83. Kapitel

Sabine saß im großen Besprechungszimmer im dritten Stock des BKA-Hauptgebäudes. Vor ihr lagen die Briefe aus Sneijders deutschsprachigem Workshop.

Comisario Quintana und seine Kollegen von der mallorquinischen Kripo hatten sie alle aufgerissen, im Beisein eines Dolmetschers und Grafologen gelesen, zwar für harmlos erachtet, aber dennoch Kopien davon angefertigt, und Sabine die Originale kurz vor ihrem Heimflug ausgehändigt. Danach waren Sabine, Marc und Miyu von Palma aus mit ihrem Gepäck nach Deutschland geflogen.

Jetzt lagen die Originalbriefe vor Sabine. Sie hatte sie mehrfach gelesen und dann an Miyu weitergereicht. Hoch konzentriert, ohne jegliche erkennbare Regung speicherte Miyu die total unterschiedlichen Inhalte mit ihrem fotografischen Gedächtnis ab.

Es waren lauter interessante Geschichten von faszinierenden, aber dennoch grundverschiedenen Menschen, die entweder schonungslos mit sich selbst ins Gericht gegangen waren oder sich zu etwas beglückwünschten oder anspornen wollten.

Ein Brief allerdings fehlte. Es waren nämlich nur vierzehn, obwohl es eigentlich fünfzehn hätten sein müssen. Käthe van Zwieten hatten den Workshop vor dieser Übung zwar verlassen, doch an ihrer Stelle war Sabine eingesprungen. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, aber ihr wollte einfach nicht einfallen, wessen Kuvert fehlte; und die Teilnehmerliste lag irgendwo unter einem Berg von Akten. Sie wollte bereits danach suchen, als Miyu vom letzten Brief hochsah, auf dem Sabine ihre eigene Handschrift erkannte.

»Ich verstehe den Sinn und den Inhalt Ihres Briefes nicht«, sagte Miyu.

»Tja«, seufzte Sabine. »Ist nicht so wichtig.« Sie hatte ihren eigenen Brief vorhin einfach beiseitegelegt und erinnerte sich nicht wirklich, was sie am Dienstag auf Mallorca zu Papier gebracht hatte, als sie wegen ihres verpatzten Urlaubs in München noch ziemlich frustriert gewesen war.

»Nicht wichtig?«, wiederholte Miyu. »Ich verstehe ihn trotzdem nicht. Lieber Maarten, du wirst diesen Brief sicherlich eines Tages lesen «, gab sie den Inhalt aus dem Gedächtnis wieder, ohne aufs Papier zu schauen. » Danke, dass du so selbstlos bist, immer an deine Kolleginnen denkst und ihnen zu einem gemütlichen und entspannten Urlaub im Ausland verhilfst, wo sie den Arbeitsalltag vergessen, sich erholen und so richtig die Seele baumeln lassen können. Danke für deine jahrelange nette, verständnisvolle, rücksichtsvolle und zuvorkommende Art. Bleib so, wie du bist, so habe ich mir den perfekten Kollegen immer vorgestellt.«

Sabine kniff die Augen zusammen. »Und?«

»Warum haben Sie den Brief an Sneijder geschrieben und nicht an sich selbst? Das war doch die Aufgabe.«

Sabine zuckte mit den Achseln. »Einfach so halt, ich war wütend.«

»Wütend? Aber Sie loben Sneijder doch in diesem Brief.«

»Das war reine Ironie.«

»Das heißt, nichts davon, was hier drinsteht, ist ernst gemeint?«

»So ist es.«

»Okay …« Miyu dachte nach. Offenbar ging sie den Brief Satz für Satz erneut im Geiste durch. »Aber den letzten Satz verstehe ich trotzdem nicht. Sneijder ist doch der perfekte Vorgesetzte und Kollege. Was ist daran ironisch?«

Sabine lachte laut auf. »Sneijder ist in Ihren Augen also perfekt?«

»Natürlich.«

»Miyu, vielleicht sind ja in Ihrem Hirn gerade zu viele Tabs offen. Denken Sie doch einmal konzentriert darüber nach. Auch Sneijder macht Fehler, so wie jeder andere auch – vielleicht deutlich weniger, aber er macht sie.«

»Vielleicht macht er nur deshalb Fehler, damit nicht gleich jeder merkt, wie perfekt er ist«, schlug Miyu vor.

»Okay …« Sabine schüttelte belustigt den Kopf. In Wahrheit macht er keine Fehler, sondern ruft Katastrophen hervor , dachte sie.

