68. Kapitel

Miguel hatte Sneijder am Morgen noch vor dem Frühstück seinen Anzug aus der chemischen Reinigung zurückgebracht, und wiederum kein Trinkgeld erhalten. Niemand sollte Sneijder nachsagen, dass er in seiner Unfreundlichkeit inkonsequent wäre.

Er hatte Hose, Hemd und Sakko gleich angezogen, um zu sehen, ob auch alles in Ordnung war, und stand jetzt mit seinen schwarzen Lackschuhen im feuchten Sand, den die nächtliche Flut am Strand hinterlassen hatte.

»Miyu hatte recht, das könnte wirklich interessant sein«, flüsterte er Sabine zu, die nur schweigend nickte.

Vor ihnen spannte sich das Absperrband aus Plastik, das die Polizei im Umkreis von zwanzig Metern um den kurzen Holzsteg gezogen hatte, an dem die Fischer ihren Kutter festgezurrt hatten. Ein intensiver Geruch von Muscheln und alten Fischernetzen wehte herüber.

Während die Fischer den Polizisten etwas auf der Karte zeigten und danach zu einer Stelle aufs Meer deuteten, wo sie vermutlich die Leiche gefunden hatten, wurde der Tote auf eine Bahre mit Rädern gehoben und mit einem weißen Laken zugedeckt. Anschließend wurde das Gestell hochgeklappt, bis es einrastete.

»Ich konnte einen kurzen Blick auf die Leiche erhaschen«, flüsterte Sabine nun, während sie das Sonnenlicht mit der Hand abschirmte. »Hat sicher noch nicht viel länger als vierundzwanzig Stunden im Wasser gelegen.«

»Mhm …« Sneijder nickte. Er sah mit zusammengekniffenen Augen immer noch zu den Fischern hinüber, die hinaus aufs Meer zu den Klippen deuteten. Weiter hinten am Horizont fuhr gerade ein Kreuzfahrtschiff vorbei. »Wenn es stimmt, dass es sich um einen Touristen handelt, ist er vermutlich an der Spitze der Halbinsel, am Cap de Formentor, über die Felsen ins Meer gestürzt und eine Zeit lang am Ufer entlanggetrieben, bis ihn die Flut in die Bucht gespült hat.« Er machte eine Pause und dachte nach. »Obwohl es in dieser Gegend von Touristen wimmelt, weiß die Polizei offenbar noch nicht, dass der Mann vermisst wird. Da niemand Meldung erstattet hat, wurde der Unfall anscheinend nicht beobachtet. Folglich muss er allein im Urlaub und vor allem allein unterwegs gewesen sein. Höchstwahrscheinlich gestern im Morgengrauen oder in der Nacht davor – andernfalls hätte ihn jemand gesehen.«

»Aber vielleicht wusste die Polizei ja schon von einer vermissten Person«, überlegte Sabine.

Sneijder schüttelte den Kopf. »Die wirken alle insgesamt ziemlich überrascht.« Nun warf er auch einen Blick auf die Bahre, die tiefe Furchen im Sand hinterließ, als sie über den Strand zu dem Weg gezogen wurde, wo der Leichenwagen stand.

Dort wartete neben Comisario Quintana anscheinend schon der Gerichtsmediziner. Jedenfalls hob der Mann das Leichentuch und nahm mit Spatel und Pinzette eine erste Untersuchung am Kopf des Toten vor. Quintana und er sprachen miteinander, und obwohl Sneijder nicht verstehen konnte, worüber sie redeten, sah er ihren blassen und schockierten Gesichtern an, dass es sich um einen ziemlich grausigen Fund handeln musste. Wasserleichen waren nie ein schöner Anblick, und schon gar nicht, wenn die Brandung sie stundenlang gegen die Felsen geworfen hatte.

»Kommen Sie«, flüsterte Sneijder. »Wir müssen mehr herausfinden und einen Blick auf die Leiche werfen.«

»Würden Sie neugierige Zuschauer am Tatort einen Blick auf einen Toten werfen lassen, den Sie gerade untersuchen?«, fragte Sabine.

»Nur, wenn ich mir dadurch Informationen zum Fall erhoffe«, konterte Sneijder und näherte sich dem Leichenwagen. Die Hecktür stand offen, davor befand sich die Bahre mit dem Toten, über den der Gerichtsmediziner gerade wieder das Leichentuch zog.

