79. Kapitel

Sneijder hatte die Nacht in einer Zelle am Polizeiposten in Palma in Untersuchungshaft verbracht. Der Raum befand sich im dritten Stock der Policía Local de Palma , war acht Quadratmeter groß und verfügte gerade mal über eine Toilette, ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl. Sämtliche Möbelstücke waren aus Metall und fest im Boden verschraubt. Aus der Wasserleitung kam kein einziger Tropfen, und zum Trinken hatte er nur einen halb vollen Plastikbecher bekommen. Schnürsenkel und Hosengürtel hatte man ihm abgenommen. Warum man ihn für das Verhör ausgerechnet hierhin gebracht hatte, in die Carrer de son Dameto 1, und nicht aufs Comisaría de Policía , das Kommissariat der Kripo im Norden der Stadt, wusste er nicht.

Dieses Gebäude hier lag westlich vom Stadtzentrum, etwa einen Kilometer vom Meer entfernt. Das vergitterte Fenster in seiner Zelle war in Kopfhöhe. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, sah er die hohen Laubbäume, und wenn er sich am Fensterbrett hochzog und das Ohr an die Scheibe presste, hörte er den Straßenlärm.

Kommissar Quintana hatte ihn seit den frühen Morgenstunden mehrmals verhört, stets in Begleitung eines anderen Polizisten. Sneijder hatte von Anfang an immer wieder die Wahrheit über seine Person und die Hintergründe seines Aufenthalts auf Mallorca erzählt, mit knappen und präzisen Sätzen ohne irgendwelche Beschönigungen. Danach war Quintana rausgegangen, wo er offenbar seine Angaben überprüfte, um dann das Verhör von vorne zu beginnen. Seit Stunden drehten sie sich so im Kreis, ohne dass etwas Neues passierte, und Sneijder wurde von Mal zu Mal ungemütlicher und hielt mit seiner Meinung über Quintana und seine Kollegen immer weniger hinter dem Berg.

Mittlerweile war es später Nachmittag, die Luft im Raum war stickig, die Hitze wurde unerträglich, und Sneijder schmorte in Handschellen im eigenen Saft – genauso, wie er es jahrelang mit seinen eigenen Verdächtigen gemacht hatte, wenn er sie kleinkriegen wollte.

Abgeschnitten von sämtlichen Informationen, hatte er keine Ahnung, was gerade in Deutschland passierte, worüber Drohmeier bereits informiert war und ob Sabine, Marc und Miyu es außer Landes geschafft hatten oder ebenfalls verhaftet worden waren. Sein einziger Trost war, dass ihm an diesem Tag der Workshop mit der französischsprachigen Gruppe erspart geblieben war.

Ohne seine Armbanduhr konnte Sneijder die Uhrzeit nur schätzen, und am Stand der Sonne und dem Schatten, den die Bäume warfen, vermutete er, dass es bereits nach siebzehn Uhr sein musste, als Quintana erneut in die Zelle kam.

Diesmal hockte er sich nicht vor Sneijder an den Tisch, sondern blieb vor ihm stehen. Sneijder sah nicht auf, hielt die Augen geschlossen, atmete langsam und drückte sich die Fingerknöchel seitlich an die Schläfen, um den überwältigenden Druck der Kopfschmerzen zu reduzieren.

»Wissen Sie, was meine Kollegen über Sie sagen?«, fragte Quintana.

Sneijder sah kurz mit müdem Blick auf. »Woher soll ich das wissen, bin ich Hellseher?«

»Das war eine rhetorische Frage«, bemerkte Quintana.

»Ach so, das sollten Sie das nächste Mal dann vielleicht erwähnen.«

»Also wollen Sie nun wissen, was meine Kollegen über Sie sagen?«

Sneijder nickte zur Tür. »Diese Idioten da draußen? Nein, behalten Sie es für sich.« Er schloss wieder die Augen. »Was andere über mich denken, geht mich nichts an«, sagte er gelangweilt.

Quintana schnaufte genervt. »Mittlerweile müssten Sie extrem hungrig sein«, stellte er fest.

Sneijder hielt die Augen geschlossen und verstärkte den Druck. Hungergefühle hatten ihn noch nie besonders gestört. »Geben Sie mir meine Zigaretten, ein Streichholz, eine Tasse Vanilletee und eine starke Kopfschmerztablette, dann wird niemand verletzt.«

»Mit Sport lassen sich Stresshormone übrigens wunderbar abbauen, falls Sie da Probleme haben.«

Sneijder sah auf. »Mit einem Joint auch.«

Quintana lächelte milde, griff in die Hosentasche, holte Sneijders eingedrückte Zigarettenschachtel heraus und warf sie ihm zusammen mit einem Streichholzheftchen auf den Tisch. Dann griff er zu dem kleinen Funkgerät an seinem Gürtel. »Eine Tasse Tee für Zelle Nummer sechs«, sagte er auf Spanisch.

