Am späten Nachmittag hatte Sneijder seine Gruppe lustiger und lautstarker Engländer, Schotten und Iren – neun Männer und vier Frauen, die ihm seine spitzen Kommentare mit gleicher Münze heimzahlten – durch den Workshop geboxt.
Da es diesmal nur dreizehn Teilnehmer waren, ging alles rascher als am Vortag, und um sechzehn Uhr machte er die letzte Pause vor der Abschlussübung mit dem Brief. Während die Truppe – allesamt Börsenspekulanten, Immobilienmakler, Ärzte, Anwälte und Industrielle – auf der Terrasse stand, ein dunkles Bier nach dem anderen wegkippte und sich gegenseitig derbe Witze über britische Politiker erzählte, stand Sneijder abseits und las auf seinem Handy die aktuellen Geheimdienstnachrichten aus Deutschland.
Zu Hause wurde vereinzelt schon darüber diskutiert, ob man, ähnlich wie in Frankreich oder England, Terrorwarnstufen einführen sollte, auch wenn man sich in Deutschland vor Jahren dagegen entschieden hatte. Zum Glück hatte es an diesem Tag – zumindest bis jetzt – keinen weiteren Anschlag gegeben. Aber vermutlich war das nur die Ruhe vor dem Sturm. Relative Ruhe, denn an einigen Stellen begann es bereits zu brodeln. Bis jetzt wusste die Öffentlichkeit zwar noch nicht, dass eine neue RAF-Generation hinter den Anschlägen steckte, aber sobald das bekannt war, würde der Teufel los sein. Eine Welle der Sympathie würde von links auf die lautstarken Proteste rechter Organisationen treffen, die gegen den neuen linken Terror aufmarschierten. Und all das würde die Stimmung im Land nur noch mehr aufheizen.
Er wischte die Nachrichten weg und schaltete sein Handy aus. Wenn das so weiterging – woran kein Zweifel bestand, da die Ankündigungen eindeutig gewesen waren –, würde ihm und seinen Kollegen vom BKA die Sache rasch über den Kopf wachsen. Du musst unbedingt Ergebnisse liefern und den ganzen Spuk beenden , dachte er, sonst beendet der Spuk dich!
Er stieß einen Pfiff aus und deutete zum Seminarraum. Alle folgten ihm, und er schloss den Kurs mit Conrads Briefübung ab. Diesmal wehrte sich niemand dagegen, als er die Kuverts einsammelte und in sein Sakko steckte. Beim Verabschieden klopften ihm sogar einige auf die Schulter und nannten ihn einen coolen Dude . Normalerweise hätte er das nicht so stehen lassen, quittierte es jedoch diesmal nur mit einem müden Lächeln. Für weitere Wortgefechte plagten ihn im Moment zu viele Probleme.
Noch bevor sich die Teilnehmer in alle Richtungen zerstreuten, schickte er von Paculas Handy aus eine SMS an Ramona.
» Workshop beendet!«
Während die Damen vom Service kurz darauf den Seminarraum wieder auf Vordermann brachten, stand er allein auf der Terrasse, blickte zum Strand hinunter und telefonierte mit Marc, diesmal mit seinem eigenen Handy. Dabei lehnte er das Telefon an eine Palme hinter der Balustrade und öffnete den Videochat.
Im Vordergrund sah er Marcs Gesicht, hinter Marc hockte Miyu im Zimmer, blickte nur kurz auf und arbeitete dann wieder weiter. »Wie war dein Workshop?«, fragte Marc.
Sneijder steckte sich den Stöpsel ins Ohr. »Kenne jetzt eine Menge derber schottischer Witze.«
Marc grinste. »Wollten die Teilnehmer in deiner Gegenwart lustig sein?«
»Hast du einen Treffer gelandet?«, knurrte Sneijder.
Schlagartig wurde Marc ernst. »Ich habe den Fingerabdruck durch sämtliche Datenbanken weltweit laufen lassen, aber nichts gefunden.«
»Europol und Interpol?«, flüsterte Sneijder.
»Auch negativ.«
Sneijder nickte, während er an der Unterlippe kaute. Möglicherweise hatte die Leiche am Strand ja gar nichts mit ihnen zu tun. »Was machen die anderen Recherchen?«
»Das Durchleuchten der Urlauber und des Personals? Geht schleppend voran, weil hier so viele Nationen versammelt sind und wir immer wieder auf die Auskünfte der Kollegen aus dem Ausland …«
»Ich habe nach dem Ergebnis gefragt!«
»Äh, ja … bisher haben wir keine verdächtigen Personen finden können, und immerhin sind wir schon mit gut zwei Drittel aller Leute durch.«
Miyu sah kurz auf.
»76 Prozent aller Personen«, präzisierte sie.
»Bei so viel Prominenz und Geldadel sind sicher etliche darunter, die Dreck am Stecken oder ein paar Leichen im Keller haben«, überlegte Sneijder.
