75. Kapitel

Sicherheitshalber hatte Lea gleich nach dem Kampf mit Ramona in ihrem Apartment gründlich geduscht, den Körper dabei fest geschrubbt und danach frische Kleidung angezogen. Bis auf ein paar blaue Flecken hatte sie zum Glück keine Verletzungen davongetragen; vor allem irgendwelche Schnitt- oder Stichwunden von Ramonas Messer hätten sie auf den ersten Blick als Täterin überführen können.

Danach hatte sie die schwarzen Jeans, das schwarze T-Shirt, die Turnschuhe und Gummihandschuhe, die sie vorhin getragen hatte, in eine Plastiktüte gepackt, mit Steinen beschwert, alles fest verschnürt und am Ende des Stegs beim Jachthafen in der Abenddämmerung ins Meer geworfen. Dabei hatte sie darauf geachtet, dass sie niemand beobachtete. Zum Glück waren die meisten Urlauber ohnehin bei der asiatischen Feuershow auf der großen Terrasse.

Erleichtert darüber, dass dieser erste wichtige Schritt erledigt war, ging sie zurück zur Hotelanlage.

Sie wusste, dass man Ramonas Leiche schon bald finden würde. Allerspätestens morgen um elf Uhr am Vormittag, wenn die Mallorquinerin nicht pünktlich zum nächsten Workshop erschien. Und dann würden Quintana und die mallorquinische Kripo mit noch mehr Leuten antanzen. Nach Käthe van Zwieten und Gernot war das immerhin schon die dritte Tote innerhalb kürzester Zeit. In der Hotelanlage würde heilloses Chaos ausbrechen. Wenn das Haus nicht ohnehin gleich von den Behörden geschlossen werden würde.

»… aber dann bin ich schon lange weg«, murmelte sie im Selbstgespräch, während sie zwischen den Apartments durchlief.

Ohne Brief?

»Ja …« Sie stoppte abrupt in der Bewegung, als sie sah, wie Pacula in Richtung Ramonas Apartment ging.

»… zur Not auch ohne Brief«, murmelte sie. Wo konnten denn diese verdammten Briefe überhaupt noch sein, wenn nicht in Paculas oder Ramonas Apartment? Möglicherweise befanden sie sich ja in einem der Büros bei der Rezeption.

Was macht er da, verdammt?

»Keine Ahnung.« Lea ging weiter, langsamer diesmal, und heftete sich an Paculas Fersen.

Er war wirklich unterwegs zu Ramonas Apartment. Während er die letzten Schritte zur Eingangstür ging, verbarg sich Lea hinter einer Palme und spähte hinüber. Wegen der Hecken beim Eingang konnte sie nicht genau erkennen, was Pacula dort trieb. Aber es sah so aus, als bückte er sich. Vermutlich hatte er Ramonas Handtasche und Schuhe entdeckt.

Du hättest das Zeug ins Apartment werfen müssen!

»Jaaa …«, zischte Lea. Vorsichtig ging sie näher, reckte den Hals, und sah, wie Pacula eine Waffe zog und das Apartment betrat.

»Shit!«, entfuhr es ihr. Jetzt würde die Leiche viel früher gefunden werden, als sie gehofft hatte. Innerhalb der nächsten Stunden war hier garantiert die Hölle los, und der Boden unter ihren Füßen würde verdammt heiß werden.

Sollte sie in Anbetracht dieser Entwicklung wirklich noch einen weiteren Tag hierbleiben, um doch noch den Brief zu finden? Oder wie geplant morgen früh nach Hause fahren? Unschlüssig kaute sie an einem Fingernagel, bis sie ihn schließlich mit knirschenden Zähnen unabsichtlich abbiss. Verdammt!

Natürlich erkannte auch Camilla die Zwickmühle, in der sie sich befand. Bevor du den Brief nicht hast, kannst du von hier nicht weg!

»Was soll ich denn stattdessen tun?«, zischte sie. »Noch einen weiteren Tag im Hotel dranhängen? Ich muss heim nach Kufstein!«

Wegen des Fundaments?

»Nein, wegen der großen Bares für Rares -Abendshow im Fernsehen. Natürlich wegen des Fundaments! Ich muss zu Hause sein, wenn die Bauarbeiter kommen.«

Den Termin kannst du zur Not verschieben. Sag, dass du krank bist.

»Und riskieren, dass in der Zwischenzeit jemand Vickys Leiche findet?«, flüsterte sie. »Nein, es muss endlich eine dicke Betondecke über Vickys Grab gegossen werden, bevor ein streunender Hund beginnt, die Leiche auszubuddeln.« Ihre Nerven hielten diese Ungewissheit nicht mehr länger aus.

Aber wenn jemand den Brief liest, dann finden sie Vickys Leiche garantiert. Darum …

»Einen Punkt hast du übersehen, du Superhirn«, murmelte Lea.

Da bin ich aber gespannt.

»Sobald die mallorquinische Kripo die Leiche vom Strand identifiziert hat, werden die spanischen Behörden die österreichische Botschaft verständigen, die dann das Wiener Bundeskriminalamt informiert. Und die werden dann bei mir zu Hause antanzen, um mir mit tröstenden Worten vom tragischen Schicksal meines Lebensgefährten zu berichten.«

Camilla schwieg.

»Spätestens dann muss ich zu Hause sein«, fuhr Lea fort. »Und schlimmstenfalls könnte das schon morgen oder spätestens übermorgen der Fall sein.«

Okay …

»Ja, dazu fällt dir jetzt nichts ein«, murrte Lea. Ihre Entscheidung war gefallen. Sie würde morgen in der Früh um 6.30 Uhr die Fähre nach Barcelona nehmen – egal, was in der Zwischenzeit passierte. Die Reise würde zwar stressig werden, andererseits konnte sie im Zug schlafen, damit sie am Freitagmorgen frisch und ausgeschlafen wirkte.

Sie spähte immer noch zu Ramonas Apartment hinüber. Seltsamerweise hatte sie bis jetzt weder einen erschreckten Schrei noch einen panischen Hilferuf gehört. Einige Minuten waren bereits vergangen, und Pacula befand sich immer noch in der Unterkunft.

»Außerdem habe ich ja noch diese Nacht Zeit, um irgendwie an den Brief zu kommen«, überlegte sie laut.

Und wo könnte der sein?

»Möglicherweise bei der Rezeption.«

Ich hätte da eine Idee, wie wir den Herrn Mentalcoach ausschalten und gleichzeitig für etwas Chaos in der Anlage sorgen könnten.

»Ich auch.« Sie setzte sich in Bewegung und lief zur Strandbar, die direkt neben der Diskothek lag.

Im Trubel der Gäste drängte sie sich zum Tresen und holte Quintanas Visitenkarte aus der Bauchtasche. Danach rief sie vom alten Festnetzapparat aus den mallorquinischen Kommissar an.

Es läutete dreimal.

» Hola?« , meldete er sich.

Sie legte die Hand ein wenig über die Sprechmuschel und verstellte ihre Stimme. »Ich habe soeben einen Mord in einem Apartment im Aurelia Bay Club Resort beobachtet.«