85. Kapitel

Nachdem Marc sein Telefonat mit der österreichischen Polizei beendet hatte, setzte er sich wieder zu ihnen an den Tisch. Mittlerweile stand die Videokonferenz mit der mallorquinischen Kripo, und der Videobeamer projizierte Quintanas Gesicht an die Wand.

Sneijder marschierte wieder nervös durch den Raum. »Welche Neuigkeiten haben Sie?«

»Bisher hat zwar unsere Fahndung nach Vicky Fuchs an allen Flughäfen, Bahnhöfen und Fährstationen in ganz Spanien mitsamt allen Baleareninseln nichts gebracht«, erklärte Quintana. »Aber wir haben ihre Handynummer herausgefunden. Das Telefon ist zuletzt am Dienstag in den frühen Morgenstunden, noch vor Sonnenaufgang, in einen Handymasten eingeloggt gewesen.«

»Zu dem Zeitpunkt, als Gernot Wulff gestorben ist?«, fragte Sneijder.

» Exactamente« , bestätigte Quintana. »Und zwar in einen Masten, der ungefähr drei Kilometer östlich des Aurelia Bay Club Resorts liegt, also auf dem Cap de Formentor.«

»Wo Gernot Wulff vermutlich die Felsen hinuntergestürzt ist«, schlussfolgerte Sneijder.

»Oder hinuntergestoßen wurde «, ergänzte Quintana. »Exactamente. Vickys Verschwinden und Gernot Wulffs Tod hängen also zusammen.«

»Und beide wohnen in Kufstein«, ergänzte Sneijder, »und haben einen terroristischen beziehungsweise kriminellen Hintergrund, wie wir mittlerweile herausgefunden haben.«

»Können Sie mir dazu genauere Informationen schicken?«, bat Quintana.

»Nein«, antwortete Sneijder, »aber ich lasse Sie gern an meinen Überlegungen teilhaben.« Er lehnte sich gegen die Fensterbank, blickte in den Innenhof des BKA-Hauptgebäudes und erklärte Quintana in knappen Worten, was sie bisher über die seit fünf Jahren andauernde Einbruchsserie herausgefunden hatten.

»Und bei seinem letzten Coup auf Mallorca hatte Paul Conrad neben Ramona anscheinend noch zwei weitere Helfer als Unterstützung für das Ausspionieren der Hotelgäste auf die Insel geholt«, überlegte Sneijder laut, während er einen Joint aus der Packung kramte, zwischen den Fingern rollte und daran roch. »Oder jemand anderer in der Organisation hat die drei ausgewählt. Denn weder Vicky Fuchs noch Gernot Wulff oder Ramona kannten Conrad persönlich. Andernfalls hätten sie wohl gemerkt, dass ich nicht Ron D. Pacula bin und sofort Kontakt mit dem RAF-Führungskader aufgenommen. Ich wäre aufgeflogen, und jemand hätte mich noch vor Ort eliminiert. Aber genau das ist nicht passiert.«

»Stattdessen wurden Gernot Wulff und Ramona ermordet – und Vicky Fuchs ist untergetaucht«, schloss Quintana die Überlegung.

»Die Theorie mit den Komplizen hinkt noch ein wenig für mich«, sagte Sabine. »Warum hat Gernot Wulff nicht Kontakt mit Ihnen aufgenommen – so wie Ramona es getan hat?«

»Vielleicht hätte er das«, vermutete Sneijder, »aber er ist bereits am Morgen nach meiner Ankunft umgebracht worden.«

»Und warum hat Vicky nicht Kontakt mit Ihnen aufgenommen und sich als Komplizin zu erkennen gegeben?«

Sneijder nickte. »Die Frage ist berechtigt. Stattdessen hat sie an meinem Workshop teilgenommen …«

Sie sahen sich ratlos an, und auch Quintana konnte nichts beitragen. Schließlich sah Sabine zu Miyu. »Was denken Sie?«