»Vanilletee!«, präzisierte Sneijder.

» Té de vainilla.« Quintana klemmte das Funkgerät wieder an seinen Gürtel, ging zum Fenster und öffnete es mit einem Inbusschlüssel, sodass heiße, aber frische Luft hereinströmte.

Das Heftchen stammte aus einem Nachtclub in Palma. Sneijder riss ein Streichholz an und zündete sich einen Joint an. Dankbar schloss er die Augen, inhalierte kräftig und ließ den Rauch lange in der Lunge, ehe er mehrere Rauchringe durch den Raum schickte. »Warum plötzlich so entgegenkommend?«, krächzte er und wischte sich einen Tabakfussel von den Lippen.

Quintana setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Wir haben mittlerweile all Ihre Aussagen überprüft.«

Sneijder zog eine Augenbraue hoch. »Sie sind ja von der ganz schnellen Truppe.«

Quintana ignorierte seinen ätzenden Tonfall. »Sie haben in allen Punkten die Wahrheit gesagt.«

»Und dafür haben Sie einen ganzen Tag gebraucht?«

»Ihre zynischen Bemerkungen helfen uns nicht weiter.«

»Nett sein könnte ich auch, bringt aber nichts.«

Quintana atmete seufzend durch. »Okay, also mittlerweile wurden wir auch vom deutschen Bundeskriminalamt offiziell darüber informiert, wer Sie sind, welche Position Sie und Ihre Kollegen innehaben, an welcher Sache Sie dran sind, dass Ron D. Pacula nie existiert hat, wer Paul Conrad und Anna Bischoff sind, dass die beiden schon seit Tagen tot sind und mitverantwortlich für die Planung der jüngsten Terroranschläge in Deutschland waren.«

Das alles war Schnee von gestern und interessierte Sneijder nicht. »Hat es heute neue Anschläge gegeben?«

»Das weiß ich nicht.«

»Mann, Sie brauchen doch nur die Nachrichten zu hören!«

»Im Moment habe ich ganz andere Sorgen als Ihre Handvoll Anschläge in Deutschland.«

»Das wird sich ab morgen dramatisch ändern.«

»Auch das haben wir mittlerweile erfahren.« Quintana atmete tief durch und senkte die Stimme. »Ist wirklich eine neue Generation der RAF dafür verantwortlich?«

Sneijder nickte, hob die gefesselten Hände und schnippte die Asche in den Plastikbecher.

»Das BKA hätte von Anfang an mit offenen Karten spielen und mit uns in dieser Sache kooperieren sollen.«

Ja, sicher, tolle Idee! »Wir mussten binnen weniger Stunden eine Entscheidung treffen«, erklärte Sneijder. Eigentlich waren es am Flughafen München ja sogar nur wenige Minuten gewesen, in denen Drohmeier und er diesen Plan ausgeheckt hatten. »Und Sie wissen, wie lange offizielle Anfragen und diplomatische Kontaktversuche zwischen Wiesbaden und Madrid dauern. Dann säßen wir nämlich noch heute in Deutschland, würden E-Mails verschicken und hätten den Kontakt zu Ramona entweder gar nicht aufbauen können oder rasch wieder verloren. Selbst wenn Sie Ramona in der Zwischenzeit verhaftet hätten, wüssten wir gar nichts, da sie den Mund nicht aufgemacht hätte.«

»Jetzt ist sie tot – und wird den Mund erst recht nicht aufmachen«, konterte Quintana. »Und dann wäre da noch Käthe van Zwieten – der Mord an dieser unschuldigen alten Dame hätte verhindert werden können.«

»Durch die Anschläge in Deutschland werden noch viel mehr Menschen sterben.«

»Ich werde mit Ihnen nicht über den Wert eines einzelnen Menschenlebens diskutieren, außerdem ist die bevorstehende Terrorwelle bis jetzt nur eine theoretische Annahme. Fakt hingegen ist, dass Sie durch Ramonas Tod genauso wenig wissen wie vorher.«

Sneijder hob den Blick und lächelte eiskalt. »Sehen Sie, und genau das ist der Irrtum«, entgegnete er. »Denn jemand hat sie ermordet. Und darum wissen wir, dass es eine weitere Person im Hotel geben muss, hinter der wir her sind.«

