71. Kapitel

Lea hatte nur noch eine einzige Chance, um herauszufinden, was Pacula mit den Briefen gemacht hatte – und zwar nach seinem heutigen Workshop mit der englischsprachigen Gruppe. Also saß sie auf der Terrasse im Schatten einer Palme, trank frisch gepressten Orangensaft und wartete das Ende der Veranstaltung ab.

Um sich abzulenken, hatte sie sich ein Buch aus der Hotelbibliothek geholt, bekam allerdings nicht wirklich mit, was sie da eigentlich in dieser zerfledderten Liebesschmonzette las. Lustlos überflog sie die Seiten, während sie immer wieder einen Blick über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg zum Seminarraum Hemingway warf.

Endlich war der Workshop zu Ende, und Pacula betrat die Terrasse vor dem Seminarraum. Interessanterweise telefonierte er hintereinander mit zwei verschiedenen Handys, und dann tauchte auch schon seine Assistentin Ramona auf, mit der er jetzt an der Balustrade plauderte.

Mit dem Typen stimmt irgendetwas nicht , stellte Camilla fest.

»Wissen wir doch schon, nachdem wir sein rotes Notizbuch entdeckt haben«, murmelte Lea. Sie legte ihre Lektüre auf den Tisch, nippte am Glas und tat danach so, als würde sie mit ihrem eigenen Handy telefonieren, das in Wahrheit aber immer noch ausgeschaltet war. Dabei sah sie in die Ferne, schielte jedoch durch die Sonnenbrille zu Pacula und seiner glamourösen Assistentin.

Sie wirkt ja ziemlich entspannt und locker, er allerdings eher nicht so.

»Der wirkt generell nicht sehr relaxt«, kommentierte Lea und musste diesmal nicht vertuschen, dass sie sprach.

Du müsstest öfter so tun, als würdest du telefonieren, wenn du mit mir sprichst.

»Ich kann doch nicht pausenlos mit einem Telefon am Ohr herumlaufen.«

Machen andere doch auch. Aber vielleicht haben die ja genauso einen an der Waffel wie …

»Sei doch mal still!« Lea kniff die Augen zusammen. »Schau an, schau an …«

Ihr hat er also die Briefe gegeben. Kein Wunder, dass wir nichts bei ihm gefunden haben.

»Darauf hätten wir eigentlich kommen können.«

Dann finden wir die Briefe vom gestrigen Workshop also in ihrem Apartment.

»Und wo ist das?«

Ich habe sie mal mit Flossen und Taucherausrüstung zum Apartment Ojo Gótico gehen sehen.

»Nur hingehen … oder auch rein gehen?«

Hingehen!

Lea sah, wie Ramona sich von Pacula verabschiedete. Automatisch nahm sie ihr Telefon herunter, leerte das Glas, schnappte sich ihr Buch und stand auf. Mit einigem Abstand folgte sie der Frau.

Fünf Minuten später verschwand diese tatsächlich im Ojo Gótico . Die Heckenreihe vor dem Eingang war perfekt. Niemand würde es bemerken, wenn sie heute Abend in Ramonas Apartment einstieg.

»Bald haben wir alles erledigt«, murmelte sie und ging zu ihrer eigenen Unterkunft.

Dort kontrollierte sie als Erstes am Computer die Überwachungskameras auf ihrem Grundstück. Erleichtert atmete sie auf. Das Wetter in Kufstein war immer noch perfekt sonnig, und das Loch für das Fundament genauso unverändert wie in den letzten beiden Tagen, als handelte es sich um ein festgefrorenes Standbild.

Sie ließ sich ein Schaumbad ein, legte sich ein in ein Handtuch gewickeltes Coolpack aus dem Gefrierfach auf die Stirn und döste zufrieden eine halbe Stunde in der Wanne. Danach duschte sie kalt und zog sich an. Dunkle Jeans, dunkles T-Shirt. In der Hosentasche einen Nagel, eine Büroklammer, ein Stück Draht und ein paar erneut vom Putzwagen geklaute Latexhandschuhe. So ging sie zum Haupthaus.

Kurz vor neunzehn Uhr, als das Abendrestaurant öffnete und die Liveband ihren Soundcheck beendete, war sie eine der ersten Gäste auf der Terrasse. Sie saß an einem schön gedeckten Tisch unter einem großen weißen Sonnenschirm, aß mit Stäbchen einen kleinen Teller Sushi mit Butterfisch und Lachs, trank Jasmintee dazu und hielt nach Ramona Ausschau. Irgendwann würde sie bestimmt hier auftauchen. Und in der Tat – zehn Minuten später betraten Pacula und kurz darauf auch Ramona das Restaurant, Letztere mit hohen Riemchenstöckelschuhen und einem eleganten schwarzen Wickelkleid, das vorne zwei raffinierte Schlitze hatte.

