69. Kapitel

Marc scannte den Abdruck, den der vom Salzwasser faltige und aufgedunsene Daumen auf Sabines Handydisplay hinterlassen hatte, und jagte ihn der Reihe nach durch die internationalen Datenbanken.

»Das kann dauern«, murmelte Marc. »Könnte theoretisch auch ein Amerikaner, Kanadier oder Australier sein.«

»Ich weiß.« Sneijder gab Sabine das Handy zurück und verließ Marcs Unterkunft.

Falls der Tote vorbestraft war, würden sie seine Identität binnen weniger Stunden herausfinden. Falls nicht, hatten sie Pech gehabt, wussten aber zumindest, dass es sich um keinen bekannten Kriminellen handelte.

Als Nächstes holte Sneijder die Workshopunterlagen aus seinem Apartment und danach von der Rezeption die weiße Mappe mit der endgültigen Liste der Anmeldungen und den Adressetiketten für seine abschließende Briefübung. Mittlerweile war es 10.35 Uhr. Sein Kurs mit der englischen Gruppe würde in knapp einer halben Stunde beginnen.

Kaum hatte er alle Unterlagen in seiner Mappe verstaut, öffnete sich die Tür von Bianca Hagemanns Büro. Sie steckte nur den Kopf heraus und winkte ihn kommentarlos mit dem Zeigefinger zu sich.

Sneijder betrat ihr Büro, in dem es nach Kaffee und Zimt roch. »Ich habe nicht viel Zeit, mein Workshop beginnt gleich.«

Hagemann sah aus, als hätte sie eine schlaflose und anstrengende Nacht hinter sich. Sie lehnte sich an den Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Quintana führt seit den frühen Morgenstunden pausenlos ein Verhör nach dem anderen mit den Gästen und Angestellten des Hotels durch. Vor einer Stunde gab es sogar erste Apartmentdurchsuchungen mit richterlichem Beschluss – ich nehme jedenfalls an, dass das einer war … ich habe so einen Wisch noch nie gesehen.« Jetzt wedelte sie aufgebracht mit den Armen herum. »Und teilweise haben die Beamten sogar Hunde dabei.«

Sneijder warf einen Blick zum Schreibtisch, wo ein typisches Gerichtsdokument mit breitem Briefkopf lag. »Ja, das ist ein richterlicher Beschluss. Und es sind nur zwei Hunde, soviel ich gesehen habe, vermutlich ein Leichen- und ein Drogenspürhund – Standardprozedur.«

»Na, wie schön«, seufzte sie. »Woher soll ich das wissen? Ich hatte noch nie mit Ihrer Welt zu tun, und jetzt stecke ich auf einmal mittendrin.«

Sneijder presste die Lippen aufeinander. »War’s das?«

»Kennen Sie den Toten am Strand?«, fragte sie angespannt.

»Nein.«

»Hat der mit Ihren Ermittlungen zu tun?«

»Woher soll ich das wissen? Ich denke nicht.« Dann bremste er sich ein und versuchte, nicht ganz so unhöflich wie sonst zu sein. Immerhin gewährte Hagemann ihm und seinen Leuten sämtliche Freiheiten für seine Ermittlungen und deckte ihn sogar gegenüber Quintana. Zumindest bis jetzt. Andererseits blieben ihr im Moment gar nicht viele andere Möglichkeiten übrig.

»Ich verstehe, dass Sie nervös sind«, lenkte er ein, »aber ich verspreche Ihnen, dass die ganze Show heute Abend vorbei ist.«

»Heute Abend?«, wiederholte sie skeptisch.

»Heute Abend.« Entweder würde er bei seinem Treffen mit Ramona freiwillig von ihr erfahren wie, wo und wann es mit den Einbrüchen weiterging – oder er würde ignorieren, dass es im Hotel vor Polizei nur so wimmelte, sie ordentlich in die Mangel nehmen und alles aus ihr herausquetschen, was sie wusste. Wenn selbst das nichts brachte, würde er sie Quintana als Mörderin ausliefern und seinen Aufenthalt auf Mallorca beenden. Zu Hause warteten genug andere Aufgaben auf ihn.

»Ich vertraue darauf«, seufzte Hagemann. »Einen weiteren Toten kann ich hier nicht brauchen. Dann ist der Ruf des Hotels komplett im Eimer, und ich sitze arbeitslos auf der Straße.«

»Sie könnten in Wiesbaden in der Kantine der BKA-Akademie die Menüs austeilen«, schlug er vor. »Ich würde ein gutes Wort für Sie einlegen.«

»Das würden Sie wirklich für mich tun? Nettes Angebot, vielen Dank, dann könnte ich Ihnen auch jeden Tag in die Suppe spucken.« Sie verzog die Lippen zu einem Schmollmund und warf ihm einen warnenden Blick zu. »Bringen Sie Ihren Job zu Ende – und zwar ohne weitere Vorfälle.«

Genau das hatte er vor. » Goedendag!« Er drehte sich um und verließ ihr Büro.