»Okay«, seufzte Quintana und breitete die Hände aus. »Die Spurensicherung konnte Ramona zwar den Einbruch und Mord an Käthe van Zwieten nachweisen, aber uns fehlt jeglicher Hinweis auf Ramonas Mörder.«

»Ich habe es Ihnen doch bereits gestern gesagt – und heute mehrmals wiederholt«, wurde Sneijder laut. »Sie müssen herausfinden, wer Ihnen den Tipp mit Ramonas Apartment gegeben hat, dann haben Sie Ihre Mörderin.«

»Der Anruf kam von der Bar neben der Stranddiskothek.«

»Okay, dann müssen Sie eben herausfinden, wer um diese Uhrzeit dort war.«

»Das ist nicht so einfach, wie Sie denken.«

»Verdomme , ich weiß sehr genau, wie schwierig das ist, Sie hansworst  – dann müssen Sie eben kreativ werden.«

»Jeder könnte von dort aus angerufen haben. Es gibt keine Überwachungskameras und auch keine Zeugen, die jemanden telefonieren gesehen haben.«

»Mittlerweile haben Sie doch die Fingerabdrücke von allen Gästen im Hotel.«

»Die wurden vom Hörer weggewischt.«

»Ah, godverdomme !«, fluchte Sneijder.

»Warum sind Sie überhaupt so sicher, dass da ein Zusammenhang zur Terrorgruppe besteht?«

»Weil es so ist!«

»Das verstehe ich nicht.«

»Besser kann ich es nicht erklären, nur lauter!«, brüllte Sneijder.

Es klopfte an der Tür, und ein uniformierter Kollege brachte einen dampfenden Plastikbecher mit einem Teebeutel darin herein, den er vor Sneijder auf den Tisch stellte. Sneijder roch gleich, dass es parfümierter Früchtetee war. Den konnten sie selbst trinken. Angewidert schob er den Becher zur Seite, versenkte den Zigarettenstummel darin, fummelte die nächste Kippe aus der Packung und zündete sie an.

Quintana ignorierte Sneijders Aktion.

»Wie oft denn noch?«, fragte Sneijder, nachdem der Polizist den Raum wieder verlassen hatte. »Mein Bauchgefühl sagt mir, dass Vicky Fuchs etwas damit zu tun hat. Sie müssen sie vernehmen.«

»Hatten wir auch vor …«, gab Quintana zu, »… aber sie ist inzwischen verschwunden.«

»Verschwunden?« Sneijder sah auf. »Ich habe sie gestern Nacht bei meiner Verhaftung noch in der Hotelanlage gesehen.«

»Das mag ja sein, aber seit den frühen Morgenstunden ist sie weg. Die Damen an der Hotelrezeption sagten, dass sie einen Ausflug nach Palma machen wollte. Von dem ist sie noch nicht wieder zurückgekehrt.«

Sneijder klemmte den Joint zwischen die Finger und vergrub das Gesicht in den Händen. »Das wird sie auch nicht«, murmelte er. »Sie müssen den Flughafen und alle Fähranlegestellen überprüfen.«

»Das tun wir bereits. Bisher haben wir nur herausgefunden, dass sie mit dem Taxi nach Alcúdia gefahren ist, danach verliert sich ihre Spur …« Plötzlich riss Quintana die Arme hoch. »Warum rede ich überhaupt mit Ihnen darüber?«

Sneijder sah auf. »Weil Vicky Fuchs Ihre Hauptverdächtige ist.«

»Wer leitet hier die Ermittlungen?«, brüllte Quintana, der langsam die Fassung verlor. »Ich oder Sie?«

»Anscheinend ich.« Sneijder klemmte sich den Joint in den Mundwinkel. »Denn Sie sind zu inkompetent.«

»Sie sind unglaublich eingebildet!«

»Nein«, widersprach Sneijder und klimperte mit den Handschellen, »mich gibt es wirklich.«

Quintana sah ihn lange an, bis er schließlich den Wortwitz begriff und den Mund zu einem genervten Lächeln verzog. »Eigentlich bin ich gekommen, um Ihnen zu erzählen, dass ich gute Nachrichten habe.«

»Gut für Sie oder gut für mich?«

»Für Sie.«

»Und was bedeutet das jetzt?«

»Ich persönlich würde Sie ja – trotz Ihrer höflichen und kooperativen Art – gehen lassen, aber mein Vorgesetzter legt sich quer. Der will vorher alles aufgeklärt wissen, und so lange bleiben Sie noch weiter in U-Haft.« Er griff in die Hosentasche und holte einen Schlüssel heraus. »Aber ich kann Ihnen wenigstens die Handschellen abnehmen.«

»Und das sind die guten Nachrichten?«

»Nein, aber Ihre drei Kollegen vom BKA – Miyu Nakahara, Marc Krüger und Sabine Nemez – wurden soeben freigelassen.« Quintana schloss die Handschellen auf.

