93. Kapitel

Die Lufthansa-Maschine setzte bei der Landung in Frankfurt pünktlich auf der Piste auf. Irina, die Kabinenchefin, war schon lange dabei und hatte noch die Zeit miterlebt, als die Passagiere nach einer sanften Landung applaudierten. Mittlerweile war eine sichere Landung zur langweiligen Normalität geworden, vor allem bei solch einem eher kurzen Linienflug vom Flughafen Schiphol in Amsterdam, der gerade mal knapp über eine Stunde dauerte.

Zum Glück waren diesmal auch die Passagiere einigermaßen verträglich gewesen. Mit Schaudern dachte sie an den verkorksten Mallorca-Flug vom Anfang der Woche zurück, als dieses Ekelpaket in der Businessclass vehement auf einen Tomatensaft mit Wodka, Tabasco und Eis im Glas bestanden hatte.

An so etwas war Irina eigentlich gewöhnt – aber was ihr wirklich Sorgen machte, waren die letzten Terrormeldungen. Irina und ihre Kolleginnen konnten von Glück sagen, dass heute nichts passiert war. Schließlich hätte alles auch ganz anders ausgehen können. Vom Tower in Frankfurt wussten die Piloten und die Kabinenbesatzung bereits, was in den letzten zwanzig Minuten in Deutschland geschehen war. Ihre Fluggäste hingegen würden das erst jetzt erfahren, wenn der Reihe nach alle Geräte wieder ein Netz gefunden hatten und die ersten Newsticker aufpoppten. Einige der Passagiere zogen bereits völlig ahnungslos ihre Handys heraus.

Das war Irinas Zeichen. Rasch legte sie den Gurt ab, warf ihren Kolleginnen einen vielsagenden Blick zu und griff zum Mikrofon. Es knackte in den Lautsprechern. »Herzlich willkommen in Frankfurt. Wir hoffen, Sie hatten einen angenehmen Aufenthalt bei uns an Bord. Im Namen von Kapitän Jansen und der gesamten Besatzung hoffen wir, Sie bald wieder an Bord einer Lufthansa-Maschine begrüßen zu dürfen.« Sie machte eine Pause, während sie in den Mittelgang blickte. Bei jedem Flug war es immer wieder das Gleiche. »Soweit ich mich erinnern kann, ist es bisher noch keinem Passagier gelungen, vor seinem Flugzeug das Gate zu erreichen. Bleiben Sie daher bitte so lange angeschnallt sitzen, bis wir unsere endgültige Parkposition erreicht haben. Vielen Dank.«

Der Flieger wurde langsamer und fuhr auf der Rollbahn Richtung Flughafengebäude. Erfreulicherweise hatten sie einen Platz direkt am Gate bekommen, sodass sie die Passagiere nicht im Bus quer über das Gelände fahren mussten.

Irina wiederholte ihre Ansage auf Englisch, danach fuhr sie auf Deutsch fort: »Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Frankfurt. Bitte vergessen Sie keine Gepäckstücke in den Ablagen über Ihnen oder in den Sitztaschen vor Ihnen. Für diejenigen unter Ihnen, die einen Anschlussflug erreichen müssen, habe ich leider eine schlechte Nachricht, und ich möchte Sie alle noch eine Minute um Ihre Aufmerksamkeit bitten.« Sie holte tief Luft. Jetzt war es so weit. »Wie wir soeben erfahren haben, gab es in Stuttgart, Köln und Dortmund Terroranschläge. Details dazu entnehmen Sie bitten den Livetickern auf den Monitoren am Terminal. Ich kann Ihnen garantieren, dass Sie am Flughafen Frankfurt nichts zu befürchten haben, da die Sicherheitsmaßnahmen drastisch verschärft wurden. Als Folge kommt es jedoch deutschlandweit zu Verzögerungen und Flugausfällen. Details erfahren Sie am jeweiligen Informationsschalter.«

Ihr letzter Satz war bereits im aufkeimenden Lärm untergegangen. Dennoch wiederholte sie auch diese Durchsage auf Englisch, auch wenn in der Kabine davon nichts mehr zu hören war. Alle redeten wild durcheinander oder telefonierten bereits lautstark.

Die meisten der Passagiere waren aufgesprungen, und diejenigen, die sich kannten, drängten sich zusammen. Binnen Sekunden herrschte in der Kabine ein völliges Durcheinander.