Schnurstracks ging er am Quallentank vorbei durch die Lobby und in den Verbindungstrakt zum Nebengebäude, wo sich der Seminarraum Hemingway befand.

Die Glasschiebetüren zur Terrasse waren offen, die Vorhänge bauschten sich in der frischen Meeresbrise. Ramona war bereits da – als Einzige. Sie hatte schon das Rollwägelchen mit den Gläsern, Getränken, Notizblöcken, Stiften und Kärtchen gebracht und riss gerade die noch von gestern beschrifteten Blätter von dem Flipchart herunter.

Diesmal trug sie ein eng tailliertes cremefarbenes Kleid mit den dazupassenden Schuhen, und ihre Fingernägel waren weiß lackiert und strahlten genauso wie ihr Lächeln.

»Guten Morgen.« Sneijder schloss die Tür, schob die Glastüren zu und schaltete die Klimaanlage ein. »Wie war Ihr Verhör mit Quintana?«

Sie zuckte die Schultern. » No pasa nada.«

»Geht es etwas detaillierter?«

Sie lächelte. »Er hat meinen besten Schmuck an mir gesehen und gleich kapiert, dass eine gut situierte Frau wie ich keinen Raubmord begehen würde. Der verdächtigt mich nicht.«

Bis er draufkommt, dass deine Identität ein Fake ist , dachte Sneijder. Er hielt Quintana nicht für dumm, und möglicherweise stand Ramona, ohne es zu ahnen, schon längst ganz oben auf seiner Liste Verdächtiger. »Hat Quintana Ihr Apartment durchsuchen lassen?«, fragte er.

»Nein.«

»Gab es Spuren einer heimlichen Durchsuchung?«

»Nein«, sagte sie überrascht. »Bei Ihnen?«

»Nein«, log er. Sie brauchte nicht zu wissen, dass er bemerkt hatte, dass jemand sein Zimmer durchwühlt und Conrads rotes Notizbuch geklaut hatte.

»Sie wirken ein wenig … nervös«, stellte sie fest.

Dir entgeht auch wirklich nichts. »Haben Sie gestern einen zweiten Mord begangen?«, fragte er direkt heraus.

»Was?« Sie hielt mit ihrer Arbeit inne, stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn vorwurfsvoll an. »Sie meinen den Toten am Strand? Das ist ein Tourist, der über die Klippen gestürzt ist.«

»Wird zumindest behauptet«, entgegnete Sneijder. »Aber das beantwortet meine Frage nicht. Haben Sie den Mann getötet?«

» No, puta mierda!« , rief sie. »Das war ich nicht, und – bevor Sie fragen – das hat auch keiner meiner Freunde getan. Auch wenn es keine dumme Idee gewesen wäre, um für Ablenkung zu sorgen und die Polizei zu beschäftigen.«

Freunde? Sneijder wurde hellhörig, ließ sich seine Überraschung jedoch nicht anmerken.

»Vielleicht war es ja Ihre Tochter?«, knurrte Ramona vorwurfsvoll.

»Meine Tochter arbeitet anders«, sagte er kalt.

»Okay, ich war es jedenfalls nicht.«

»Gut, ich glaube Ihnen.« Ihre Reaktion wirkte echt. Was aber auch bedeutete, dass, falls der Tote doch nicht verunglückt war, es außer Ramona noch mindestens einen zweiten Mörder auf der Halbinsel gab.

Sie wollte noch etwas sagen, als sich im Gang Schuhgetrampel und Stimmen näherten. Gleich würde die Tür aufgehen, und die ersten englischsprachigen Teilnehmer würden den Raum betreten.

Sneijder sah zum Wägelchen. »Sie müssen mir heute beim Einstieg in den Workshop nicht helfen. Ich habe alles – und Sie können gleich loslegen.« Er öffnete seine Mappe und reichte ihr eine Kopie der Teilnehmerliste.

»Sie schaffen das allein?«

Er gab keine Antwort darauf. »Passen Sie auf, dass es diesmal keine Toten gibt. Und lassen Sie sich nicht erwischen. Es läuft unglaublich viel Polizei auf dem Gelände herum«, mahnte er sie.

»Okay, und Sie sagen rechtzeitig Bescheid, wenn wieder jemand den Workshop verlässt oder gar nicht erst erscheint.«

» Adiós!« , sagte Sneijder.

Die Tür flog auf, und eine Gruppe lautstark lachender Briten stürmte herein. Diesmal waren es hauptsächlich Männer.

Ramona rollte die Liste zusammen, winkte mit den Fingern der anderen Hand und verließ mit wiegenden Hüften den Raum.

Während die Teilnehmer Ramona nachglotzten, tippte Sneijder eine SMS an Sabine. » Sie können Ramona schon folgen. Falls Sie bemerkt werden, kein Problem – sie weiß mittlerweile, dass Sie meine Tochter sind.«