Lachend setzte sie sich zu Pacula an den Tisch und strich dabei den Rock nach hinten, sodass er einen großzügigen Blick auf ihre wohlgeformten Oberschenkel gewährte.

Was für ein schönes Paar , kommentierte Camilla – und diesmal klang es gar nicht ätzend.

Lea wollte bereits aufstehen, um ihren Tisch zu verlassen, als plötzlich der junge Banker vom gestrigen Workshop vor ihr stand. Er trug wieder den sportlichen Armani-Anzug und hatte dieselbe dicke Omega am Handgelenk. Nur die schulterlangen Haare waren jetzt mit Gel nach hinten geklatscht, was fürchterlich aussah. Außerdem trug er orangefarbene Socken zu seinem Anzug.

»Du willst schon gehen?«, fragte er. »Wie schade, ich wollte dir gerade Gesellschaft leisten.«

Um uns flachzulegen?

Lea war so baff, dass ihr gar nichts darauf einfiel.

»Wir hatten gestern einen schlechten Start«, sagte er. »Tut mir leid, was ich beim Hinausgehen zu dir gesagt habe, Vicky. War nicht so gemeint. Du bist nämlich echt nett.«

»Was?«, fragte sie perplex.

»Hast du deinen Brief wiederbekommen?«

Erst jetzt wurde ihr klar, was der Typ eigentlich meinte. Mitgefangen, mitgehangen, hatte er ihr schadenfroh zugeraunt. Der Junge war ihr so was von unwichtig, dass sie sich nicht einmal an seinen Namen erinnern konnte.

Lass ihn stehen und geh! Wir müssen was erledigen!

»Sorry, aber …«

»Tut mir leid, wenn ich dich so überfalle, aber das ist nun mal meine Art. Ich komme immer direkt zum Punkt«, redete er weiter, mit den Händen lässig in den Hosentaschen. »Es muss dir nicht peinlich sein, wenn du mit einem jüngeren Mann zu Abend isst.«

Echt jetzt?

Lea erhob sich und legte die Serviette auf den Tisch.

»Wenn du keinen Hunger hast, können wir auch gern etwas an der Bar trinken oder in der Stranddisco …«

»Klar können wir mal was trinken gehen«, sagte sie, »aber nicht miteinander.«

Er ignorierte ihre Antwort und blieb hartnäckig stehen. »Schau, Vicky, wie du weißt, habe ich ein Faible für ältere Frauen, vor allem, wenn Sie so interessant sind wie du. Das muss dir wirklich nicht peinlich sein.«

»Also ehrlich, ich …« Lea schloss für einen Moment die Augen und presste sich den Finger zwischen die Augenbrauen.

Mein Gott, serviere den Typ endlich ab!

»Weißt du, was deine Augen, dein süßer Tiroler Akzent, dein Lachen und deine Art gemeinsam haben?«, fragte er sie. »Sind alle extrem faszinierend und …«

»Weißt du, was deine Frisur, dein Kleidungsstil, deine Erziehung und dein Charakter gemeinsam haben?«, unterbrach sie ihn.

Ja, sind alle scheiße!

Plötzlich musste Lea laut auflachen und hielt sich die Hand vor den Mund. »Sind alle scheiße«, wiederholte sie laut. »Sorry, Kleiner, aber such dir ein anderes Opfer.« Sie ließ ihn stehen, ging an der Liveband vorbei, die gerade den ersten Song anspielte, und verließ die Terrasse.

Den Einbruch nachts zu bewerkstelligen, wäre ihr lieber gewesen. Aber sie musste es jetzt tun, solange Ramona mit Pacula zu Abend aß, auch wenn es noch mindestens eineinhalb Stunden lang hell sein würde.

Zügig ging sie in jenen Teil der Anlage, in der sich das Apartment Ojo Gótico befand.

»Verfolgt uns mein Verehrer?«, murmelte sie.

Die arme Sau mit der Scheißfrisur? Nein, ist auf der Terrasse geblieben.

Gut! Lea erreichte Ramonas Apartment und verlangsamte ihren Schritt. Unauffällig sah sie sich um. Im Moment befand sich niemand in der Nähe. Nur ein Stück weiter weg sah sie ein paar Gäste, die ihr aber bereits den Rücken zukehrten, vermutlich auf dem Weg zum Restaurant. Sie griff in die Hosentasche, zog die Handschuhe heraus, blies kurz hinein und streifte sie über. Gar nicht so einfach, diese Mistdinger anzuziehen. Dann war sie auch schon bei der Heckenreihe, hinter der sich der Eingang zu Ramonas Apartment befand. Zum Glück hing das Do-not-disturb- Schild an der Klinke – somit würde sie auch nicht vom abendlichen Servicepersonal überrascht werden.

Keiner da, mach jetzt!

»Ja-haaa …« Sie fischte Nagel und Draht aus der Hosentasche, fuhr damit ins Schloss und hatte es diesmal gleich beim ersten Versuch offen. Rasch drückte sie sich ins Apartment und schloss die Tür hinter sich.

Abgesehen von der Klimaanlage, die kalte Luft von der Decke blies, war es ruhig. Niemand schien in der Unterkunft zu sein. Schwer atmend lehnte sie sich an die Tür und sah sich um.

»O Gott!«, entfuhr es ihr. Das Apartment sah aus, als wäre Hannibal mit seiner Elefantenherde durchgeritten. Überall lag Zeug herum, Verpackungen von Müsliriegeln, leere Dosen, dazwischen Kleidungsstücke, Schuhe, Hanteln, eine Gymnastikmatte und bunte Therabänder.

Die war sicher eine beliebte Mitbewohnerin in der Studenten-WG , bemerkte Camilla.

»Zumindest muss ich hier nicht mühsam aufpassen, dass ich keine Spuren hinterlasse.«

An die Arbeit!

Da genug Tageslicht durch die Gardinen fiel, musste sie diesmal, anders als bei Paculas Apartment, die schweren Vorhänge nicht zuziehen und konnte auch auf die Handytaschenlampe verzichten. Rasch durchsuchte sie zuerst auf der Empore und danach im Untergeschoss alle Stellen, an denen man einen Brief aufbewahren konnte. Und zwar genauso akribisch wie in Paculas Apartment. Doch sie fand nur die Briefe der englischen Gruppe. Nach zwanzig Minuten stand sie frustriert im Badezimmer, dem letzten Raum, und sah sich um.

Du glaubst doch nicht wirklich, dass sie die anderen Briefe im Badezimmer versteckt hat?

»Nein, das glaube ich nicht. Aber wo sollten sie sonst sein?« Sie starrte auf den eng geschnittenen, kurzen Neoprenanzug, der in der Wanne lag. Der schwarze Gummi glänzte nass, Ramona musste ihn kürzlich vom Salzwasser gereinigt haben. Außerdem hatte sie wohl vor dem Abendessen geduscht, da Duschtasse und Glaswand nass waren und immer noch Wasserdampf in der Luft hing.

Rasch durchwühlte sie auch hier sämtliche Schubladen und Schränke. Nachdem sie die Suche erfolglos beendet hatte, wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.

»Shit!«, fluchte sie und trat vor Wut und Frust gegen die Duschwand, sodass diese in der Halterung schepperte.

Hör auf, verdammt! Willst du schon wieder etwas ruinieren? Du kannst nicht einmal ein mickriges Apartment durchsuchen, ohne etwas kaputt zu machen!

»Ja, schon gut, ist ja nichts passiert.« Verärgert hockte sich Lea auf den feuchten Fliesenboden und starrte vor sich hin.

Und jetzt?

»Lass mich nachdenken.« Die Wand des Whirlpools war mit denselben weißen Kacheln wie der Boden verfliest. Vor der Fliese, hinter der sich der Putzschacht mit dem Abfluss verbarg, war der Boden zerkratzt. Außerdem befand sich hier eine Schmutzspur. Sie kroch darauf zu und drückte auf die lose Fliese in der Wand.

Du glaubst doch nicht wirklich, dass dein Brief da drinnen versteckt ist?

»Wer weiß?« Sie popelte die Fliese aus der Wand, stellte sie zur Seite, beugte sich tiefer und starrte in den dunklen Hohlraum, sah aber nur Staub, Spinnweben, Edelstahlrohre und ein Absperrventil.

Wie verzweifelt muss man sein, dass … Moment mal!

»Hab’s schon gesehen.«

Im Licht, das durch das Milchglasfenster ins Bad fiel, funkelte weiter hinten etwas im Schacht.

Lea griff tief hinein, ertastete mehrere kleine harte Gegenstände und zog sie heraus. Ringe, eine Halskette und rote Ohrringe. Schön verarbeitet mit teuren Rubinen. Im gleichen Moment wusste sie, wem dieser Schmuck gehörte. Besser gesagt: Gehört hatte! Käthe van Zwieten, der netten älteren Dame aus der Schweiz.

O Mann , meldete sich Camilla zu Wort. Ramona hat die Frau bestohlen und umgebracht.

»Und Pacula arbeitet mit ihr zusammen.«

Wie Bonnie und Clyde.

»Während er seine Workshops hält, beklaut sie die Urlauber.«

Wusste ich es doch! Er kam mir von Anfang an nicht wie ein richtiger Mentalcoach vor. Bestimmt war es Ramona, die unser Apartment durchwühlt hat.

»Und warum hat sie nichts gestohlen? Immerhin hat diese Person auch unseren Safe geöffnet.«

Keine Ahnung.

»Ist ja auch egal …«, murmelte Lea. Dann fiel ihr Quintanas Visitenkarte ein. Möglicherweise würde die sich doch noch als nützlich erweisen.