Zum Glück erreichten sie gerade das Gate. »Liebe Gäste, wir haben soeben unsere finale Parkposition erreicht«, sagte Irina der Form halber, obwohl ihr sowieso niemand mehr zuhörte. »Sie können das Flugzeug nun verlassen. Wir verabschieden uns von Ihnen. Auf Wiedersehen, kommen Sie gut heim und viel Glück bei Ihrer Weiterreise.«

Gemäß ihrer Anweisungen bemühte sie sich um Normalität bei der Durchsage, fügte aber in Gedanken ein Gott stehe uns allen bei hinzu. Wer wusste schon, was nach den Anschlägen in Stuttgart, Köln und Dortmund noch alles passieren würde. Und ob sie ihren Gästen an Bord nicht zu viel versprochen hatte, was die Sicherheit am Frankfurter Airport anging.

Dann öffnete sich die Tür, und die ersten Passagiere drängten sich an ihr und ihren Kolleginnen vorbei auf die Fluggastbrücke. Nur wenige nahmen sich beim Aussteigen die Zeit, um ihr zuzunicken, Auf Wiedersehen zu sagen oder alles Gute zu wünschen.

Nun öffnete sich auch die Tür zum Cockpit. »Alles okay da draußen?«, fragte Jansen.

»Ja«, seufzte sie und nickte. So schnell wie jetzt hatte sich noch nie eine Maschine geleert.

Erstaunlicherweise waren die Damen und Herren in der ersten und zweiten Reihe der Business Class geschlossen sitzen geblieben. Anscheinend wollten sie sich nicht dem hektischen Gedränge aussetzen. War ja durchaus sinnvoll, da sowieso alle zusammen auf das Gepäck warten mussten.

Eine der Personen kannte Irina aus den Medien. Das war doch Philip Degenhard, der Staatssekretär des Innenministers, der bei dem ersten Terroranschlag in Berlin vor genau einer Woche sogar live dabei gewesen und leicht verletzt worden war. An die Namen zweier anderer Gäste erinnerte sie sich von der VIP-Liste. Eva Marquardt, dritte Präsidentin des Bundeskriminalamts, und Jon Eisa, Vize-Präsident des BKA.

Auch die restlichen Passagiere aus der ersten und zweiten Reihe schienen zu der Gruppe zu gehören, wobei einige von ihnen wie Securityleute wirkten. Sie alle unterhielten sich leise miteinander und warteten, bis sich die Kabine geleert hatte. Erst dann erhoben sie sich, um ihr Handgepäck aus den Fächern zu holen.

Irina und ihre Crew waren bereits vor dem Start in Amsterdam von Kapitän Jansen darüber informiert worden, dass sie hohen Besuch an Bord hatten. Weil soeben die internationale Sicherheitskonferenz in Den Haag zu Ende gegangen war, hatten sich mehrere deutsche Politiker und andere wichtige Personen an Bord befunden.

Als die letzten Passagiere an Irina vorbeigingen, blickte sie in lauter nervöse, besorgte und angespannte Gesichter. Die wissen bestimmt mehr als wir , dachte sie, während sie jeden Einzelnen der VIP-Gruppe freundlich anlächelte. Am Ende standen nur noch die drei, deren Namen sie kannte, im Gang des Fliegers.

»Bestimmt geht’s jetzt gleich weiter ins nächste Meeting«, seufzte der große, gut aussehende Mann, während er die Nachrichten auf seinem Handy checkte. Bei ihm musste es sich um Eisa handeln.

Die Frau – dementsprechend dann wohl Marquardt – knöpfte ihren Blazer zu und klemmte sich ihre Notebooktasche unter den Arm. »War ja nicht anders zu erwarten.« Während sie eine Nummer auf ihrem Telefon wählte und es ans Ohr hielt, drehte sie sich zum Staatssekretär um. »Wann reisen Sie weiter nach Berlin?«

Degenhard verzog unglücklich das Gesicht. »Eigentlich wäre das erst für Montag geplant gewesen, aber so, wie es jetzt aussieht, wird mich vermutlich gleich ein Wagen abholen.«

»Sechs Stunden Autofahrt«, stöhnte Marquardt. »Ich beneide Sie nicht.«

»In dieser Situation beneide ich keinen von uns.« Eisa wischte über sein Smartphone.

Inzwischen telefonierte auch Degenhard. Sie würde wirklich nicht mit den drei tauschen wollen, dachte Irena. Die würden in den nächsten Tagen sicher pausenlos unter Stress stehen.

Im Gegensatz zu ihr. Irina blickte auf ihre Armbanduhr. Kurz nach dreizehn Uhr. Sobald auch diese Passagiere den Flieger verlassen hatten, würde ihr eigener Arbeitstag nach dem üblichen bürokratischen Kleinkram früher als geplant enden.

Während die drei telefonierend an ihr vorbeigingen, läutete in einer der Jackentaschen plötzlich ein weiteres Handy. Und auch, wenn Irina nicht ausmachen konnte, wessen Telefon das war, fiel ihr doch der äußerst merkwürdige Klingelton auf – ein geradezu bedrohlich klingendes, stetig lauter werdendes Klopfgeräusch.

Wie ein Countdown.