und zwar jenes, das Ramona an die Tür gehängt hatte. Offenbar hatte es der Wind von der Klinke geweht, und das Zimmermädchen hatte das Apartment für die Nacht herrichten wollen. Er löschte das Foto und ließ die Hand sinken.
»Sieht so aus, als wäre da drin jemand ermordet worden«, vermutete Sabine.
Sneijder nickte. »Käthe van Zwieten.«
»Sie wissen das schon?«
Er nickte wiederum.
»Sie sind verdächtig ruhig«, stellte Sabine fest.
»Was sollte ich denn Ihrer Meinung nach tun?«
»Der Sneijder, den ich kenne, hätte sich Zugang zum Tatort verschafft – auch im Ausland, ohne Befugnisse, unter dem Radar der örtlichen Polizei – und hätte den Mord auf eigene Faust untersucht.«
»Das brauche ich nicht«, sagte er ruhig.
»Sie …« Sabine drehte sich zu ihm um. »… wissen, wer die Frau ermordet hat?«
Er nickte.
»War es Ramona?«, flüsterte sie gedämpft, obwohl niemand in ihrer unmittelbaren Nähe stand.
Erneut nickte Sneijder.
»O nein«, presste Sabine hervor. »Wenn ich an ihr drangeblieben wäre, dann …«
»… wäre die Frau jetzt trotzdem tot«, unterbrach er sie. »Es sei denn, Sie wären Ramona ins Apartment gefolgt – aber Sie konnten ja nicht wissen, was da drinnen passiert.« Mit ein paar knappen Sätzen gab er wieder, was Ramona ihm darüber erzählt hatte.
»Und das erfahre ich erst jetzt?«, entfuhr es Sabine.
»Ich wusste, Sie würden sich aufregen.«
»Stattdessen haben Sie mich mit den anderen in aller Ruhe Namenslisten erstellen lassen?«
»Genau«, sagte er. »Ich wollte Sie nicht mit den Details belasten.«
Sie schwiegen eine Weile, während immer mehr Schaulustige zum Tatort strömten, als handelte es sich um ein extra organisiertes Show-Event des Hotels. Unter den Leuten, die die Polizei verhörte, waren auch das Securitypersonal des Hotels sowie Bianca Hagemann, die abwechselnd Fragen beantwortete und hektisch telefonierte.
»Na gut, es hätte sowieso nichts geändert, wenn ich es gewusst hätte«, sah Sabine schließlich ein. »Die Kripo wird uns jedenfalls alle verhören. Vor allem Sie, Ihre Assistentin und alle Workshopteilnehmer, weil diese Käthe zuletzt gesehen haben.«
»Bis auf Ramona haben wir dank des Workshops ja alle ein Alibi«, flüsterte Sneijder.
»Werden Sie der Kripo sagen, wer die Frau ermordet hat?«, fragte Sabine vorsichtig nach.
Das ist der Knackpunkt. Sneijder strich sich übers Kinn. »Wir stecken schon zu tief in der Sache drinnen, um jetzt die Reißleine zu ziehen … nein, das werde ich nicht tun.«
»Okay, aber wenn die Kripo den Mord trotzdem löst, Ramona verhaftet und in U-Haft steckt«, überlegte Sabine, »dann kommen wir nicht mehr an sie ran.«
»Genau, also darf das nicht passieren.« Sneijders Stimme wurde kalt. »Notfalls müssen Sie Ramona ein Alibi geben.«
Sabine atmete laut hörbar durch. »Ja, fuck, schönen Dank, das habe ich vermutet …«
Mittlerweile hatte die Polizei von Bianca Hagemann abgelassen, und die Direktorin kam den Hügel herauf direkt auf sie zu.
»Wir bekommen Besuch«, stellte Sabine fest.
»Hab’s gesehen.«
Kurz darauf war Hagemann bei ihnen. Die Frau wirkte blass, und das nicht nur wegen der Scheinwerferbeleuchtung. Außerdem war es nun vorbei mit ihrer Freundlichkeit. »Hat der Vorfall etwas mit Ihren Ermittlungen zu tun?«, fragte sie direkt heraus.
