88. Kapitel

Nachdem die Dame vom Roten Kreuz gegangen war, hatte sich Lea gleich um ihre Bauarbeiter gekümmert, ihnen die Wurstsemmeln und eine Thermoskanne mit heißem Kaffee auf den Tisch unter dem Terrassendach gestellt. Kaum war sie wieder im Haus, läutete ihr Handy.

Das Display zeigte 0034, die spanische Vorwahl. »Vielleicht ist es das Hotel«, murmelte sie.

Das ist Quintanas Nummer , widersprach Camilla.

»Stimmt«, entfuhr es ihr. Sogleich pochte ihr das Herz bis zum Hals. Sie atmete tief durch, dann nahm sie das Gespräch entgegen. »Ja, hallo?«

»Hallo, spreche ich mit Frau Lea Fuchs?«, fragte Quintana in seinem typisch abgehackten spanischen Akzent.

»Ja, am Apparat. Wer ist denn da?«, fragte sie, obwohl sie seine Stimme längst erkannt hatte.

»Hier spricht Comisario Quintana von der mallorquinischen Kriminalpolizei. Ich habe gehört, dass Sie sich nach einer Vicky Fuchs und einem Gernot Wulff erkundigt haben, richtig?«

Mercedes war ein Biest. Anstatt selbst zurückzurufen, hatte sie gleich die Polizei verständigt. »Ja, das stimmt«, sagte Lea so freundlich wie möglich. Dann erklärte sie Quintana, dass sie Vickys Cousine und Gernots Lebensgefährtin sei und wiederholte exakt das, was sie zuvor schon der Kufsteiner Polizei und der Psychotante erzählt hatte. Gleichzeitig hoffte sie, dass er ihre Stimme nicht wiedererkennen würde. Aber anscheinend war ihre Sorge grundlos; sie hatte ja auf Mallorca ohnehin tiefer gesprochen, um mehr wie Vicky zu klingen. »Und als ich erfahren habe, dass Gernot auf Mallorca verstorben ist, habe ich versucht, Vicky zu erreichen, um mehr zu erfahren«, schloss sie. »Wissen Sie, warum und wie er gestorben ist?«

»Darüber kann ich Ihnen im Moment noch nichts sagen, weil es sich um eine laufende Ermittlung handelt.«

»Wissen Sie denn, wo ich Vicky erreichen kann?«

»Sie wird seit gestern vermisst. Wir suchen bereits nach ihr. Soviel wir wissen, ist sie von einem Ausflug nach Palma nicht wieder zurückgekehrt. Weitere Details kann ich Ihnen leider nicht mitteilen.«

»Das ist ja furchtbar. Steckt Sie in Schwierigkeiten?«

»Wie gesagt, mehr kann ich Ihnen zurzeit nicht sagen. Aber wo ich Sie gerade am Telefon habe – was können Sie mir über die Pläne Ihrer Cousine und deren Aufenthalt auf Mallorca erzählen?«, hakte Quintana nach.

»Nicht viel. Vor zwei Tagen habe ich noch mit ihr telefoniert«, log sie. »Sie hat mir erzählt, dass sie so eine Art Selbstfindungskurs gemacht hat. Bei einem komischen Psychoguru … klang so ähnlich wie Dracula.«

Was tust du? , rief Camilla.

»Pacula, Ron D. Pacula«, korrigierte Quintana sie. »Ja, die Kurse gab es bis vor Kurzem noch im Hotel.«

»Gab es?«, wiederholte Lea. »Was ist passiert? Kann Vickys Verschwinden vielleicht damit zu tun haben?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Haben Sie schon mit diesem Pacula geredet? Vielleicht weiß er etwas über Vicky.«

Verstehe, worauf du hinauswillst , meldete sich Camilla wieder zu Wort. Clever.

»Wir haben ihn bereits vernommen, aber er hat mit der Sache nichts zu tun.«

»Vicky war aber ziemlich begeistert von ihm. Vielleicht könnte ich mit ihm reden. Möglicherweise …«

»Das ist nicht so einfach.«

»Warum? Ist er auch verschwunden?«

»Nein, aber er musste den Rest seiner geplanten Workshops absagen. Er hat bereits aus dem Hotel ausgecheckt und befindet sich auf dem Heimweg.«

»Er ist … abgereist?«

»Ja. Wenn Ihnen noch etwas zu Ihrer Cousine einfällt, rufen Sie mich bitte an. Meine Nummer haben Sie ja jetzt.«

»Ja, natürlich …« Lea starrte eine Weile ins Nichts.

»Und sobald ich Näheres erfahre, melde ich mich wieder bei Ihnen.«

»Vielen Dank.« Lea beendete das Gespräch, legte das Telefon weg und starrte die Wand an.

Hallo, Erde an Lea? Wollen wir vielleicht mal drüber reden, was da gerade passiert ist?, meldete sich Camilla zu Wort.