Bevor Miyu noch etwas dazu sagen konnte, klopfte es an der Tür, und ein zerknautschter, ungepflegter, älterer Kollege mit grauem Stoppelbart kam herein. Sabine kannte ihn nur flüchtig, und soviel sie wusste, war er vorübergehend vom Außendienst in die Kantine strafversetzt worden, weil es heftige Beschwerden wegen seines ungebührlichen Benehmens gegeben hatte. »Hallo«, murrte er.

»Hallo.« Sabine blickte auf die Uhr. Es war kurz nach zehn Uhr vormittags, und der Kollege brachte Kaffee und Sandwiches – das war wohl das Frühstück, das sie in der Kantine bestellt hatte. Ziemlich ruppig stellte er es zwischen Sabine und Miyu auf den Tisch. Anscheinend kam er nicht damit klar, dass Drohmeier ihn zu einer solchen Tätigkeit degradiert hatte.

»Danke«, sagte sie zu dem Mann und goss Kaffee aus der Kanne in einen Becher.

»Darf es für die Ladys sonst noch etwas sein?«

Sabine ignorierte den unverschämten Ton. »Nein danke.«

Miyu sagte nichts, griff nur nach einem Sandwich und wickelte es aus der Folie.

»Schüchtern, Ihre Kollegin, was?«, sagte er.

O Gott. Sabine massierte ihre Nasenwurzel. Sie hatte weder die Zeit noch die Geduld, diesem Idioten die Hintergründe für Miyus Verhalten zu erklären.

»Schüchtern, was?«, wiederholte er grinsend.

Miyu sah auf. »Ich bin nicht schüchtern, Sie sind mir einfach nur unsympathisch.«

»He, ich …«

»Wir haben zu tun«, sagte Sabine rasch, bevor der Kollege noch mehr von sich geben konnte. Danach ignorierte sie ihn und sah nur aus dem Augenwinkel, wie er grummelnd verschwand. »Warum solche Typen nicht gleich suspendiert werden?«, murmelte sie, nachdem er die Tür geschlossen hatte. Nächstes Mal würde sie die Brötchen selbst aus der Kantine holen.

»Er hat eine Frau und zwei kleine Kinder«, antwortete Miyu.

»Woher wissen Sie das? Er trägt nicht mal einen Ehering.«

»Von seiner Personalakte. Habe mir die aller Kollegen durchgelesen, als ich am BKA begonnen habe.«

»Reingehackt?«

»Mit meinem Daedalos-Zugang von der Akademie.«

»Okay.« Sabine zog eine Augenbraue hoch, dann deutete sie auf den Papierhaufen. »Ein Brief fehlt«, stellte sie fest.

»Ich weiß«, bemerkte Miyu kauend.

»Und welcher?«

»Der von Vicky Fuchs – ich hatte auf Mallorca Gelegenheit, einen Blick auf die Anmeldeliste zu werfen.«

Sabines Gesicht hellte sich auf. »Ja, richtig.« Jetzt erinnerte sie sich auch wieder. Das war jene seltsame Frau gewesen, die ständig Selbstgespräche geführt hatte und am Schluss der Übung den Brief von Sneijder unbedingt wieder zurückhaben wollte. Offenbar fand Quintana den Brief interessant genug, um ihn als Beweismittel einzubehalten.

»Haben wir keine Kopie?«, fragte Miyu.

»Nein.« Sabine schob den Stapel Briefe und Kuverts zusammen. »Das ist alles, was mir die mallorquinische Kripo ausgehändigt hat.«

Im gleichen Moment flog die Tür auf, ohne dass jemand angeklopft hatte. Sneijder betrat den Raum und knallte seine Handgepäck-Reisetasche mit seinem Laptop auf den Tisch.

Er sah zwar erbärmlich müde aus, trug aber ein sauberes Hemd, polierte Lackschuhe und einen frisch gebügelten Anzug. Außerdem hatte er einen Hauch von Farbe im sonst so totenbleichen Gesicht, was stets ein gutes Zeichen war. Denn es wies darauf hin, dass er im aktuellen Fall ein Stück weitergekommen war.

»Es freut mich, dass Sie wieder da sind«, entfuhr es Sabine.