»Nein«, log Sneijder, bevor Sabine Gelegenheit bekam, den Mund aufzumachen. Er wollte verhindern, dass sie eine Verbindung zwischen der Toten und ihrem Fall zugab. Sie mussten den Entschluss, die Unwissenden zu spielen, konsequent durchziehen. Und wenn es noch mehr Tote werden?, fragte er sich. Wirst du dann immer noch die Klappe halten? Jedenfalls würde er dann abwägen müssen, was ihm wichtiger war – einzelne Menschenleben in diesem Hotel oder die Vielzahl an möglichen Terroropfern, die ihnen in Deutschland bevorstanden.
»Ich tue mich schwer, Ihnen das zu glauben«, sagte Hagemann nach einer Weile, »kann aber verstehen, wenn Sie mir die Wahrheit nicht sagen können.« Sie atmete tief durch. »Doch falls die Polizei dahinterkommt, dass ich von Ihren Ermittlungen …«
»Das wird nicht passieren. Wenn meine Identität auffliegt, behaupten Sie einfach, dass Sie keine Ahnung hatten, wer ich wirklich bin«, sagte Sneijder. »Offiziell haben Ihre Gespräche mit der deutschen Botschaft und dem BKA nie stattgefunden. Ich werde Sie da nicht mit reinziehen.«
»Okay, danke, das ist ja schon mal ein kleiner Trost. Andernfalls wäre ich nicht nur meinen Job los.«
»So weit wird es nicht kommen.«
»Wird es weitere Tote geben?« Diesmal sah sie Sabine an.
»Nicht, wenn wir es verhindern können«, antwortete Sabine.
»Ich hoffe, das können Sie.« Hagemann sah zum Apartment hinunter, von wo soeben ein Mann im dunklen Anzug zu ihnen heraufstieg. »Das ist übrigens Comisario Quintana von der mallorquinischen Kripo. Ein hartnäckiger Kerl. Er hat sich nach Ihnen erkundigt.«
»Dachte mir schon, dass die sich für mich interessieren.«
»Ich muss jetzt ein paar wichtige Telefonate mit meinen Vorgesetzten in Dubai führen und ihnen eine Menge erklären.«
Sneijder sah auf die Uhr. »Die schlafen jetzt.«
»Die schlafen nie«, korrigierte ihn Hagemann. »Ich wünsche Ihnen viel Glück.« Sie wandte sich ab und ging hinauf in Richtung Haupthaus.
Kurz darauf war Quintana bei ihnen. Er war Ende dreißig, ein gut aussehender schwarzhaariger Mann mit kantigem Gesicht, dessen scharfer Blick Sneijder verriet, dass er wusste, wie man die Karriereleiter hochstieg. Auch die Lackschuhe, der schneidige Anzug und das sportlich aufgeknöpfte Hemd mit dem steifen Kragen passten gut zu ihm.
» Es usted Ron D. Pacula?«, fragte Quintana.
»Tut mir leid, ich spreche kein Spanisch«, log Sneijder. »Ich kann nur mit Englisch, Deutsch, Niederländisch oder ein wenig Französisch dienen.«
»Deutsch ist gut«, antwortete der Mann gelassen mit einem typisch katalanischen Akzent. »Sind Sie Ron D. Pacula?«
Sneijder nickte.
Quintana dreht sich zu Sabine. »Und Sie sind?«
»Anna Bischoff.«
Quintana wedelte mit dem Arm. »Sie beide kennen sich?«
»Würden wir sonst so weit abseits vom Geschehen nebeneinanderstehen?«
Quintana blieb ruhig. »Sind Sie befreundet?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Wir kennen uns bloß vom Workshop«, sagte Sneijder.
»Aha.« Quintana zog eine Liste aus seiner Hosentasche und leuchtete mit der Handytaschenlampe darauf. Sneijder schielte kurz hin und merkte, dass es die Teilnehmerliste seines Kurses war. Vermutlich hatte Quintana gerade überprüft, ob Anna Bischoffs Name auch wirklich darauf stand.
Der Comisario ließ das Blatt wieder verschwinden. »Die Tote hat auch an Ihrem Workshop teilgenommen. Angeblich haben Sie und die Teilnehmer Ihres Kurses Frau Dr. van Zwieten noch kurz vor ihrem Tod gesehen.«
»Nicht nur angeblich.« Sneijder wandte bewusst gelangweilt den Blick von Quintana und sah zum Tatort hinunter.