»Mist, warum haben die Pacula entlassen? Ob sie herausgefunden haben, dass er Ramona gar nicht getötet hat?«

Möglich , sagte Camilla, aber der wahre Grund ist jetzt sowieso völlig unwichtig. Viel wichtiger ist, dass Pacula draußen ist und vermutlich deinen Brief im November mit der Post verschicken wird.

»Was sollen wir jetzt tun?«

Ich weiß nur, dass das nicht gut ist. Und hast du seinen Blick gesehen, als er von der Polizei abgeführt wurde und dich neben der Palme erkannt hat? Er ahnt bestimmt schon was. Könnte sein, dass es noch schlimmer kommt und er den Brief gar nicht bis November aufhebt, sondern gleich selbst liest. Dann sind wir beide erledigt.

»Vielleicht kann er ja gar nichts damit anfangen.«

Träum weiter, Prinzessin! Du hast darin immerhin Vickys und Gernots Tod und deinen Wintergarten erwähnt. Und dann hast du auch noch mit DEINE LEA unterschrieben.

Sie versuchte sich zu konzentrieren, konnte sich aber nicht mehr genau an die Details des Briefes erinnern. »Habe ich das?«

Ja, du Genie!

»Okay, das war ein dummer Fehler.« Lea dachte an das rote Notizbuch, das sie aus Paculas Koffer geklaut hatte. »Du hast recht, ich hol mir den Brief zurück – und ich weiß auch schon wie.«

Ein Gefangenenaustausch?

»Genau.« Sie lief in den Vorraum, riss die Schublade auf und holte das Notizbuch heraus. Für Rechtsanwalt Dr. Albrecht in Frankfurt , stand auf dem Umschlag. »Dieses Buch muss ja verdammt wichtig für ihn sein.«

Klingt fast wie eine Art Lebensversicherung.

»Also gut, Mister Ron D. Pacula!« Entschlossen marschierte sie mit dem Notizbuch ins Wohnzimmer, fuhr ihren Laptop hoch und googelte den Mentalcoach. Auf Anhieb fand sie Paculas Website.

Wenn der Inhalt dieses Heftchens das ist, wofür wir es halten, ist Pacula doch garantiert kriminell , erklang Camillas Stimme plötzlich warnend in ihrem Kopf.

»Was denn? Kriegst du jetzt auf einmal kalte Füße?«

Ich und kalte Füße? Süße, da kennst du mich schlecht! Ich gebe bloß zu bedenken, dass es möglicherweise riskant sein könnte, einen Kriminellen erpressen zu wollen. Zumal wir nicht gerade viel Erfahrung mit solchen Leuten haben.

»Wer redet denn von erpressen?«, korrigierte Lea sie. »In meinen Augen herrscht hier eine Pattsituation. Ich weiß, dass dieser angebliche Mentalcoach ein gefährlicher Verbrecher ist, der auch vor Mord nicht zurückschreckt – denk nur an die arme Käthe van Zwieten. Und schlimmstenfalls weiß er bereits, dass ich in Wahrheit gar nicht Vicky bin, sondern mich auf Mallorca nur für sie ausgegeben habe.«

… und die echte Vicky möglicherweise verschwinden hast lassen. Das nennst du eine Pattsituation?

»Na gut, formulieren wir es anders. Brief gegen Notizbuch – eine Win-Win-Situation.«

Wenn er dich umbringt und dir das Notizbuch abknöpft, ist es eher eine Win-Situation für ihn und eine Lose-Situation für dich!

»Dann müssen wir eben dafür sorgen, dass wir besser sind als er.« Lea klickte durch die einzelnen Seiten der Website und wurde zunehmend frustrierter. In der Zwischenzeit dröhnten aus dem Garten das rumpelnde Abladen des Schotters, überlagert von den Rufen der Bauarbeiter. »Verdammt, hier gibt es zwar Links zu Kontaktseite und Impressum, aber die lassen sich nicht öffnen. Keine E-Mail-Adresse, keine Postanschrift, keine Telefonnummer. Hier kann man noch nicht einmal einen Newsletter abonnieren.«

Schau mal, ob er eine Facebookseite hat.

»Hab ich schon. Hat er nicht. Was ist das verdammt nochmal für ein Mentalcoach, wenn man ihn nicht erreichen kann?«

Ich habe dir ja von Anfang an gesagt, dass der kein normaler Coach ist.

Lea lehnte sich zurück und fuhr sich durchs Haar. »Shit, wie soll ich jetzt mit ihm Kontakt aufnehmen?« Sie fing wieder an, am Fingernagel zu kauen und blickte zu dem Notizbuch. »Ich könnte diesen Dr. Albrecht anrufen.«

Und riskieren, dass er von uns erfährt?

»Du hast recht, blöde Idee.«

Ich habe eine bessere Idee, wie wir das anstellen.

»Und zwar?«

Camilla kicherte. Du wirst mich lieben.