Also hat Quintana sie auch verhaften lassen. Sneijder atmete tief durch und rieb sich die Handgelenke. Wenigstens sind die drei jetzt frei! »Danke.«

»Gleich bei unserer ersten Begegnung wusste ich« sagte Quintana, »dass zwischen Ihnen und dieser angeblichen Anna Bischoff mehr war als nur eine flüchtige Workshop-Bekanntschaft. Ihre Ohnmacht am Strand war nur gespielt, richtig?«

»Natürlich …« Bevor Sneijder mehr darauf erwidern konnte, klopfte es.

Quintana erhob sich und öffnete die Zellentür. Ein Kollege stand draußen und drückte ihm wortlos ein Telefon in die Hand. Quintana schloss die Tür wieder, meldete sich mit einem kurzen » Sí« und marschierte in der Zelle auf und ab, während er nur zuhörte.

Sneijder verstand nichts von dem, was die andere Person sagte, ahnte jedoch, dass es ein deutschsprachiger Gesprächspartner sein musste, da Quintana zwischendurch immer wieder ein knappes »Ja« von sich gab.

Schließlich schaltete er den Lautsprecher ein und legte das Telefon vor Sneijder auf den Tisch. »Ihr Vorgesetzter.«

Der Anruf hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können. »Hallo?«, knurrte Sneijder.

» Mein Gott, Sneijder, wo sind Sie da jetzt wieder hineingeraten?« , dröhnte Drohmeiers Stimme aus dem Gerät.

Sneijder gab keine Antwort. »Wie viel wissen Sie bereits?«, fragte er stattdessen.

» Ich bin von Nemez, der deutschen Botschaft und den Kollegen in Palma bereits über alles informiert worden« , fuhr Drohmeier fort. » Wann sind Sie wieder in Deutschland?«

Sneijder warf Quintana durch die Rauchwolke einen Blick zu. »Das kann noch Wochen dauern, weil die Kollegen hier zu dämlich sind, eine bestimmte Anruferin ausfindig zu machen!«

» Regen Sie sich nicht auf, Sneijder.«

»Ich rege mich nicht auf«, wurde er laut. »Die anderen regen mich auf.«

»Frühestens morgen.« Quintana setzte sich an den Tisch und beugte sich zum Telefon. »Ich gebe mein Bestes.«

» Gut, danke« , murmelte Drohmeier. » Uns bleibt nur noch ein Tag, bevor es beginnt.«

Quintana warf Sneijder einen fragenden Blick zu. »Aber es hat doch schon begonnen«, widersprach er. »Diese Anschläge in Berlin und den anderen Städten …«

» Das war nur die Vorhut, eine Ankündigung« , erklärte Drohmeier. » Seitdem ist die Polizei in höchstem Alarmzustand. Tausende Beamte ermitteln bereits bundesweit.«

Quintana runzelte die Stirn. »Und warum gab es diese Ankündigung überhaupt?«

Sneijder warf die Kippe in den Becher. Er ahnte, worauf Quintana hinauswollte. »Gute Frage. Dadurch haben sie bis jetzt nur erreicht, dass in Deutschland sämtliche Sicherheitsvorkehrungen verschärft werden.«

»Eben«, sagte Quintana. »Ist das schlau aus deren Sicht?«

» Wir fragen uns dasselbe, bisher erfolglos« , antwortete Drohmeier. » Comisario Quintana, beeilen Sie sich mit Ihren Ermittlungen – wir brauchen Sneijder zu Hause. Und Sneijder – benehmen Sie sich um Gottes willen! Ich muss jetzt zu einer Besprechung.«

» Adiós!« Quintana griff über den Tisch, beendete das Telefonat und steckte das Handy ein.

»Ich muss hier weg«, sagte Sneijder mit rauer Kehle.

Quintana erhob sich und nickte. »Ich weiß, aber leider ist der Mord an Ramona nicht unser einziges Problem. Wir müssen auch noch den Mörder finden, der den Mann vom Strand getötet hat.«

Sneijder wurde hellhörig. »Der wurde ermordet?«

Quintana nickte erneut. »Wir haben eindeutige Spuren eines Kampfes gefunden.«