»Danke, das ist alles«, sagte Quintana, tippte ein paar Zeilen auf seinem Laptop und sah dann lächelnd auf. Neben ihm stand eine frische, dampfende Kaffeetasse, aus der ein Löffel ragte.
»Okay, gerne.« Lea blickte zur Wanduhr des Büros und erhob sich. Es war kurz vor dreiundzwanzig Uhr. Wenn sie die Liste neben Quintanas Computer richtig deutete, dann hatte er heute noch eine lange Nacht mit vielen weiteren Verhören vor sich.
Eigentlich schade, dass es schon vorbei ist , sagte Camilla. Dem hätte ich gut und gern noch eine weitere Stunde lang zuhören können.
Lea räusperte sich, sagte aber nichts. Das Gespräch, das der Comisario mit ihr geführt hatte, war ziemlich kurz gewesen. Mit insgesamt fünfzehn Zeugen, die beweisen konnten, dass sie während der Tatzeit in Paculas Workshop gewesen war, hatte sie ein hieb- und stichfestes Alibi. Was er natürlich nicht wissen konnte, war, wie erleichtert sie vorhin darüber gewesen war, dass die entdeckte Leiche nicht Gernot, sondern die nette ältere Schweizerin gewesen war, die vorzeitig ihren Kurs verlassen hatte. Irgendjemand hatte sie in ihrem Apartment ermordet und ihren Schmuck geklaut.
Quintana krempelte sich die Hemdsärmel auf. Darunter waren seine gebräunten, sehnigen Unterarme zu sehen. »Falls Ihnen noch etwas zu Käthe van Zwieten einfallen sollte, rufen Sie mich bitte an – egal zu welcher Uhrzeit.« Er reichte ihr eine Visitenkarte mit seiner Handynummer.
Und ob wir den anrufen!
Lea steckte die Karte in ihre schwarzen Jeans. » Muchas gracias.« Sie lächelte.
»Schicken Sie mir bitte den Nächsten herein, Miss Vicky.«
»Aber sicher.« Sie wandte sich um und ging zur Tür.
Ist der süß, oder ist der süß?, meldete sich Camilla erneut zu Wort.
»Seit wann stehst du auf Spanier?«, flüsterte sie verwundert, erhielt aber keine Antwort.
Sie öffnete die Tür und trat ins gedämpfte dunkelblaue Licht der Hotellobby. Da warteten bereits fünf weitere Leute. Der Nächste war offensichtlich Pacula, der soeben ein Telefonat beendete und sich den Hörstöpsel aus dem Ohr zog. Trotz der späten Stunde war er gar nicht mehr so leichenblass wie noch am Nachmittag während des Workshops, als sie dachte, er wäre halb tot und nur Vanilletee und Joints würden ihn am Leben erhalten.
»Der Nächste«, sagte sie.
Pacula ging mit einem kalten Lächeln an ihr vorbei.
Du wirst dich noch wundern, dachte sie und ließ die Hände in den Jeanstaschen verschwinden, wo sie Nagel, Draht und Büroklammer ertastete. Das war die ideale Gelegenheit, sich in seinem Apartment umzusehen.
Zügig marschierte sie am Dekotank vorbei, in dem die Quallen mit ihren geisterhaften Nesseln ruhig und gleichmäßig ihre Bahnen zogen, während ihre phosphoreszierenden Rosa-, Gelb- und Violetttöne nun voll zur Geltung kamen.
»Erinnern dich die Tiere immer noch an Gernot?«, flüsterte sie.
Mehr denn je , kam die prompte Antwort. Inzwischen hat er bestimmt am Meeresgrund Kontakt mit ihren Artverwandten aufgenommen.
»Die stammen aus dem Persischen Golf.«
Wenn wir Glück haben, treibt er ja dorthin.
Schön wär’s, dachte Lea. Sie trug Vickys schwarzen Hoodie und zog sich, während sie durch die automatische Glastür ins Freie trat, die Kapuze über den Kopf.
Draußen erwartete sie geradezu ein Idyll. Die Nacht war feucht, die Grillen zirpten in der Wiese, die Diskothek strahlte ihre Lasershow in den Himmel, und weit draußen am Meer zog ein Frachter mit roten Positionslichtern vorbei. Der Mond hing über dem Meer und ließ die Wellen glitzern – völlig unbeeindruckt von den menschlichen Dramen, die sich hier gerade abspielten.
Schnurstracks marschierte Lea in Richtung Paculas Apartment. Als sie es fünf Minuten später erreichte, ging sie kurz davor in die Hocke und tat so, als wollte sie ihre Schuhbänder neu binden. In Wirklichkeit schraubte sie neben dem Weg die Glühlampe aus der Bodenlaterne. Nur um auf Nummer sicher zu gehen – wahrscheinlich war das jetzt gar nicht mehr nötig, denn durch die allgemeine Aufregung, die seit dem Mord im Hotel herrschte, befand sich kaum jemand im Freien. Die meisten hatten sich in ihren Apartments verkrochen oder zu größeren Gruppen im Haupthaus zusammengefunden, um über den Vorfall zu diskutieren.
Nachdem Lea sicherheitshalber auch noch eine zweite Glühlampe aus der Fassung gedreht hatte, schlich sie im Dunkeln zu Paculas Eingangstür. Rasch schlüpfte sie in ein Paar Latexhandschuhe, das sie zuvor von einem Putzwägelchen geklaut hatte.
Gleichzeitig fuhr sie mit dem zurechtgebogenen Nagel und dem Stück Blumendraht, für das sie sich entschieden hatte, ins Schloss, tastete herum, spürte den Riegel und wollte ihn zur Seite drehen. Aber es funktionierte nicht auf Anhieb. Ihre Hände begannen in den Handschuhen zu schwitzen.
Ruhig bleiben, versuch es nochmal , sagte Camilla.
Lea atmete tief durch und startete einen zweiten Versuch, bei dem es zum Glück klappte. Erleichtert drückte sie die Klinke mit dem Ellenbogen hinunter, schlüpfte ins Vorzimmer und schloss die Tür hinter sich.
Gleich als Erstes zog sie die schweren Vorhänge zu, erst danach schaltete sie ihre Handytaschenlampe ein. Außerdem aktivierte sie die Stoppuhr. In der Hoffnung, dass Paculas Verhör deutlich länger dauern würde als ihres, gab sie sich zwanzig Minuten Zeit. Immerhin wusste er als Mentalcoach mehr über Käthes Charakter und ihren emotionalen Zustand als alle anderen in diesem Hotel. Und da Quintana, wenn sie das richtig mitbekommen hatte, andere Motive abseits von Raubmord nicht ausschloss, würde ihn das brennend interessieren.
Rasch ging sie von einem Raum zum nächsten, durchsuchte konsequent Schränke, Schubladen, Kommoden und alle Stellen, wo Pacula den Packen Workshopbriefe hätte verstecken können. Sie sah sogar unter der Matratze und hinter dem TV-Gerät an der Wand nach, fand aber nichts. Es gab zwar jede Menge Mappen, Flyer und Unterlagen, aber keine Briefe. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren.
Abgesehen von dem schwarzen Hartschalenkoffer, mit dem sie Pacula am Flughafen von Palma gesehen hatte, stand auch noch ein riesiger Schrankkoffer im Zimmer. Entweder war der schon vorab hergeschickt oder erst nachträglich geliefert worden. Aber auch sein Inhalt brachte sie nicht weiter, denn darin befanden sich nur mehrere Paar schwarze Lackschuhe, jede Menge weißer Hemden und einige identische Designeranzüge von Steenweg en Zonen. Auch hier keine Briefe.
»Shit!«, zischte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Bis auf eine Sache hatte sie alles durchsucht. Sie ließ das Licht der Taschenlampe zum Wandsafe gleiten. Abgesehen davon, dass es ihr etwas übertrieben schien, solche Briefe darin zu deponieren – so wichtig waren sie nun auch wieder nicht –, konnte sie ohnehin nicht nachsehen. Schließlich kannte sie die Kombination nicht, und auch wenn sie aus beruflichen Gründen über die Administratorcodes für Notfälle Bescheid wusste, kannte sie den von dieser speziellen spanischen Firma nicht. Und ihr blieb nicht die Zeit, lange herumzuexperimentieren.
»Shit«, murmelte sie wieder.
Ihre Stoppuhr zeigte neunzehn Minuten. Frustriert warf sie Paculas großen Hartschalenkoffer aufs Bett. Vielleicht gab es da ja irgendwo innen ein Seitenfach, das sie übersehen hatte und in dem die Briefe verstaut waren. Während sie mit der Hand alles abtastete, spürte sie, dass Camilla etwas sagen wollte, kam ihr aber zuvor. »Sag jetzt nichts.«
Doch. Wir sind im Arsch!
»Verdammt richtig!« Sie richtete sich auf und versetzte dem Koffer einen zornigen Tritt, sodass er übers Bett glitt, auf der anderen Seite hinunterfiel und gegen die Wand knallte. Dabei hörte sie das knackende Geräusch von zerbrechendem Plastik.
Toll gemacht! Jetzt ist er kaputt.
Rasch lief sie auf die andere Seite und sah im Licht der Taschenlampe, dass an einer Ecke des schwarzen Koffers unübersehbar der weiße Wandverputz klebte. Auch das noch. Sie kniete sich hin, säubert die Stelle und merkte dabei, dass vermutlich durch ihren Tritt oder den Aufprall ein Teil der Außenhülle abgebrochen war.
Du machst alles nur noch schlimmer!
Lea gab keine Antwort. Wütend über sich selbst drückte sie das weggesplitterte Teil wieder an die richtige Stelle, platzierte den Koffer dorthin, wo er vorhin gestanden hatte, und betrachtete ihr Werk. Sicherheitshalber tippte sie den Koffer mit der Schuhspitze an. Das Teil hielt nicht und fiel wieder heraus.
Super!
»Na und?«, reagierte Lea prompt. »Das könnte genauso gut während des Transports zum Apartment passiert sein. Oder die Putzfrau hat ihn versehentlich kaputt gemacht.«
Ja, klar, die Putzfrau war es. Oder der Gärtner. Ganz sicher!
Lea lehnte das Handy an die Wand, kniete sich hin und drückte das lose Teil erneut in die Bruchstelle. Sie wollte es gerade so präparieren, dass es nicht auffiel, als sie mit einem Finger abrutschte und dabei hinter dem Sprung einen schmalen Hohlraum entdeckte.
»Der Koffer hat einen doppelten Boden«, stellte sie fest.
Ein Geheimfach?
Lea tastete erneut die Außenwand ab und entdeckte die kaum erkennbaren feinen Umrisse eines etwa zwanzig Zentimeter langen und halb so breiten, rechteckiges Teils, von dem die Ecke abgesplittert war. Nachdem sie an einer bestimmten Stelle dagegendrückte, ließ sich das Ding wie ein Deckel abnehmen. Es war ein raffinierter Klickverschluss, den kaum jemand gefunden hätte, wenn man nicht genau wusste, wonach man suchen musste.
Allerdings war das Fach, das sich darunter verbarg, zu klein, um einen Stapel Briefe darin zu verstecken. Dennoch leuchtete sie mit der Lampe hinein und entdeckte tatsächlich etwas. Ein dünnes rotes Notizbuch, auf dessen Deckblatt Für Rechtsanwalt Dr. Albrecht in Frankfurt stand.
Lea lehnte das Handy so an die Wand, dass das Licht auf das Notizbuch fiel. Rasch blätterte sie durch die Seiten, die alle mit Bleistift in kleiner, aber fein säuberlicher Handschrift vollgekritzelt waren.
»Was zur Hölle ist das?«, entfuhr es ihr.
Die Seiten waren voll mit deutschen und europäischen Postfachnummern, dutzenden Realnamen und deren Codenamen sowie privaten Anschriften und Kontaktdaten in Form von Telefonnummern und E-Mail-Adressen. Auch jede Menge Onion-Sites und TorBox-Adressen aus dem Darknet waren darunter. Der Name einer gewissen Ruth-Allegra Francke war mehrmals mit Rotstift eingekreist und mit mehreren Telefonnummern verknüpft, als wäre er besonders wichtig.
Auf den nächsten Seiten folgte eine lange Liste mit Terminen und internationalen Treffpunkten, die beeindruckende fünf Jahre zurückreichten. Den Abschluss des Notizbuchs machte eine Art Auftrags- und Rechnungsbuch mit bestimmt über hundert datierten Einträgen und jeweils sechsstelligen Eurobeträgen, die alle mit kleiner Schrift fein säuberlich notiert worden waren.
»Wonach sieht das für dich aus?«, keuchte Lea.
Erpressung, Betrug, Diebstahl, Schutzgeld, Bestechung, Schwarzgeldtransfer … was weiß denn ich? Bin ich aus dieser Branche?
»Was immer es ist – legal wirkt das Ganze jedenfalls nicht.«
Scheint so, als wäre Pacula ein ziemlich übler Gauner.
»Vielleicht hat er die alte Dame ermordet?«, vermutete Lea.
Wie denn? Er hat ein Alibi. Schon vergessen?
»Stimmt. Aber vielleicht war es seine Assistentin? Diese …«
Wie spät ist es eigentlich?
»Scheiße!« Leas Herz begann zu rasen. Die Stoppuhr zeigte bereits neunundzwanzig Minuten. »Verdammt, verdammt, verdammt …« Hastig präparierte sie die abnehmbare Fläche mit dem weggesplitterten Plastikteil so, dass es nicht sofort auffiel, und stellte den Koffer an genau dieselbe Stelle, an der er vorhin gestanden hatte.
Das rote Notizbuch steckte sie sich hinten in den Hosenbund und zog den Hoodie darüber.
Jetzt werden wir auch noch zur Diebin?
»Du sagst es.« Lea schnappte sich ihr Handy, schaltete die Taschenlampe aus, zog die Vorhänge wieder auf und ging zur Tür. Mist! Sie musste ihre Flucht um einen weiteren Tag verschieben. Ohne den Brief konnte sie nicht abreisen. Aber selbst wenn sie ihn nicht fand, hatte sie jetzt immerhin ein Druckmittel gegen Pacula in der Hand.
»Clever, nicht wahr?«
Ja, bist so ein schlaues Mädchen. Vergiss nicht, draußen die Glühbirnen wieder reinzudrehen.