Miyus Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, als hätte sie nur darauf gewartet, dass sie jemand nach ihrer Meinung fragen würde. »Ramona ist am ersten Workshoptag in die Apartments der Teilnehmer eingebrochen. Vielleicht hätte Gernot die Einbrüche am zweiten Workshoptag übernehmen sollen, kam aber nicht mehr dazu, sich bei Pacula zu melden, da er schon tot war. Darum hat Ramona auch den zweiten Tag übernommen, weil es keine anderen Anweisungen gab.«

»Und Vicky wäre möglicherweise für die Teilnehmer des dritten Tages zuständig gewesen«, führte Sneijder Miyus Theorie fort. »Aber auch sie kam nicht mehr dazu, sich die Teilnehmerliste von mir zu holen, da man mich mittlerweile verhaftet hatte.«

»Die Komplizen-Theorie ist nach wie vor ziemlich schlüssig«, pflichtete Quintana ihnen bei, »denn mittlerweile haben wir Señor Wulffs Apartment im Hotel durchsucht. In seinem Koffer fanden wir Einbrecherwerkzeug und technisches Equipment zum Auslesen von Handy- und Computerdaten.«

Sneijder nickte, als hätte er damit gerechnet.

»Bei Ramona Vilar sind wir allerdings kein bisschen weitergekommen«, gab Quintana zu. »Sie hatte auch noch einen zweiten Reisepass, der auf eine Consuela Javier ausgestellt ist, doch beide Identitäten sind gefakt.«

»Wissen wir bereits …«, murmelte Sneijder, während er seinen Joint meditativ zwischen den Fingern rollte und am Gras roch.

»Wenn sie nicht vorbestraft ist, wird es schwierig herauszufinden, wer sie wirklich war«, sagte Quintana. »Ich hatte gehofft, dass mir das deutsche Bundeskriminalamt weiterhelfen könnte …«

Sneijder schüttelte den Kopf. »Wir konnten ebenso wenig ihre wahre Identität herausfinden …« Plötzlich hielt er inne und sah auf. »Allerdings habe ich ein Detail komplett übersehen, das uns weiterhelfen könnte.« Aufgeregt blickt er direkt in die Kamera. »Sie hat mir gegenüber erwähnt, dass ihre Eltern vom Centro Nacional de Inteligencia ermordet wurden. Wenn Sie also alle Todesfälle der letzten dreißig Jahre überprüfen, die im Zusammenhang mit dem spanischen Geheimdienst stehen …«

»… müssten wir Ramonas Identität herausfinden können«, führte Quintana den Gedanken zu Ende. »Sí, Señor Sneijder , das hilft uns weiter.«

Es klopfte an der Tür, und Friedrich Drohmeier kam herein. Er sah sich um, und sein Blick blieb an der Leinwand hängen. »Ah, wie ich sehe, kooperieren wir mit der mallorquinischen Kripo.«

»Das ist richtig«, sagte Sneijder, »aber Comisario Quintana folgt gerade einer heißen Spur und hat zu tun. Adiós! « Sneijder unterbrach die Verbindung, indem er sich über den Tisch beugte und einfach seinen Laptop zuklappte.

»Was konnten Sie herausfinden?«, fragte Drohmeier. Sein Anzug sah frisch gebügelt aus, die Schuhe waren blank geputzt, seine Krawatte saß perfekt, und er roch nach Aftershave, was jedoch alles nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass er ziemlich erschöpft und bedrückt wirkte.

»Wir sind da einer Sache auf der Spur«, sagte Sneijder, aber sein Ton implizierte, dass es noch zu vage war, um mehr darüber zu verraten. Er setzte sich auf den Tisch. »Und Sie?«

Drohmeier warf ihnen allen einen müden Blick zu. »Europol hat sich alle Verdächtigen, die im Zusammenhang mit der fünfjährigen Einbruchsserie stehen könnten, zur Brust genommen und versucht nun zu klären, ob es da internationale terroristische Verbindungen gibt. Inzwischen konnten weder unsere Leute noch die IT-Techniker des BND irgendetwas Neues über das RAF-Netzwerk, die Verbindungsleute oder die weiteren Anschlagsziele herausfinden. Im Darknet herrscht absolute Funkstille. Die sind alle untergetaucht und haben ihre Spuren verwischt, als wüssten sie …«