Einige Meter vor dem Auto wurde Sneijder jedoch von den Polizisten aufgehalten, die nicht nur Sabine und ihn, sondern auch alle anderen Schaulustigen daran hinderten, näher zu kommen.

Sneijder drehte sich zu Sabine und deutete zur Bahre. »Ist das nicht Geoffrey McCann, der sich heute für meinen Workshop angemeldet hat?«, fragte er und nannte den erstbesten Namen von der aktuellen Liste, der ihm einfiel.

»Könnte sein«, spielte sie sofort mit und reckte den Hals. »Jedenfalls trug er gestern auch weiße Turnschuhe und so eine blaue Jogginghose.«

Sogleich begannen einige der Leute, die neben Sneijder standen, zu telefonieren. Dabei wurde der Name Geoffrey McCann mehrfach wiederholt. Genervt befahl Quintana einem der Polizisten auf Spanisch, die Leute wegzuschaffen. Dann drehte er sich zu Sneijder und fragte auf Deutsch: »Sie kennen den Toten?«

»Möglich.« Er zuckte mit den Achseln. »Die Kleidung kommt mir bekannt vor.«

»Einer Ihrer Workshopteilnehmer?«

»Jedenfalls keiner von gestern, aber vielleicht einer, der sich für heute angemeldet hat.«

Quintana bedeutete dem Polizisten, dass er Sneijder durchlassen sollte, woraufhin der Uniformierte das Absperrband hochhielt und Sneijder durchwinkte.

»Geben Sie mir Ihr Handy … rasch«, flüsterte Sneijder.

Sabine drückte es ihm in die Hand. Er wischte das Display an der Hose sauber und verbarg das Telefon dann unauffällig im Ärmel seines Sakkos. »Kommen Sie mit«, zischte er. »Sie müssen Quintana ablenken.«

Sneijder zog den Kopf ein und schlüpfte unter dem Band durch. Sabine folgte ihm.

»Der Anblick ist nicht schön«, warnte Quintana. »Ein Blick auf die Kleidung sollte genügen.« Skeptisch blickte er zu Sabine. »Und Ihnen würde ich empfehlen, dass Sie …«

»Ich bin Doktor der Psychologie und kann mir gut vorstellen, wie eine Wasserleiche aussieht«, antwortete Sneijder mit einem übertriebenen großkotzigen Blick.

»Nein, können Sie nicht!«

»Lassen Sie das meine Sorge sein.« Sneijder trat näher an die Bahre heran.

Quintana lächelte. »Ganz wie Sie wollen, Señor Pacula .« Eine gewisse Genugtuung zeichnete sich auf dem Gesicht des Comisario ab. Schließlich hatte er Sneijder prophezeit, dass ihm das arrogante Lachen noch vergehen würde – und dies schien ihm jetzt eine gute Gelegenheit, dem überheblichen Mentalcoach eine Lektion in Sachen Demut zu erteilen.

Die Polizisten schirmten die Bahre so ab, dass die neugierigen Gäste des Hotels nicht viel sehen konnten. Dann lüftete Quintana das Laken zuerst von unten und zog es langsam hoch. Ein Turnschuh fehlte, die blaue Jogginghose war von den scharfkantigen Felsen komplett zerrissen, ebenso die blaue Trainingsjacke.

Zuerst am Fuß und dann an den anderen freigelegten Stellen sah Sneijder die blauvioletten Totenflecken, die an den Händen am ausgeprägtesten waren. Jede Wasserleiche trieb mit dem Gesicht nach unten in Bauchlage im Wasser, wobei die Arme nach unten hingen – und dort sammelte sich das Blut.

Sabine hatte recht. Der Mann konnte noch nicht viel länger als vierundzwanzig Stunden tot im Wasser gelegen haben. Er konnte auch nicht besonders viel Tierfraß von Fischen oder Krabben feststellen. Den größten Schaden hatten die Felsen verursacht.

Wie Sneijder an der Fußsohle und den Handflächen sah, hatte sich bereits die sogenannte Waschhaut gebildet. Gröbere Falten, die jenen ähnelten, wenn man zu lange in der Badewanne saß. Trotz allem war die Hand jedenfalls noch so intakt, dass man Fingerabdrücke davon nehmen konnte.

»Und?«, fragte Quintana.

»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Sneijder. »Die Kleidung sieht der von Geoffrey McCann ähnlich. Ich müsste das Gesicht des Mannes sehen.«

Quintana zeigte schadenfroh die Zähne. »Ganz wie Sie wollen, Señor Doctor Pacula .« Langsam zog er das Laken vom Gesicht herunter.