Miyu warf ihr einen Blick zu. »Ist das jetzt auch wieder ironisch?«

»Nein, das meine ich ernst.« Sie blickte zu Sneijder. »Ich hätte nicht damit gerechnet, dass Quintana Sie so rasch aus der U-Haft entlässt.«

»Keine Festreden! Wir haben zu tun.« Sneijder klatschte in die Hände. »Marc muss jeden Moment kommen. Mittlerweile liegen uns alle Daten sämtlicher Urlauber aus dem Hotel vor.«

»Sie sind so gut gelaunt«, stellte Sabine verwundert fest. »Ich dachte, dass nach Ramonas Tod alle unsere Spuren kalt sind.«

»Sind sie auch, trotzdem sind wir einen Schritt weiter.«

Hinter Sneijder betrat Marc mit Notebook, Kopfhörern und mehreren Kabeln den Besprechungsraum. Zwischen seinen Zähnen klemmte ein Sandwich, und weil er keine Hand freihatte, trat er die Tür mit dem Fuß zu. Obwohl Sabine ihm zu Hause ein frisches Hemd hingelegt hatte, trug er sein ausgewaschenes graues Lieblings-T-Shirt, auf dem eine fliegende Telefonzelle zu sehen war.

Unter seiner Achsel steckten zwei Aktenmappen. Er stellte sein Notebook auf dem Tisch ab, legte den Rest der Sachen daneben und setzte sich zu Sabine.

Sneijder durchstreifte indessen unruhig den Raum. »Was hast du herausgefunden?«

Marc nahm das Sandwich aus dem Mund. »Von allen Angestellten und Gästen im Aurelia Bay Club Resort gibt es nur zwei interessante Treffer, die ins Raster linksextremer Sympathisanten passen«, erklärte er, während Sabine die beiden Dossiers öffnete und die Blätter auseinanderschob. »Gernot Wulff ist zwar in Deutschland aufgewachsen, lebt jedoch seit sechs Jahren in Österreich. Er ist IT-Techniker mit einem eigenen kleinen Computerfachladen in Tirol – völlig uninteressant, das vergessen wir gleich wieder. Aber er hatte früher in Deutschland Kontakt zu zwei ehemaligen RAF-Sympathisanten. Die österreichischen Behörden wissen nichts davon, aber es ist in den Akten unseres Staatsschutzes vermerkt.«

Sneijder hörte konzentriert zu, während ein kaltes Lächeln seine Mundwinkel umspielte. »Das passt. Gernot Wulff ist nämlich der Tote von den Klippen«, unterbrach er Marc. »Mittlerweile geht die spanische Polizei davon aus, dass er ermordet worden ist. Und die zweite Akte?«

»Eine gewisse Vicky Fuchs. Sie hatte früher ebenfalls Kontakte zur linken Szene. Ist wegen einiger kleinerer Delikte wie Handtaschen- und Kaufhausdiebstahl aufgefallen«, erklärte Marc.

Vicky Fuchs! Da war dieser Name schon wieder. Sabine warf Miyu einen kurzen Blick zu. »Das mit Vicky Fuchs könnte reiner Zufall sein«, sagte sie. »Andererseits hat die mallorquinische Kripo ihren Brief nicht herausgerückt.«

»Ich glaube nicht an Zufälle.« Sneijder griff in seine Sakkotasche, zog ein Kuvert hervor und wedelte damit herum. »Das ist ihr Brief … eigentlich hätte ich gleich draufkommen müssen.« Er warf einen Blick auf das Adressetikett, das er am Ende des Workshops selbst draufgeklebt hatte. »Beide – Gernot Wulff und Vicky Fuchs – wohnen in Kufstein.«

»Woher haben …?«, fragte Sabine.

»Quintana hat ihn mir vor meiner Abreise gegeben. Allerdings nicht den Originalbrief, sondern nur eine Kopie.«

»Aber das Kuvert ist original?«, fragte Sabine erstaunt.

»Darauf habe ich bestanden«, erklärte Sneijder. »Und für Quintana war der Umschlag sowieso unwichtig.« Er zog ein Blatt Papier aus dem Kuvert, das er auseinanderfaltete und laut vorlas. » Liebe Vicky, nach deinem Tod hatte ich tatsächlich ein schlechtes Gewissen. Habe mir enorme Vorwürfe gemacht und mir selbst die Schuld an allem gegeben. Konnte kaum schlafen, hatte Bauchschmerzen und habe mir immer wieder vorgehalten, dass ICH es war, wegen der du gestürzt bist. War es richtig, was ich danach getan habe? Dass ich so egoistisch nur an mich, meine Firma, meine Karriere, meinen Ruf und meine Zukunft gedacht habe ? Ich weiß, dir ist es völlig egal, wo du liegst, aber für mich macht es einen enormen Unterschied, ob dich jemand findet oder nicht. Ich hatte innig gehofft, dass du das verstehen würdest.