»… dass wir hinter ihnen her sind«, führte Marc den Satz zu Ende. »Kein Wunder. Durch die bisherigen fünf Anschläge, die Flugblätter mit dem Logo und das Pamphlet im Darknet haben sie uns ja förmlich eine Einladung geschickt.«

»Das finde ich nach wie vor höchst seltsam. Wozu haben sie das Moment der Überraschung geopfert?«, fragte Sabine. »Dadurch versetzen sie die Behörden doch nur in Alarmbereitschaft. Welchen Vorteil haben sie dadurch?«

»Das fragen Sneijder und ich uns schon lange«, murmelte Drohmeier. »Die bisherigen Attentate haben nur dazu geführt, dass wir die Sicherheitsvorkehrungen in Berlin, Frankfurt, Düsseldorf, München und Hamburg dramatisch erhöht haben.«

Plötzlich sprang Sneijder vom Tisch auf. »Ablenkung!«, rief er, woraufhin ihn alle anstarrten. »Damit haben sie erreicht, dass wir uns hauptsächlich auf diese Städte konzentrieren. Aber dort schlagen sie nicht noch einmal zu. Die wollen nur, dass wir unsere Einsatzkräfte zusammenziehen und dort bündeln.«

»Und wo schlagen sie zu?«, fragte Sabine.

»Ganz woanders«, behauptete Sneijder.

Drohmeier runzelte die Stirn. »Und wenn sie nun wollen, dass wir genau das denken? Damit wir die Sicherheitsvorkehrungen für diese Städte lockern, um andere Städte besser zu sichern?«

»Dafür hätten sie nicht schon jetzt mit der Anschlagserie beginnen müssen«, gab Sneijder zu bedenken.

»Auch wieder wahr«, räumte Drohmeier ein.

»Vielleicht hast du ja doch irgendwie recht«, überlegte Marc, »und die bisherigen Attentate dienen zwar sehr wohl der Ablenkung, aber nicht in geografischer Hinsicht, sondern in Bezug auf bestimmte Ziele. Bisher haben sie es ja überwiegend auf Politiker, Bankiers und Manager der Öl- und Rüstungsindustrie abgesehen.«

Sneijder nickte langsam. »Und ihre nächsten Ziele gehen in eine ganz andere Richtung.«

»Zum Beispiel?«, fragte Sabine.

»Wenn man ihre Ankündigung ernst nimmt, dann würde alles Sinn machen, was für Wegwerfgesellschaft und Medien- und Konsumkapitalismus steht – Autohäuser, Einkaufszentren, Zeitungs- und Verlagshäuser, Radio- und Fernsehstationen. Zahlreiche Möglichkeiten, die wir höchstwahrscheinlich außer Acht gelassen hätten.« Sneijder blickte misstrauisch zu Miyu. »Sehen Sie das anders?«

»Letztendlich ist diese Frage nicht zu lösen«, antwortete sie, »da niemand weiß, ob sie einfach nur geradlinig strategisch vorgehen oder ob sie mehrmals taktisch …« Sie stockte und warf Marc einen Blick zu.

»… mit einem Knoten im Hirn um die Ecke denken«, ergänzte er rasch.

»Genau. Hinzu kommt, dass die bisherigen Anschläge auch einzig und allein dazu hätten dienen können«, fuhr Miyu fort, »ihre Entschlossenheit zu demonstrieren.«

Drohmeier nickte. »Sie haben recht, diese Spekulationen bringen nichts. Dadurch verlieren wir nur Zeit.« Er nickte Sneijder zu. »Außerdem bin ich noch aus einem anderen Grund hier. Ich muss Sie unter vier Augen sprechen.«

Sneijder steckte sich den Joint hinters Ohr, breitete die Arme aus und deutete mit einer auffordernden Geste zur Tür. »Sie haben es gehört. Raus mit Ihnen!«

Sabine, Marc und Miyu erhoben sich kommentarlos und gingen zur Tür.

»Worum geht es?«, fragte Sneijder, während Sabine als Letzte das Besprechungszimmer verließ.

Bevor die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, hörte sie noch Drohmeiers Antwort.

»Sie wollten doch den Grund wissen, warum ich mich so persönlich in diesen Fall reinhänge. Jetzt ist es an der Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen …«