87. Kapitel

Drohmeier setzte sich Sneijder gegenüber an den Besprechungstisch. Nachdenklich tippte er mit seiner Handprothese auf die Tischplatte, während er zu den technischen Geräten blickte. »Können wir hier ungestört reden?«

Sneijder sah sich demonstrativ um. »Sicher.«

»Ich meine, richtig ungestört! Sind alle Verbindungen gekappt?«

»Ja, oder wollen Sie vielleicht in Ihr Büro gehen?«, schlug Sneijder vor.

Drohmeier wehrte vehement ab. »Nein, hier ist es besser.«

»Okay … einen Moment noch.«

Sicherheitshalber klappte Sneijder die Hülle von Miyus Tablet zu und schloss auch Sabines Laptop und Marcs Notebook. Dadurch, dass die Jalousien unten waren und sich der Videobeamer ausgeschaltet hatte, herrschte nun Dunkelheit im Raum.

Zuletzt aktivierte Sneijder auf seinem Handy eine Playlist mit den niederländischen Beiträgen der letzten zwanzig Jahre beim Eurovision Song Contest. Nicht dass ihm diese Musik besonders gefiel, aber niemand würde sich wundern, dass er ausgerechnet das hörte. Er drehte die Lautstärke höher, schob das Handy von sich, beugte sich über den Tisch und senkte die Stimme. »Was gibt es?«

»Mit ein Grund, warum ich will, dass Sie die Spur zu Ruth-Allegra Francke um jeden Preis verfolgen, ist, dass ich schon seit geraumer Zeit eine Vermutung habe, wer sich hinter diesem Namen verbergen könnte.«

Godverdomme. Sneijder kratzte sich an den Koteletten am Kinn. Allein die Tatsache, dass Drohmeier ein so großes Geheimnis darum machte, ließ ihn ahnen, dass ihm die Antwort nicht besonders schmecken würde. »Und wer?«

Drohmeier streckte den Daumen in die Höhe. »Erstens muss es jemand sein, der mit seinen Kontakten in der Lage ist, ein internationales kriminelles Netzwerk aufzubauen.«

»Da kämen viele infrage.«

»Ziehen wir den Kreis etwas enger.« Drohmeier streckte den Zeigefinger aus. »Zweitens … allein die Tatsache, dass Ruth-Allegra Francke intensiv mit Paul Conrad zusammengearbeitet hat, spricht doch dafür, dass sie sich schon länger kennen.«

Sneijder nickte. »Und weiter?«

»Aber Conrad hat Ende der 90er Jahre seine Professur am Institut für Soziologie der Universität Mannheim wegen seiner Panikattacken niedergelegt und sich gänzlich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.«

Sneijder nahm den Joint, den er sich hinters Ohr geklemmt hatte, und drehte ihn wieder nachdenklich zwischen den Fingern. »Stimmt – also wie ist Ruth-Allegra Francke auf ihn gestoßen? Und wie sind sie in Kontakt getreten?«

»Das ist die große Frage«, sagte Drohmeier.

»Ich würde mal sagen, sie kannten sich womöglich schon viel früher … von der Studentenbewegung her … oder vielleicht hat er sie sogar an der Uni Mannheim unterrichtet«, spekulierte Sneijder.

Drohmeier nickte und senkte plötzlich die Stimme noch weiter. »Das geht in die richtige Richtung. Denn Conrad hat – und das ist der dritte Punkt –, wie wir jetzt wissen, früher auch Soziologie- und Psychologieworkshops gehalten, unter anderem für höherrangige Kripobeamte.«

»Ich habe schon lange das Gefühl, dass Conrad gute Kontakte zur Polizei gehabt haben muss, ebenso wie sein Anwalt Dr. Albrecht«, murmelte Sneijder.

»Das sehe ich genauso, und jetzt müssen wir nur noch eins und eins zusammenzählen«, sagte Drohmeier. »Je länger ich über alles nachdenke, desto mehr sagt mir mein Bauchgefühl, dass Ruth-Allegra Francke eine Insiderin ist.«

Sneijder sah auf. »Jemand Interner? Von der Polizei?«

»Oder sogar aus dem BKA …« Drohmeiers Blick wurde kalt.

Sneijder zog eine Augenbraue hoch. So weit waren seine Überlegungen noch gar nicht gegangen. Aber das erklärte Drohmeiers vorsichtige Zurückhaltung. Denn falls ihre Vermutung richtig war und sich derartige Verdächtigungen herumsprachen, würden sie Ruth-Allegra Francke aufschrecken. Und die würde sich dann sicher komplett in den Untergrund zurückziehen, sodass sie keine Chance mehr haben würden, sie zu schnappen. »Eine neue RAF-Generation, die ihre Wurzeln im Bundeskriminalamt hat«, murmelte Sneijder im Selbstgespräch. »Der alte Feind des BKA stammt diesmal aus den eigenen Reihen, die er infiltriert hat? Ein äußerst gewagter Ansatz.«

»Nun verstehen Sie mein Dilemma«, stellte Drohmeier fest. »Ich habe einen Verdacht, den ich nicht beweisen kann – und sobald ich versuche, ihn zu beweisen, zerstöre ich alle Möglichkeiten dazu.«

»Zumindest gibt es ein weiteres Indiz für diese Theorie, wenn auch ein sehr schwaches.« Sneijder steckte sich den Joint in den Mundwinkel. »Bad Kreuznach, wo Conrad gewohnt hat, liegt gerade mal vierzig Kilometer von Wiesbaden entfernt.«

»Das reicht leider nicht«, seufzte Drohmeier, »um etwas in diese Richtung zu unternehmen. Offiziell sind mir die Hände gebunden.«

Sneijder sah auf. »Und was ist Ihre rein private Meinung?«

»Die kennen Sie bereits. Wir müssen der Schlange den Kopf abschlagen, koste es, was es wolle, und zwar bevor es zum Äußersten kommt – und das meine ich …«

»Wortwörtlich?«, fragte Sneijder nach. »Sie meinen inoffiziell ausschalten? Eliminieren? «

»Wenn es sein muss.« Drohmeier nickte.

»Das ist der dümmste und zugleich riskanteste Vorschlag, den ich je gehört habe.« Sneijder zündete sich den Joint an, zog daran und dachte kurz darüber nach. »Aber er gefällt mir.«