»Ja, aber ohne linksterroristischen Hintergrund«, widersprach Marc. »Und während wir auf die Daten der ausländischen Kollegen warten, haben wir zwischendurch immer wieder an unserer Liste mit den Einbrüchen weitergearbeitet.«
»Und wie weit seid ihr da?«
Miyu sah wieder auf. »Die ist mittlerweile komplett. 152 Einbrüche mit einem Gesamtwert von 141 Millionen 20 Tausend 403 Euro und …«
Sneijder stieß einen Pfiff aus. »Gute Arbeit … schickt diese Liste Drohmeier. Die Kollegen in Meckenheim sollen alle damit im Zusammenhang verdächtigen oder festgenommenen Kriminellen auf linksterroristische Kontakte überprüfen …« In seiner Hosentasche läutete Paculas Handy. »Ich muss Schluss machen.« Er zog sich den Stöpsel aus dem Ohr, ließ sein Handy in der Anzugtasche verschwinden und blickte auf das Display von Paculas Telefon. Ramona rief an. »Sind Sie fertig?«, fragte er.
»Ja. Mit wem haben Sie gerade telefoniert?«
Aha! Du beobachtest mich also. Er blickte auf und sah, wie sie zwischen den Apartments in seine Richtung kam. Sie hatte ihre dunkle Einbrecherkluft wieder gegen ihr cremefarbenes Kleid getauscht. »Mit meiner Tochter.«
»Die ist mir heute ein paarmal begegnet.«
»Wollte nur sichergehen, dass Sie Rückendeckung haben, falls Sie in Schwierigkeiten geraten«, sagte er prompt.
»Habe nur neun Apartments geschafft – war viel Polizei unterwegs.«
»Alles Weitere besprechen wir unter vier Augen.« Er beendete das Gespräch und wartete, bis sie die Terrasse erreichte.
Gut gelaunt setzte sie sich auf die Balustrade, schlug ein Bein über das andere, stützte sich mit den Armen hinten ab und schüttelte das lange schwarze Haar im Wind aus.
Diese Frau war wirklich ein Phänomen. Sie hatte unter dem Radar der Kripo am helllichten Tag neun Apartments durchsucht, war nicht geschnappt worden, wirkte kein bisschen gestresst und strahlte jetzt übers ganze Gesicht, als hätte sie den perfekten Urlaubstag hinter sich.
Sneijder griff in die Innentasche des Sakkos und reichte ihr den Stapel Briefe der britischen Gruppe. »Dreizehn Stück.«
»Gut, ich sortiere die aus, in deren Apartments ich es nicht geschafft habe.«
Er dachte an das Versprechen, das er Bianca Hagemann gegeben hatte, heute Abend alles zu Ende zu bringen. »Wollen wir heute vor unserer Besprechung gemeinsam zu Abend essen?«
Sie lächelte. »Neunzehn Uhr im großen Restaurant?«
Er nickte.
»Heute gibt es einen asiatischen Abend mit Livemusik.« Sie wischte sich das Haar hinters Ohr und tat so, als wollte sie tanzen. »Danach kommen Sie zu mir ins Apartment, sagen wir um halb neun. Dort öffnen wir dann die Kuverts und gehen alle bisherigen Informationen durch. Vergessen Sie die Briefe von der deutschen Gruppe nicht.«
»Keine Sorge.« So professionell, klar strukturiert, effizient und zielstrebig, wie diese Frau arbeitete, wirkte es beinahe, als leitete sie die Operation auf Mallorca und nicht Ron D. Pacula. Die Frage war, ob es genauso abgelaufen wäre, wenn Conrad selbst hergekommen wäre.
Jedenfalls war dieses Treffen nach dem Abendessen in ihrer Unterkunft seine letzte Chance, hier vor Ort mehr über das Netzwerk der RAF zu erfahren. Plötzlich kam ihm ein absurder Gedanke. Was, wenn Ramona in Wirklichkeit Ruth-Allegra Francke ist? Aber wüsste sie dann nicht, dass er gar nicht Paul Conrad war, und hätte ihn die ganze Zeit über verarscht? Warum hätte sie sich auf so ein Spiel einlassen sollen? War sie tatsächlich so durchgeknallt?
Vielleicht. Und möglicherweise hatte ja sogar sie das rote Notizbuch aus Conrads Koffer geklaut.
»Was haben Sie?«, fragte Ramona.
Sneijder mahlte mit den Backenknochen. »Bei meiner Flucht aus Deutschland musste ich sämtliche Unterlagen verbrennen, damit sie den Ermittlern nicht in die Hände fallen … Handys, Notebooks, Computer, Festplatten, USB-Sticks.«
»Und?«, fragte sie lauernd.
»Möglicherweise werden meine alten Kanäle überwacht, und ich frage mich, wie wir am besten mit den Genossen der Bewegung in Kontakt treten sollen.«
»Okay, verstehe.« Mit spitzen Fingern zupfte sie sich eine lose Wimper aus dem Augenwinkel, dann lächelte sie. »Lassen Sie das meine Sorge sein.«