66. Kapitel

Als Sneijder nach dem Verhör mit Comisario Quintana fünfzehn Minuten vor Mitternacht endlich in sein Apartment kam, piepte sein Handy. Die Nachricht war von Drohmeier.

Videokonferenz in zehn Minuten!

Der Mann schlief wohl nie. Sneijder schaltete seinen Laptop ein, und während das Gerät hochfuhr, warf er sein Sakko aufs Bett und wollte zur Minibar gehen, als er innehielt. Die Bettdecke war verrutscht und schlug Falten.

Neugierig ging er ums Bett herum. An der Wand neben dem Nachttisch sah er weißen Staub auf dem Teppichboden. Der Verputz war von der Wand gerieselt. Von allein? Wohl kaum. Jemand musste etwas gegen die Wand geschlagen haben, und er wusste auch schon, wo, denn an einer Stelle war ein dunkler Strich zu sehen.

»Okay, jemand ist also hier gewesen«, stellte er trocken fest und sah sich um. Hatte die mallorquinische Polizei heimlich sein Apartment durchsucht, während Quintana ihn verhört hatte? Aber warum hätten die das tun sollen? Das Gespräch mit Quintana war zwar nicht gerade entspannt verlaufen, und der Mann hatte auch versucht, ihn unter Druck zu setzen, aber Sneijder hatte rasch bemerkt, dass das meiste davon nur heiße Luft war.

Vielleicht war Quintana auch nur deshalb so angepisst gewesen, weil Sneijder den Reisepass von Ron D. Pacula nicht mitgenommen, sondern behauptete hatte, ihn gerade nicht gefunden zu haben. Andernfalls hätte sogar ein besoffener Wachmann bemerkt, dass er Conrads Passfoto kein bisschen ähnlich sah. Zum Glück hatte Quintana nicht weiter nachgehakt, sondern sich rasch wieder beruhigt. Offensichtlich war Sneijder aufgrund seines wasserdichten Alibis kein Verdächtiger, und Quintana war es nur um Sneijders Einschätzung zu Käthe van Zwietens Person gegangen.

Oder ist Ramona hier gewesen, weil sie an deiner Identität zu zweifeln begonnen hat? Das klang schon plausibler. Fatal wäre allerdings, wenn sie den gestohlenen Schmuck in seinem Apartment versteckt hätte.

Rasch lief Sneijder durchs gesamte Apartment und stellte fest, dass es tatsächlich jemand durchsucht haben musste, und zwar so, dass man es nicht gleich bemerkte. Vermutlich wäre er ohne die verrutschte Bettdecke und den Verputz auf dem Boden gar nicht draufgekommen. Eine erste rasche und oberflächliche Durchsuchung brachte keinen Hinweis darauf, dass Ramona den Rubinschmuck bei ihm deponiert hatte. Und seine Glock im Safe war auch noch da.

Dann piepte auch schon sein Laptop. Die verschlüsselte Videokonferenz zum BKA Wiesbaden stand. Er setzte sich mit einer Plastikwasserflasche aus der Minibar, die er sich an die Schläfe drückte, an den Schreibtisch und loggte sich mit seinem Passwort ein. Auf dem Monitor tauchte Drohmeier auf, mit erschöpftem Gesichtsausdruck, Tränensäcken unter den Augen und einem müden Blick.

»Wie ist die Stimmung zu Hause?«, fragte Sneijder, obwohl er sich die Antwort bereits denken konnte.

»Vor wenigen Stunden gab es weitere Anschläge.«

Sneijder wurde plötzlich kalt. »Davon weiß ich noch gar nichts.«

»Damit sind Sie nicht allein, denn BKA, BND, Staats-, Verfassungsschutz und Innenministerium unterdrücken die Weitergabe sämtlicher Informationen an die Medien.«

»Schön zu hören, dass wenigstens einmal alle Behörden am gleichen Strang ziehen.«

»Das ist auch schon die einzige gute Nachricht.«

»Was ist passiert?«

»In Hamburg sind zur gleichen Zeit zwei Aufsichtsräte, eine Pressesprecherin und eine Geschäftsführerin desselben Ölkonzerns in ihren Häusern und Wohnungen mit gezielten Kopfschüssen exekutiert worden. Laut Zeugenaussagen von mehrköpfigen Kommandos mit automatischen Waffen.«

Sneijder lief ein Schauder über den Rücken. Das klang wie eine Kriegserklärung. Er schluckte. »Vier Tote?«

»Wenn wir Glück haben, nur drei. Die Pressesprecherin schwebt in Lebensgefahr, allerdings sind ihre Chancen, es zu schaffen, verschwindend gering.«

»Ein Ölkonzern als Zielobjekt?« Sneijder schob sich die Flasche in den Nacken. »Wie passt das ins Konzept der RAF?«

»Der Konzern betreibt schon seit Jahren übles Greenwashing. Statt tatsächlich in den Umweltschutz zu investieren, fließen Milliarden in Werbung, Public Relations und an die großen Medienhäuser, um dem Konzern in der Öffentlichkeit ein grünes Image zu verleihen. Alles Lug und Trug, und unsere Regierung unterstützt das indirekt mit Steuergeldern.«

» Verdomme …« Sneijder begann die Zusammenhänge zu begreifen. Diese junge Generation bekämpfte nicht nur die deutsche Trendwende nach rechts, wie aus der abgefangenen Kampfschrift hervorging, sondern wohl auch das ewiggestrige Gedankengut, das den Klimawandel leugnete, weiterhin fossile Brennstoffe propagierte und erneuerbare Energiequellen unterdrückte.

»Die Verflechtungen zwischen politischem Terrorismus und Ökoterror sind mittlerweile so komplex geworden, dass man ein halbes Wirtschafts- und Politikwissenschaftsstudium braucht, um da durchzublicken«, sagte Drohmeier.

Sneijder kannte die sogenannte Hufeisentheorie – wonach die bürgerliche Mitte den Bauch eines Hufeisens bildete, während sich Links- und Rechtsextremismus an den jeweiligen Enden einander wieder annäherten. Letztlich hatte es für ihn aber keine Bedeutung, welcher Theorie der Terror folgte. Denn egal, ob Links- oder Rechtsextreme, unterm Strich blieb das Ergebnis das gleiche. Die Gesellschaft wurde gespalten, Angst, Hass und Panik verbreiteten sich.

»Ich bin gespannt …«, überlegte Sneijder laut, »… welche Bekennerschreiben die RAF bei ihrer Offensive Null-Fünf zum Beginn der Roten Woche in die Öffentlichkeit bringen wird und ob es Forderungen oder ein Ultimatum geben wird.«

»Bisher lassen sie uns über ihre konkreten Ziele im Unklaren, aber unsere Experten gehen davon aus, dass sie den Rücktritt der kompletten Regierung fordern werden.«

»Tja, wenn es weiter nichts ist …« Sneijder lächelte müde. »Außerdem fragte ich mich, warum sie schon jetzt, vor dem eigentlichen Startschuss, diese ganzen Anschläge durchgeführt haben.«

»Auch das wissen wir nicht, aber unsere Analysten in Meckenheim gehen davon aus, dass das alles nur ein sanfter Vorgeschmack ist, bevor sie wirklich ernst machen.«

»Dieser Vorgeschmack würde mir persönlich schon völlig ausreichen«, kommentierte Sneijder.

»Nicht nur Ihnen«, stimmte Drohmeier zu. »Diesen Freitag geht die einwöchige internationale Sicherheitskonferenz in Den Haag zu Ende. Unsere deutsche Delegation – darunter Philip Degenhard, der Staatssekretär unseres Innenministers, sowie dessen gesamter Stab und meine beiden Vize-Präsidenten Eisa und Marquardt – zittert schon jetzt vor ihrem Rückflug, weil sie nicht weiß, was am Flughafen passieren wird.«

»Dann sollen sie doch die Bahn nehmen. Jeder einen anderen Zug.«

»Witzig, Sneijder. Während Sie mit Ihrem Laptop am Palmenstrand sitzen, ist die Stimmung bei uns daheim so explosiv wie noch nie zuvor.«

»Und wessen Idee war es, dass ich nach Mallorca fliege?«

»Ja, Sie haben recht, tut mir leid«, seufzte Drohmeier, »meine Nerven liegen genauso blank wie die aller anderen.«

»So kenne ich Sie gar nicht.«

»Das liegt daran, dass Sie noch nicht alles wissen, Sneijder.«

»Was denn noch?« Sneijder wechselte die Flasche auf die andere Seite.

Drohmeier wischte sich sein schütteres graues Haar zurück und strich sich nachdenklich über die lange Narbe am Kopf. »Dieser Dr. Albrecht, Paul Conrads Anwalt, ist heute Abend plötzlich in meinem Büro gestanden.«

»Der Haussicherungsdienst hat ihn einfach ins Gebäude gelassen?«

»Anscheinend kennt er jemanden beim BKA – ist ja jetzt auch egal. Jedenfalls wusste er von Anna Bischoffs Tod.«

» Niet goed.« Sneijder waren die Konsequenzen sofort klar, und seine Kehle wurde eng. »Wie hat er verdammt noch mal davon erfahren?«

»Kurz bevor Conrad sein Haus in der Nacht von Samstag auf Sonntag niedergebrannt hat, hat er eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter seines Anwalts hinterlassen. Wir wissen nicht, was er ihm gesagt hat, aber Dr. Albrecht hat am Montagmorgen gleich zurückgerufen, konnte Conrad aber nicht erreichen.«

»Kein Wunder«, überlegte Sneijder, »alle seine Handys sind im Haus verbrannt. Und von dem Prepaidhandy, das auf Ron Pacula angemeldet ist, wusste der Anwalt anscheinend nichts.«

»Sehe ich genauso«, sagte Drohmeier. »Daraufhin ist Dr. Albrecht zu Conrads Haus in Bad Kreuznach gefahren und hat nur noch eine Brandruine vorgefunden. Er konnte auch Conrads Tochter nicht erreichen. Bei seinem anschließenden Verhör hat er erfahren, dass das BKA Annas Wohnung in Augsburg auf den Kopf gestellt hat. Und hat dann über gute Kontakte zur Polizei herausgefunden, dass Anna Bischoff bei einem Motorradunfall tödlich verunglückt und ihr Vater am Flughafen während eines Verhörs gestorben ist.«

» Godverdomme, vervloekter mest!« , fluchte Sneijder. Auch das noch! Er sprang auf und warf die Wasserflasche so fest auf den Boden, dass sie abprallte, in weitem Bogen durchs Zimmer flog, irgendwo dagegenknallte und liegen blieb. Er krempelte sich die Ärmel auf und beugte sich über den Monitor. »Sie müssen den Mann sofort und um jeden Preis zum Schweigen bringen!«

»Beruhigen Sie sich wieder. Haben wir bereits. Dr. Albrecht weiß, was eine laufende Ermittlung ist.«

»Scheiß auf die laufende Ermittlung. Darum geht es gar nicht«, fluchte Sneijder aufgebracht. »Mittlerweile gab es einen Mord im Hotel. Die mallorquinische Kripo ist hier und ermittelt.«

Drohmeier wurde blass. »Jemand aus Ihrem Team?«, fragte er mit rauer Kehle.

»Nein, eine ältere Dame, eine Urlauberin – nicht weiter wichtig«, spielte Sneijder die Dramatik des Vorfalls herunter. »Aber wenn die Kripo mich und Nemez bei den Verhören näher unter die Lupe nimmt und herausfindet, dass Ron D. Pacula in Wahrheit Paul Conrad ist und der und Anna Bischoff bereits tot sind, sind Nemez und ich hier im Arsch. Dann verlieren wir unseren Kontakt zu Ramona – und der ist im Moment die beste Spur, die wir haben.«

»Ich verstehe …« Drohmeier wischte sich übers Gesicht. »Eine vertrackte Situation. Ich werde alles tun, damit von den beiden Todesfällen nichts durchsickert. Aber damit wir Dr. Albrecht zum Schweigen bringen, will er etwas von uns haben. Nämlich Paul Conrads schwarzen Hartschalenkoffer.«

»Kann er gern haben«, sagte Sneijder großzügig. »Wenn es hart auf hart kommt, könnten wir ohne richterlichen Beschluss wegen des Beweismittelverwertungsverbots sowieso nichts davon verwenden.«

»Er will den Koffer mit dem gesamten Inhalt«, betonte Drohmeier.

Sneijder wurde stutzig. »Was ist denn so Wichtiges darin?«

»Das habe ich ihn auch gefragt, woraufhin er sich ziemlich geziert hat. Schließlich habe ich behauptet, dass wir sein nächtliches Telefonat mit Conrad abgehört und mitgeschnitten haben.«

»Clever«, sagte Sneijder. »Und?«

»Dann wissen Sie ja bereits von dem roten Notizbuch , hat er gesagt. Es soll nach Conrads Tod an ihn gehen.«

Sneijder richtete sich auf, machte einen Schritt zurück und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Monitor hinunter. »Welches rote Notizbuch?«

»Das rote Notizbuch im Koffer – hat Albrecht zumindest behauptet.«

Nun wurde Sneijder klar, was Conrad in der Nacht seiner Flucht seinem Anwalt auf den AB gesprochen hatte. »Im Koffer war kein Notizbuch.« Er spähte zu Conrads Koffer, der beim Bett auf dem Teppichboden stand. Die Wasserflasche lag daneben, ebenso wie ein kleines schwarzes Teil der Hartschale. »Einen Moment, bin gleich wieder da.«

Sneijder ging zum Koffer, riss ihn herum und fand das Loch in der Hartschale. Mit dem Finger fuhr er in die Öffnung und brach ein längliches rechteckiges Teil heraus. Dahinter verbarg sich ein Geheimfach. Das leer war.

»Leck mich doch am Arsch!«, rief er. Instinktiv sah er zur anderen Seite des Betts, wo der dunkle Strich an der Wand war. Was immer in diesem Zimmer passiert war – in diesem Buch befanden sich garantiert die Informationen, hinter denen er bis jetzt her gewesen war. Er hatte sie die ganze Zeit über, ohne es zu wissen, in diesem Koffer mit sich herumgetragen. Und jetzt waren sie weg. Drohmeiers Anruf war genau um eine Stunde zu spät gekommen.

Am liebsten hätte er auf den Koffer eingetreten und ihn in einen Haufen Schrott verwandelt. Stattdessen zerbiss er einen Fluch zwischen den Zähnen, setzte sich wieder an den Schreibtisch und starrte mit wildem Blick in den Laptop.

»Sneijder? Was um Himmels willen ist denn passiert?«, fragte Drohmeier.

»Ich weiß, wo sich das Notizbuch befunden hat«, sagte er zerknirscht. »Jemand hat es gestohlen. Ich muss herausfinden, wer es war. Sobald ich mehr weiß, melde ich mich wieder.« Er beendete das Programm und klappte den Laptop zu. Dann stand er auf und sah sich um.

Wer verdammt nochmal hatte sein Zimmer durchwühlt?

Kurzerhand griff er zum Handy und rief Marc an. Der meldete sich mit einer derart müden Stimme, dass man ehrliches Erbarmen mit ihm hätte haben können. »Ja … was ist?«, gähnte er erschöpft. »Wir haben gerade für heute Schluss gemacht.«

Sneijder wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihn und Miyu, die seit dem Morgengrauen auf den Beinen waren und von Mittag bis Mitternacht ununterbrochen in Monitore gestarrt hatten, länger auf Trab zu halten. Er brauchte sein Team geistig fit und ausgeschlafen. »Morgen müsst ihr dort weitermachen, wo ihr heute aufgehört habt. Nämlich sämtliche Urlauber und Hotelangestellte zu durchleuchten.«

»Jetzt also doch wieder«, schnaubte Marc. »Geht es um den Mord an der alten Dame?«

»Nein, vergiss die alte Dame! Jemand besitzt Conrads Notizbuch, in dem sich höchstwahrscheinlich alle wichtigen Daten befinden, die wir dringend brauchen.«