Aber dass ich heute erfahren habe, was du die letzten Jahre getan hast, dass du mein Vertrauen missbraucht, mich ausgenutzt und hintergangen hast, dass du noch dazu meinen Lebensgefährten manipuliert und für deine Pläne benutzt hast und dass ihr mir jahrelang etwas vorgespielt habt  – das verändert alles für mich. Ich bin so dankbar, das zufällig herausgefunden zu haben. Mein Gott, ansonsten hätte sich mein schlechtes Gewissen vermutlich jahrelang durch meine Eingeweide gefressen, bis ich elend daran zugrunde gegangen wäre.

Jetzt stört es mich auch nicht mehr, dass ich nicht gleich zur Polizei gegangen bin. Denn dann wäre nicht nur meine Zukunft zerstört gewesen, nein, zudem hätte ich das alles, dumm und naiv wie ich bin, niemals erfahren!

Seitdem ich dahintergekommen bin, warum du nach Mallorca fliegen wolltest, bereue ich nichts mehr. Das Schicksal hat es so gewollt.

Und so werde ich jedes Mal, wenn ich bei offenen Glastüren in der Sonne meines neuen Wintergartens sitze und arbeite, wieder an dich und deinen geliebten Seelenpartner denken, diesen rückgratlosen, miesen Arsch. Er ist dir nun gefolgt – und auch das bereue ich keine Sekunde. Ich habe mich nicht nur von einer Illusion befreit, sondern auch von euch beiden, die ihr ein teuflisches Spiel mit mir getrieben habt. «

»Das klingt alles extrem verwirrend und konfus«, sagte Marc.

»Und alles andere als aufschlussreich.« Sabine warf Miyu einen Blick zu. »Was halten Sie davon?«

Miyus Pupillen zuckten rasch hin und her, als läse sie den Text vor ihrem geistigen Auge ein weiteres Mal. »Das ergibt keinen Sinn. Vicky soll tot sein und ist irgendwo hinuntergestürzt?«

»Das ist aber noch lange nicht alles«, sagte Sneijder. »Der Brief ist mit Deine Lea unterschrieben.«

»Was mich wiederum gar nicht wundert«, sagte Sabine, »Vicky hat schließlich ständig Selbstgespräche geführt. Vielleicht hat sie eine dissoziative Identitätsstörung, und diese Lea ist eine ihrer gespaltenen Persönlichkeiten.«

Marc blätterte unterdessen durch die Dossiers, die er mitgebracht hatte. »Gernot Wulff wohnt in Kufstein bei …«

»Aber du hast doch gesagt, dass das völlig uninteressant ist und wir das gleich wieder vergessen sollen«, unterbrach Miyu ihn.

»Stimmt – aber intelligente Menschen ändern ihre Meinung«, sagt er etwas zu schroff, während er ein Blatt aus dem Dossier zog. »Gernot Wulff ist mit Hauptwohnsitz in Kufstein gemeldet, und zwar bei einer gewissen Lea Fuchs.« Er sah mit verwirrtem Gesichtsausdruck auf.

»Jetzt wird es spooky«, gestand Sabine.

Sneijder warf Marc das Kuvert über den Tisch. »Wir kennen Vickys Adresse. Nimm Kontakt mit der österreichischen Polizei auf. Die sollen Vickys Wohnsitz checken.«

»Alles klar.« Marc schnappte sich das Kuvert, zog sein Handy aus der Tasche und verzog sich in die gegenüberliegende Ecke ans Fenster, wo er in Ruhe telefonieren konnte.

Sneijder wollte etwas sagen, wurde jedoch vom Klingeln seines Handys unterbrochen.

Miyu sah auf. »Hat Marc versehentlich Sie angerufen?«

»Was?« Sneijder blickte kurz irritiert zu Miyu, dann betrachtete er sein Display. »Nein, das ist Quintana.« Er nahm das Gespräch entgegen. »Ja, was gibt es? Rasch!«

» Wir haben interessante Neuigkeiten« , rief Quintana so laut, dass Sabine ihn auch ohne Freisprechfunktion hören konnte.

»Wir auch«, unterbrach Sneijder ihn. »Ich schicke Ihnen einen Link für eine gesicherte BKA-Verbindung. Video Konferenz in zwei Minuten.«

» Alles klar.«

Noch bevor Sneijder das Gespräch beenden konnte, hatte Miyu sich bereits Sneijders Laptop geschnappt und über ein Kabel mit dem Videobeamer verbunden.

Sabine verdunkelte indessen den Raum, indem sie mit der Fernbedienung die Jalousien herabließ. Sneijders frischer Teint hatte sie nicht getrogen – ihre Ermittlungen nahmen Fahrt auf.