»Sie scheinen deswegen nicht gerade besorgt zu sein.«
»Ich wüsste nicht, weshalb. Eigentlich sollten doch eher Sie besorgt sein«, sagte Sneijder, »immerhin müssen Sie einen Mord aufklären und nicht ich.«
»Sie wissen bereits, dass es sich um Mord handelt?«
»Wären Sie sonst hier?«
»Ich …« Quintanas Handy klingelte, doch nach einem kurzen Blick auf das Display ließ er es läuten. »Gut, fürs Erste reicht mir das. Verlassen Sie das Hotel nicht und halten Sie sich zur Verfügung. Ich werde noch heute Nacht mit der Vernehmung der Zeugen beginnen.«
»Welcher Zeugen?«
»Der Teilnehmer Ihres Workshops.« Quintana sah auf die Uhr. »Kommen Sie um dreiundzwanzig Uhr zur Rezeption. Frau Hagemann hat mir ein Büro für die Verhöre zur Verfügung gestellt.«
Sneijder zog eine Augenbraue hoch. »Jetzt sind aus den Vernehmungen schon Verhöre geworden.«
»Sie sind ein witziger Kerl«, sagte Quintana. »Aber das Lachen wird Ihnen schon noch vergehen, zusammen mit Ihrer Arroganz und Ihrer Großkotzigkeit.«
»Sie haben mich noch nie so richtig großkotzig erlebt.«
Quintana ging nicht darauf ein. »Dreiundzwanzig Uhr. Und bringen Sie Ihren Reisepass mit.«
»Aber sicher.« Sneijder kannte das Procedere.
Grußlos wandte sich Quintana ab und ging wieder hinunter zum Tatort.
»Mussten Sie ihm gleich so direkt ans Bein pinkeln?«, warf Sabine ihm vor.
»Dabei hatte ich mir diesmal wirklich vorgenommen, nett zu sein. Leider gab es da plötzlich so viele andere Optionen.« Er machte eine Pause. »Aber Sie haben recht, das war vielleicht wirklich ein Fehler.«
Sie schielte nachdenklich zu ihm. »Sie geben mir einfach recht? Nein, Sie machen keine Fehler«, widersprach sie plötzlich. »Also, was war der Grund für Ihre Widerborstigkeit?«
Sneijder seufzte. Sabine kannte ihn inzwischen zu gut, als dass er ihr etwas vormachen konnte. »Wenn Quintana etwas Grips in der Birne hat, dann weiß er, dass Mörder, die etwas vertuschen wollen, sich meist hilfsbereit, interessiert und kooperativ zeigen – und gerade das macht sie verdächtig. Darum soll er ruhig spüren, dass er mir mit seiner Fragerei schon jetzt ziemlich auf den Sack geht.«
»Verstehe … wenn er Sie als möglichen Täter ausgeschlossen hat, dann tut er das vielleicht auch bei Ihrer Assistentin Ramona.«
»Möglicherweise.«
»Nicht nur möglicherweise «, sagte Sabine etwas verstimmt. »Das ist Ihr Plan. Sie wollen Quintanas Interesse von sich und Ramona ablenken.«
»Ja …« Er machte eine Pause. »… das ist der Plan.«
»Ein Hasardspiel, das ziemlich nach hinten losgehen kann«, stellte sie fest.
Das wusste er, andererseits war es die beste Option, die er hatte. Er reckte leicht den Hals und beobachtete die Urlauber, die sich immer noch neugierig vor das Absperrband drängten. Unter ihnen war jetzt auch Vicky Fuchs, die sich mit einigen anderen Hotelgästen unterhielt.
Anscheinend erfuhr sie schon recht bald, was sie wissen wollte, denn kurz darauf wandte sie sich wieder ab und ging fort. Sneijder sah ihr interessiert nach.
»Woran denken Sie?«, fragte Sabine.
»Alle Hotelgäste dort unten wirken aufgebracht, neugierig, angespannt und telefonieren aufgeregt …« Sneijder deutete zu Vicky Fuchs. »… bis auf eine. Sie wirkt plötzlich ziemlich entspannt und locker.«