74. Kapitel

Sneijder stocherte lustlos mit Stäbchen in seiner Schüssel zwischen Morcheln, Tofu, gebratenen Garnelen und Bambussprossen herum.

»Na, ganz allein?«

Er sah auf und bemerkte Sabine, die vor seinem Tisch stand. Ihre Haare waren noch nass vom Duschen, und sie trug Jeans, ein Poloshirt und einen um die Taille gebundenen Pulli.

»Ramona hat mich versetzt. Ihr war es hier zu laut.«

Sabine nahm Platz. »Wie lange wollen Sie diese Farce noch aufrechterhalten?«

»Wollen – gar nicht«, antwortete er. »Aber die eigentliche Frage lautet, wie lange ich es noch kann . Ramona beginnt bereits zu ahnen, dass ich gar nicht Paul Conrad bin.«

»War eh nur eine Frage der Zeit.«

Er nickte. »Hat sowieso schon länger gedauert, als ich gehofft hatte.« Neben ihm schoss die Flamme eines Feuer spuckenden Artisten in den Abendhimmel, woraufhin Sneijder den Kopf wegdrehte und genervt seine Schläfe massierte.

Sabine schob ihm den Packen Briefe über den Tisch. »Hier.«

Sneijder wischte den Stapel auseinander und betrachtete die fleckigen und schmutzigen Kuverts. Anfangs hatte er es nur für einen Scherz gehalten, dass Sabine die Briefe weggeworfen hatte, aber die Kuverts waren wohl tatsächlich irgendwo im Müll gelandet. »Wo haben sie die wieder rausgefischt? Aus dem Gully?«

»Gar nirgends«, gab sie zu. »Sind die ganze Zeit in meinem Apartment gelegen. Marc hat versehentlich Kaffee drübergeschüttet.«

»Marc?«, wiederholte er und zog eine Augenbraue hoch.

»Ja, er hat gestern bei mir übernachtet.«

»Verstehe.« Ausnahmsweise verkniff er sich eine Bemerkung, dass sie ein unnötiges Risiko eingegangen war. War ja klar, dass die beiden nicht getrennt übernachten würden.

Sabine deutete auf die Schüssel. »Wie ist das Essen?«

»Keine Ahnung.« Er blickte auf die Uhr. Es war bereits kurz nach halb neun. »Ich muss los.« Er schob den Stapel Briefe zusammen, steckte ihn in die Innentasche seines Sakkos, das an der Stuhllehne hing, dann stand er auf und schwang sich das Kleidungsstück lässig über die Schulter.

»Wir bleiben erreichbar, falls es Ärger gibt«, sagte Sabine.

Mit dem rechnete er fest für die heutige Nacht. »Bleiben Sie in der Nähe.« Er verließ die Terrasse und machte sich auf den Weg zu seinem Apartment. Die Musik der Band wurde immer leiser, je weiter er sich vom Haupthaus entfernte, bis er schließlich nur noch das dumpfe Dröhnen der Bässe hörte.

Als er seine Unterkunft erreichte, trat er ein, öffnete den Safe, legte das Schulterholster um und rammte das Magazin in die Glock. Er lud die Waffe durch, steckte sie ins Holster und zog das Sakko darüber. Wegen des Holsters und der Briefe spannte es ein wenig um die Brust, aber er schaffte es trotzdem, es zuzuknöpfen.

Rasch verließ er sein Apartment wieder und machte sich auf den Weg zum Ojo Gótico . Es waren nur ein paar Hundert Meter.

Die Abenddämmerung hatte inzwischen eingesetzt, und es wurde rasch kühl. Aus dem Augenwinkel sah er eine Fledermaus, die im Zickzackkurs zwischen den Palmen umherflog.

Er blickte auf die Uhr. Es war schon zehn Minuten vor neun. Diesmal musste er unbedingt erfahren, wie es weiterging und wie der Kontakt zu den anderen Mitgliedern hergestellt wurde. Er brauchte ja nur ein paar Ansatzpunkte, Telefonnummern, Adressen oder Realnamen, dann konnte das BKA mit Hilfe des BND und Europols die restlichen Personen ausfindig machen und nach und nach das gesamte Netzwerk ausheben. Wenn alle reibungslos zusammenarbeiteten, würde das alles noch an diesem Wochenende über die Bühne gehen.

Er erreichte die Eingangstür des Ojo Gótico und sah Ramonas offene Handtasche neben ihren Stöckelschuhen und einem Schlüssel im Gras liegen. Verwundert ging er in die Hocke und durchsuchte die Tasche. Der übliche Frauenkram, dazu noch ein paar Euroscheine und eine Packung Kopfschmerztabletten. Ihr Handy fehlte. Falls das ein bestimmter Code für ihn sein sollte, hatte er keine Ahnung, was sie ihm damit sagen wollte.

Seltsam. Er stopfte den Schlüssel in Ramonas Tasche und nahm sie zusammen mit den Schuhen in eine Hand, damit die Sachen nicht weiterhin auffällig herumlagen. Dann richtete er sich auf, zog sicherheitshalber mit der anderen Hand die Glock aus dem Holster und drückte die Klinke sachte mit dem Ellenbogen hinunter. Die Tür schwang auf, und er trat ein.