Hals, Kinn, Wangen und Nase waren blass, mehrfach gebrochen und durch den Felssturz fürchterlich entstellt. Das Gebiss war eingedrückt, der Unterkiefer schief, mehrere Zähne fehlten.

Ruckartig entfernte Quintana nun den Rest des Lakens. Sneijder zuckte für einen Moment zurück. Die Augen des Toten fehlten, die Schädeldecke war seitlich offen, vermutlich an den Felsen auseinandergebrochen, und das Salzwasser hatte das Gehirn komplett herausgespült. Der Anblick war zwar entsetzlich, aber nicht neu für ihn.

»O Gott«, würgte Sneijder dennoch hervor.

Im selben Augenblick hörte er Sabine unterdrückt stöhnen und sah aus dem Augenwinkel, wie sie zusammenklappte und neben den Reifen des Leichenwagens in den Sand fiel.

Während der Gerichtsmediziner und zwei Polizisten sogleich zu ihr stürzten und Quintana sich kurz nach ihr umblickte, klammerte sich Sneijder an die Bahre und stieß dabei unauffällig den Arm des Toten an, sodass dieser verrutschte und über den Rand der Bahre baumelte.

Würgend krümmte sich Sneijder nach vorn. Dabei klaffte sein Sakko auf und bot für eine Sekunde einen guten Sichtschutz. Er packte den Daumen des Toten, überstreckte ihn mit zwei Fingern, sodass sich die Haut straffte und presste die Fingerkuppe auf das Display von Sabines Handy.

Während er immer noch zu würgen vorgab, zurücktaumelte und in den Sand spuckte, ließ er das Handy wieder im Ärmel seines Sakkos verschwinden.

»Genug gesehen?«, witzelte Quintana.

»Sie hätten mich vorwarnen müssen, Sie dämlicher Idiot, dass der halbe Kopf fehlt«, warf Sneijder ihm röchelnd vor.

»Und ich dachte, Sie wüssten, wie eine Wasserleiche aussieht. So kann man sich täuschen.« Quintana schüttelte gespielt verwundert den Kopf, ehe er das Laken wieder über den Toten zog. »Ist das nun dieser Geoffrey McCann?«

»Nein, McCann hat einen Vollbart … ich weiß nicht, wer das ist.«

Die Polizisten halfen Sabine auf, grinsten dabei übers ganze Gesicht und wollten die Chance nutzen, ihr den Sand von der Kleidung zu wischen, doch sie schlug einem von ihnen noch vor der ersten Berührung auf die Finger.

Ohne weiteren Kommentar wurden Sneijder und Sabine von den Polizisten wieder unter dem Band hindurch hinter die Absperrung geschoben.

»Und wer ist es?«, riefen die Gäste. »Wie sieht er aus? Was haben Sie gesehen? War es wirklich so schlimm?«

Doch Sneijder gab keine Antwort.

»McCann war es jedenfalls nicht«, sagte Sabine, woraufhin sie und Sneijder sich schweigend zwischen den Leute durchdrängten und in Richtung Haupthaus marschierten. »Was haben Sie herausgefunden?«, fragte sie schließlich, als sie weit genug entfernt waren.

»Der Tote ist schwer zu identifizieren. Weiß, kein Ehering und schätzungsweise zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt. Die Kripo wird als Nächstes in diesem und allen umliegenden Hotels fragen, ob ein Gast fehlt, und sich mit den Botschaften in Kontakt setzen, ob jemand vermisst wird. Bis die herausfinden, wer das ist, könnte es Tage dauern.«

»Gab es Spuren eines Kampfes?«, fragte Sabine. »Offensichtliche Hinweise auf einen Mord?«

»Lässt sich nicht sagen. Bemerkt habe ich nichts.«

Sabine drehte sich zum Leichenwagen um. Soeben knallten die Türen zu, der Motor wurde gestartet. »Jedenfalls sind wir bei der Polizei und den Hotelgästen die Lachnummer des Tages«, stellte sie fest.

»Ganz bestimmt sind wir das«, bestätigte er, was ihm jedoch völlig gleichgültig war.

Sabine ging es offenbar genauso, denn ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, wechselte sie das Thema. »Haben Sie den Fingerabdruck?«

Er nickte. »Sicher.«

»Dann hat sich mein Ohnmachtsanfall wenigstens ausgezahlt.«

»Ja, der war filmreif.«